Mittelschwaebische Nachrichten
Die Geduld der Polen geht zu Ende
Analyse Randale am Nationalfeiertag, Abtreibungsstreit, Corona-Krise: Die Rechtskonservativen verlieren fünf Jahre nach der Regierungsübernahme dramatisch an Zuspruch in der Bevölkerung
Istanbul
Nach Jahren des Krieges in Libyen melden die UN einen Erfolg. Die UN-Libyen-Beauftragte Stephanie Williams spricht von einem neuen „Durchbruch“. Bei Verhandlungen in Tunesien haben sich 75 Delegierte aus Libyen nach ihren Worten auf freie gesamtlibysche Wahlen innerhalb der nächsten 18 Monate geeinigt. Angesichts des Scheiterns früherer Friedensverhandlungen und der Entschlossenheit ausländischer Akteure, in Libyen weiter mitzumischen, trifft die Nachricht auf Skepsis.
Libyen hat seit dem Sturz von Diktator Muammar Gaddafi 2011 keine funktionierende Zentralgewalt mehr und ist Schauplatz von Kämpfen zwischen rivalisierenden Milizen. Seit 2014 ist das Land zwischen den Herrschaftsgebieten der Regierung im Westen Libyens und des Parlaments im Osten des Landes geteilt. Auch ausländische Mächte haben sich in den Konflikt aktiv eingeschaltet. Der ostlibysche Militärchef Khalifa Haftar versuchte 2019, die Hauptstadt Tripolis im Westen einzunehmen, scheiterte aber wegen der Unterstützung der Türkei für die Regierung. Heute verläuft die Front bei der Küstenstadt Sirte, die für die Ölindustrie wichtig ist. Immerhin wird ein Ende Oktober ausgerufener Waffenstillstand bisher eingehalten. Wie dringend eine Einigung ist, zeigte auch der Tod von mehr als 90 Bootsflüchtlingen, die am Donnerstag auf dem Weg nach Europa vor der libyschen Küste ertranken.
UN-Vertreterin Williams, eine amerikanische Diplomatin, treibt die Friedensgespräche mit Rückendeckung der Regierung in Washington voran. Die USA sorgen sich, dass Russland nach seinem Engagement in Syrien nun auch in Libyen Fuß fassen und sich damit an der Südflanke der Nato festsetzen könnte. Parallel zu den Verhandlungen in Tunis organisieren die UN Kontakte zwischen den Streitkräften beider Seiten in Sirte. Dabei vereinbarten die Kriegsparteien, eine Küstenstraße zu öffnen, die die beiden verfeindeten Landesteile miteinander verbindet. Allerdings läuft bei den Gesprächen nicht alles glatt. Vertreter der westlibyschen Regierung beschwerten sich, ihre Unterhändler hätten nicht auf einem Militärstützpunkt bei Sirte landen können, weil dieser von russischen Söldnern auf Haftars Seite blockiert werde. Andere Verbündete von Haftar zeigen ebenfalls keine Neigung, sich aus dem Konflikt zurückzuziehen. So ist zu befürchten, dass ein Funke ausreicht, um die Waffenruhe zu beenden.
Warschau
Wären es doch nur irrlichternde Corona-Leugner gewesen. Dann wäre es dem polnischen Innenminister Mariusz Kaminski vermutlich leichter gefallen, die jüngsten Straßenschlachten in Warschau ins richtige Licht zu rücken. Doch dem Politiker der rechtskonservativen PiS fiel es hörbar schwer, den Polizeieinsatz gegen randalierende Neofaschisten und Hooligans zu rechtfertigen. Er erkenne das Bemühen um Corona-Schutz an, erklärte Kaminski, bevor er zugab: „Gewalt verlangt eine entschiedene Antwort. Dabei dürfen politische Ansichten keine Rolle spielen.“
Tatsächlich gab es zum Vorgehen der Polizei kaum eine Alternative. Der „Marsch der Unabhängigkeit“, den rechtsextreme Gruppen alljährlich am polnischen Nationalfeiertag veranstalten, war wegen der Pandemie verboten worden. Mehrere tausend Menschen zogen dennoch durch die Hauptstadt. Sie zeigten faschistische Banner, skandierten Hassparolen gegen „LGBT-Ideologie“, warfen Steine und Böller. Als die Polizei eingriff, kam es zu Kampfszenen mit dutzenden Verletzten. Eine ausgebrannte Wohnung und mehr als 300 Festnahmen gehörten zur Bilanz am Feiertag.
Kaminski hätte also nur auf das Verbot hinzuweisen brauchen. Sein Problem aber war: Die Marschierer gehören aus Sicht der rechtsnationalen Regierungspartei PiS zur Kategorie der „guten Polen“. Diese Einteilung geht auf PiS-Chef Jaroslaw zurück, der seine linksliberalen Widersacher einst als die „schlechteste Sorte von Polen“bezeichnete. Und als zuletzt Frauen zu Zehntausenden gegen PiS-Pläne für ein fast totales Abtreibungsverbot protestierten, warf Kaczynski ihnen „Nihilismus“vor. Wer die Werte des katholischen Polentums infrage stelle, stelle alles infrage.
