Mittelschwaebische Nachrichten
Was in Ischgl falsch lief
Vom Tiroler Wintersportort aus verbreitete sich das Coronavirus in alle Welt. Jetzt haben unabhängige Prüfer das Chaos ausgewertet. Ihr Ergebnis enttäuscht Betroffene
Wien Von der Wintersport- und Partyhochburg zu einem europaweiten Epizentrum in Sachen Corona: Diese Talfahrt hat Ischgl im Frühjahr durchgemacht. Insgesamt 11000 Infizierte lassen sich auf den österreichischen „Ballermann“-Skiort zurückführen. Es laufen vier Klagen gegen die Republik Österreich, die Staatsanwaltschaft Innsbruck ermittelt mittlerweile gegen vier Personen. Darunter sind der Ischgler Bürgermeister Werner Kurz und Bezirkshauptmann Markus Maaß.
Ein weiterer Höhepunkt in der seit Monaten heftig diskutierten Causa war am Montag die Präsentation des 285 Seiten starken Expertenberichts zum Umgang Tirols mit der Pandemie im März. Die zentralen Fragen, die sich im Vorfeld alle Beobachter stellten, lauteten: Wie hart kritisiert die sechsköpfige Kommission unter dem Vorsitz des früheren Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes, Ronald Rohrer, das Vorgehen der Tiroler Behörden? Gab es den medial stets vermuteten Druck aus der Wirtschaft auf die Behörden, Seilbahnen und Aprés-Ski-Lokale trotz aller
Bedenken möglichst lang offen zu halten? Und wird auch dem Bund und somit Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) in Wien eine Mitverantwortung für das Ausreisechaos in Ischgl am Freitag, dem 13. März, zugeschrieben?
Rohrer und seine Experten haben hierzu unterschiedliche Befunde. Prinzipiell stellen sie das Vorgehen der Behörden als weitgehend richtig und angemessen dar – wenn auch teils zu langsam, aber lediglich in einem Punkt als „falsch“. Als nicht richtig bewertet die Kommission die Wiedereröffnung der berühmt-berüchtigten Aprés-Ski-Bar Kitzloch am 8. März. Damals war die VirusAusbreitung bereits voll im Gange und der Barkeeper positiv auf das Coronavirus getestet worden. Das Kitzloch wurde am Tag darauf wieder geschlossen.
Sonst fällt das Experten-Urteil überraschend milde aus und dürfte dem Motto folgen: Hinterher ist man immer gescheiter. Das Ende der Skisaison in Tirol habe Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP) für das Wochenende 14./15. März zurecht verkündet und er sei auch nach einer längeren Debatte mit Wirtschaftsvertretern dabei geblieben. Rohrer: „Es gibt also keine Anhaltspunkte auf eine Einflussnahme der Touristiker oder der Seilbahnwirtschaft. Alle Auskunftspersonen haben das auf das Entschiedenste verneint.“Überraschend wenig Kritik üben die Experten auch am Ischgler Abreisechaos. Sie sprechen zwar von mangelhaften Evakuierungsplänen des Landes und thematisieren die Probleme in der Kommunikationsund Informationspolitik in Land, Bezirk und Bund. So habe die Pressekonferenz von Kanzler Kurz am 13. März zu „Panikreaktionen“der Gäste in Ischgl geführt, die „noch in Skischuhen“geflohen seien. Dass sich die Skiorte Ischgl und St. Anton nicht auf eine Quarantäne vorbereitet hatten, wird nicht schärfer kritisiert.
Als „unwahr und schlecht“bezeichnet Rohrer lediglich zwei Presseaussendungen des Landes. In diesen wurde damals erklärt, dass sich betroffene isländische Gäste erst im Flugzeug nach Hause angesteckt hätten und dass eine Übertragung des Virus vom Servicepersonal auf die Gäste der Aprés-Ski-Bars aus medizinischer Sicht eher unwahrscheinlich sei.
Eine echte „Pflichtverletzung“wird tatsächlich nur dem Bürgermeister von Ischgl angelastet, der die Verordnung zur Schließung der Seilbahnen verspätet kundgetan hat. Er habe damit die Tiroler Gemeindeordnung verletzt. Er wurde deshalb auch bei der Staatsanwaltschaft angezeigt. Eine andere „harte“Rechtsverletzung wird in dem Bericht nicht genannt.
Die in Summe also lediglich verhaltene Kritik an den Verantwortungsträgern in Tirol dürfte Betroffene enttäuschen. Konsequenzen seitens der Tiroler Landespolitik dürften ausbleiben. Zuletzt war der Druck auf Landeshauptmann Platter gestiegen, zumindest die Position von ÖVP-Gesundheitslandesrat Bernhard Tilg neu zu besetzen. Er hatte zum Chaos in Ischgl gesagt: „Wir haben alles richtig gemacht.“
Der Tiroler Landtag wird in den nächsten Tagen über den Bericht diskutieren. Bei dieser Gelegenheit dürfte auch die seinerzeit geänderte Geschäftsordnung in der Tiroler Landesregierung zur Sprache kommen. Tilg hatte einige Zuständigkeiten an seinen Landesamtsdirektor abgetreten. Dadurch ist es für die Expertenkommission zu „unklaren Strukturen“gekommen. Kommissionschef Rohrer erklärt das so: „Die politische Verantwortung wurde ausgedünnt.“