Mittelschwaebische Nachrichten
Wird die zweite Welle schlimmer als die erste?
Eine Million Infektionen, so viel Tote wie noch nie an einem Tag, Kliniken am Limit: Die Wucht der neuen Ausbreitung des Coronavirus überrascht viele. Tatsächlich zeigt sich bereits der Herbst bedrohlicher als das Frühjahr
Berlin
Trotz Teil-Lockdown hat die zweite Corona-Welle Deutschland fest im Griff. Fast kein Tag vergeht, ohne dass das Robert-Koch-Institut nicht neue alarmierende Nachrichten veröffentlicht. Die Zahl der Infektionen, Todesfälle und belegten Intensivbetten steigt unaufhörlich. Ein Überblick zeigt, wie die zweite Welle bereits viele Werte der ersten Pandemiephase übertroffen hat.
Wie entwickelt sich die Zahl der Infektionen?
Laut Robert-Koch-Institut stieg die Gesamtzahl der Menschen, die sich in Deutschland seit Beginn der Pandemie nachweislich mit dem Coronavirus infiziert haben, diese Woche erstmals über eine Million. Mehr als zwei Drittel davon haben sich im Herbst in der sogenannten zweiten Corona-Welle angesteckt. Anfang Oktober lag die Zahl der positiv getesteten Bundesbürger noch bei knapp 292000. Seit Beginn der Kontaktbeschränkungen mit dem Teil-Lockdown Anfang November ist die Zahl der täglichen Neuinfektionen relativ konstant hoch. Am Freitag meldeten die Gesundheitsämter dem Robert-Koch-Institut 22806 neue Corona-Infektionen binnen 24 Stunden, vor einer Woche waren es 23648 – ein Höchststand. Die sogenannte 7-Tage-Inzidenz – also die Zahl der Neuinfektionen pro 100000 Einwohner und Woche – schwankt seit mehr als zwei Wochen um 140. Am Freitag lag sie bei 136.
Sterben mehr Menschen an Corona?
Seit Anfang Oktober stieg die Zahl der Todesfälle von 9500 auf über 15000. Das heißt, die zweite Welle zählt in kurzer Zeit bereits halb so viele Tote wie die erste in Deutschland. Mindestens ein Drittel der Verstorbenen lebte zuletzt in einem Alten- oder Pflegeheim. Über 60 Prozent aller Verstorbenen, die positiv auf Corona getestet wurden, waren über 80 Jahre alt, nur zehn Prozent waren jünger als 60 Jahre alt.
Warum hat sich die Lage so dramatisch verschlechtert?
Die meisten Virologen haben bereits
Frühjahr eine zweite Welle für den Winter vorhergesagt, nun kam sie schon im Herbst. Das aktuelle Coronavirus verhält sich wie eine klassische Erkältungskrankheit. Das heißt, in geschlossenen Räumen stecken sich deutlich mehr Menschen an. Denn das Virus wird am meisten über winzig kleine Feuchtigkeitspartikel, sogenannte Aerosole, übertragen, die unter freiem Himmel schnell von der Luft verweht werden, in geschlossenen Räumen dagegen sogar stundenlang in der Luft schweben können. Da zur kalten Jahreszeit die Menschen sich mehr drinnen aufhalten und die Schleimhäute durch die Heizungsluft empfindlicher sind, steigt offensichtlich das Corona-Infektionsrisiko. Derzeit sind 60 Prozent aller schwer verlaufenden Erkältungserkrankungen Corona-Infektionen. Im Frühjahr lag dieser Wert halb so hoch.
Wie ist die Lage auf den Intensivstationen?
Bundesweit liegen derzeit so viele Corona-Patienten auf den Intensivstationen deutscher Krankenhäuser wie noch nie in diesem Jahr. Auf dem Höhepunkt der ersten Welle waren es am 18. April 2933 Covid-19-Fälle, am Freitag lag die Zahl mit 3854 um fast tausend höher, und der Trend weist weiterhin steil nach oben. Mediziner gehen davon aus, dass der Anstieg der Corona-Patienten frühestens Mitte Dezember seinen Höhepunkt erreicht. Laut Intensivregister sterben derzeit genau 25 Prozent der behandelten Intenim sivpatienten. Das ist ein etwas schlechterer Wert als der Jahresdurchschnitt von 23 Prozent. Zugleich schmilzt die Reserve freier verfügbarer Betten langsam, aber stetig. Allerdings ist anders als in der ersten Welle fast ganz Deutschland betroffen und nicht nur wie im Frühjahr einzelne Bundesländer besonders. In Bayern war die Lage im April mit 716 Intensivpatienten angespannter als derzeit mit 636 Corona-Intensivpatienten. Allerdings könnte auch dieser Spitzenwert bald überschritten werden. Dramatisch ist die Entwicklung in Sachsen: Hier gab es im April und Mai maximal 70 Covid-Intensivpatienten, derzeit sind es in sächsischen Klinken fünfmal so viele. Auch Berlin und Bremen verzeichnen derzeit doppelt so viele kritische Corona-Patienten wie im Frühjahr.
Wo stecken sich die meisten Menschen an?
Diese Frage ist schwer zu beantworten, denn in vier von fünf Fällen können die völlig überlasteten Gesundheitsämter diese Frage überhaupt nicht klären. Im restlichen Fünftel der Fälle überwiegen private Haushalte sowie Alten- und Pflegeheime. Das kann allerdings vor allem daran liegen, dass bei vielen Betroffenen klar ist, dass sie sich im Privathaushalt bei einem infizierten Angehörigen angesteckt haben müssen oder ein Seniorenheim in der fraglichen Zeit nicht verlassen haben. Dritthäufigste Infektionsquelle ist laut Daten des Robert-Koch-Instituts der Arbeitsplatz, gefolgt von Krankenhäusern. Aber auch Kindergärten, Seniorentagesstätten und Flüchtlingsheime spielen eine größere Rolle. In den vergangenen vier Wochen haben sich über 5000 Bürger mutmaßlich bei einem Auslandsaufenthalt angesteckt. Am häufigsten wurden dabei Polen, die Türkei und der Kosovo genannt.
Wie ist die Lage an den Schulen?
Weltweit zeigen Studien, dass Kinder im Grundschul- oder Vorschulalter das neue Coronavirus weniger stark auf andere Menschen übertragen als Erwachsene. Eine Theorie ist inzwischen, dass sie wegen ihrer kleineren Lunge weniger infektiöse Aerosole ausstoßen als Erwachsene. Dieses Phänomen ist von der Übertragung von Tuberkulose bekannt. Eine weiterer Grund könnte laut einer britischen Studie sein, dass Kinder bei einer Corona-Infektion weniger oft Erkältungssymptome zeigen als Erwachsene und damit auch weniger infektiös seien. Als problematisch gilt bei Jugendlichen weniger der Unterricht in Klassenräumen, solange alle Beteiligten einen Mund-Nasen-Schutz tragen, sondern wenn die Schüler danach engen Kontakt zu ihren Schulfreunden haben. Eine Auswertung der New York Times unter 1900 Colleges und Universitäten in den USA zeigt in 90 Prozent der Bildungsstätten Infektionen. Es gab über 32000 Infizierten, 80 davon kamen ums Leben.