Das klang nach machtvoller Offensive. In Wirklichkeit aber befindet sich die PiS in ihrer schwersten Krise seit der Regierungsübernahme vor fünf Jahren, am 16. November 2015. In den Wochen danach waren damals zwar Hunderttausende durch die Straßen gezogen, um vor einer Zerstörung der Demokratie zu warnen. Doch die PiS-Gegner sahen wie schlechte Verlierer aus. Die Partei hatte schließlich in freien Präsidentschafts- und Parlamentswahlen doppelt gewonnen. An dieser Rollenverteilung änderte sich auch wenig, als die PiS tatsächlich einen Frontalangriff auf Rechtsstaat und Pressefreiheit entfesselte. Im Gegenteil: Mit einer offensiven Sozialpolitik zog die Partei immer mehr Menschen auf ihre Seite.
Den Zenit ihrer Anziehungskraft erreichten die Rechtskonservativen im vorigen Jahr. Bei der Europawahl im Mai errang die PiS 45,4 Prozent. Kaczynski jedoch rief bei der Siegesfeier: „Das ist zu wenig, zu wenig, zu wenig.“Der PiS-Chef glaubte seinem Ziel, die Partei in eine rechtskonservative Sammlungsbewegung mit Abonnement zum Alleinregieren verwandeln zu können, greifbar nah zu sein. Doch schon bei der Parlamentswahl im Herbst 2019 reichte es nur noch zu einer knappen Regierungsmehrheit, und jetzt, ein Jahr später, ist die PiS in Umfragen auf gut 30 Prozent Zustimmung abgestürzt.
Das entspricht der klassischen PiS-Stammwählerschaft. Nicht einmal die noch weiter rechts stehenden Nationalisten, die am Feiertag randalierend durch Warschau zogen, scheinen noch erreichbar. Dabei hatte die PiS zuletzt immer neue Kampagnen gegen Lesben und Schwule gefahren. Es zeigt sich: Ein großer Teil der Menschen in Polen ist für die Hetze nicht empfänglich. Noch weiter ramponierte die PiS ihr
Ansehen mit dem Versuch, das Abtreibungsrecht – ohnehin eines der strengsten in Europa – noch weiter zu verschärfen.
Künftig sollen Frauen eine Schwangerschaft nur noch nach einer Vergewaltigung, bei Inzest oder einer Gefahr für ihr eigenes Leben abbrechen dürfen. Fast drei Viertel der Polen lehnen eine solche Regelung ab – und viele von ihnen zeigten ihren Unmut offen. Mit solch einem Widerstand hatte Kaczynski mitten in der Corona-Krise wohl nicht gerechnet. Viel spricht dafür, dass er die zugespitzte Lage nutzen wollte, um sich mit dem neuen Abtreibungsrecht bei der einflussreichen katholischen Kirche für die Unterstützung zu bedanken. Er hatKaczynski te sich eines Tricks bedient: Die PiS legte die Frage dem Verfassungsgericht vor, das dann die Verschärfung forderte. Das aber war leicht zu durchschauen: Die PiS hatte das Gericht schließlich nach dem Wahlsieg 2015 auf Parteilinie gebracht.
Bislang interessierten sich für „technische“Fragen dieser Art in Polen nur wenige Menschen. Nach dem Urteil ist aber plötzlich alles anders, denn nun geht es um konkrete Dinge. Kaczynskis Systemumsturz wird für die Menschen fühlbar. Hinzu kommt die dramatische Corona-Lage, in der die alten populistischen Reflexe kaum noch funktionieren. Antielitäre Vorurteile zu schüren, gehörte von jeher zum politischen Werkzeugkasten der PiS. Als die Partei nun aber der Ärzteschaft vorwarf, ihre Pflichten aus Angst vor dem Virus nicht zu erfüllen, waren die meisten Menschen nicht über „die Weißkittel“empört, sondern über die PiS.
Und das nächste Problem ist schon absehbar. Alle Versuche Polens, den neuen EU-Rechtsstaatsmechanismus zu verhindern, scheiterten bisher. Denn EU-Gelder sollen nur noch fließen, wenn demokratische Grundwerte eingehalten werden. Ein Veto ist die letzte Chance für Polen und auch für Ungarn, die wegen der Aushöhlung der Gewaltenteilung am Brüsseler Pranger stehen, das neue Verfahren zu stoppen. Die Menschen in Polen aber sind größtenteils EU-Fans. Ein Fundamentalkonflikt mit Brüssel ist für die PiS daher so gefährlich wie der Streit um die Abtreibung.
Die nächste Kraftprobe steht schon bevor