Mittelschwaebische Nachrichten
Leben nach Zahlen
Erst Corona, dann das Klima: Zu den wieder aufflammenden Grenzkonflikten der Vergangenheit kommen in Zukunft immer mehr Konflikte um Grenzwerte. Auch sie trennen Menschen hart. Alternativlos? Ein Essay
Wie geht es Ihnen heute? Sagen wir: auf einer Skala von 0 bis 1000? Bitte jetzt einordnen. Danke. Zur Auflösung sagen wir einfach: Liegt der Wert zwischen 682 und 1000, geht es Ihnen gut – liegt der Wert zwischen 0 und 681, geht es Ihnen schlecht. Und falls dabei nun rauskommt, dass es Ihnen schlecht geht, bekommen Sie ab sofort einen Betreuer an die Seite gestellt, der entscheidet, was Sie alles noch tun dürfen und was Sie alles tun müssen. Das ist nur zu Ihrem Besten und ja offenbar notwendig, damit Sie es über 682 schaffen, damit es Ihnen gut geht. Und nur darum geht es ja. Erscheint Ihnen die Grenzzahl ein bisschen willkürlich? Nun, das ist – vergleichbar mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung, an die sich im Durchschnitt auch keiner genau hält – nun mal die psychologisch wirksame Schwelle. Also: Einverstanden?
Wer wäre das schon? Ein, zugegeben, erfundenes, aber auch abstruses Szenario? Tatsächlich sind es ganz schön viele und immer mehr Menschen, die sich mit solchen Vermessungen und darauf bauenden Verhaltensregeln einverstanden erklären. Und nein, es geht hier nicht um Corona. Sondern um zwei gesellschaftliche Trends, die zusammenkommen: die Selbstoptimierung durch technische Datenerfassung (wie war mein Tag, AppleWatch?) und den Boom des Coachings (jedem seine Siri für die Personality). Das betreute Leben nach Zahlen hat Konjunktur. Aber ist ja alles freiwillig, versteht sich, oder?
Die Grenze ist die Wegmarke einer Entscheidung. Das ist das eine.
Das andere ist ein Knick in der Weltgeschichte. Denn Grenzen waren immer Hauptquell aller Kriege und Konflikte. Wem gehört was? Wer gehört zu wem? Wo beginnt, wo endet wessen Einfluss und Souveränität? Wer hat wo recht? Mitten in Landschaften wurden harte Linien gezogen. Und es ging immer auch um Freiheit, die innere wie die äußere, und ihren dunklen Stiefbruder: Macht. Selbst als das zum größten und verheerendsten aller Kriege führte, hat sich zunächst nichts geändert. Als Winston Churchill vor 75 Jahren über das, was auf die Welt zukommen würde, sprach, prophezeite er eben nicht die Freiheit, sondern einen „Eisernen Vorhang“. Und sollte, vor jetzt 60 Jahren, wörtlich Bestätigung finden. Von wegen: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu erreichten“… Die Grenze ist die Manifestation der Behauptung von Macht.
Doch gerade in Berlin schien diese Ära zu enden, 1989, Öffnung des Eisernen Vorhangs, Mauerfall. Der US-Forscher Francis Fukuyama jedenfalls sah vor 30 Jahren schon „das Ende der Geschichte“gekommen und meinte: ein Ende des Systemkampfes, der Abgrenzungskonflikte, der Sieg der Freiheit über alle Grenzen hinweg. Durch Berlin toste eine „Love Parade“, die nichts mehr als „Friede, Freude, Eierkuchen“zu propagieren hatte. Mit den Verträgen
von Maastricht wurde die EU gegründet. Grenzen schwanden, die Freiheit wuchs, das Zeitalter des Individualismus brach an, der scheinbar grenzenlosen Entfaltungsmöglichkeiten, des scheinbar grenzenlosen Konsums und Wachstums …
Wenn noch etwas davon übrig ist, dann dieser Schein. Denn schon mit dem Terror vom 11. September vor jetzt 20 Jahren nahm eine Tendenz einen Anfang, deren Erscheinungen Fukuyamas Befund als naiv bis zur Lächerlichkeit entlarvte. Inzwischen haben sich die Grenzen auch innerhalb der EU wieder verhärtet, zu Großbritannien ist sie geschlossen; nach außen hat Europa seine Grenzen bis nach Afrika hineinverlegt und technisch aufgerüstet – im Namen der Souveränität. Wie ohne
in der Folge der Flüchtlingskrise von 2015 mehr Mauern und Zäune als je zuvor gebaut wurden. Der Ukraine-Konflikt steht für neue Abgrenzungskonflikte zu Russland. China und die USA führen wirtschaftlich praktisch einen Grenzkrieg um Einflusssphären … Längst vor Corona und neuen Grenzkontrollen und Grenzschließungen ist die Ära der Grenzkonflikte zurück.
Die Grenze ist das Medium einer sich ändernden Welt. Und wie diese sich aus der konkreten Landschaft in die Digitalisierung erweitert hat, so hat sich die Grenze virtualisiert. Das neue Zeitalter ist das des Grenzwertes. Zahlen zeigen der Freiheit die Grenzen auf, symbolisieren also
Macht. Hier also kommt das eine mit dem anderen zusammen: Die Weltgeschichte hat ihre AppleWatch. Mit der vermeintlichen Eindeutigkeit ihrer Werte aber trifft sie auf eine Gesellschaft im Konflikt.
Die inneren Freiheiten der individualisierten Gesellschaften sind in Gleichheitskämpfe gemündet. Identitätsund Genderfragen spalten, führen zu einem ständig in den sogenannten sozialen Medien durchlauferhitzten Gegeneinander von Gruppen. Der Gebrauch der Worte ist das Grenzmedium, Quoten bemessen Rechte, Zahlen beziffern Gefolgschaft und Gefühl, formulieren Anspruch. Die äußeren Freiheiten der Konsumgesellschaften haben eine globale Krise so verschärft, dass sie unweigerlich für Verwerfungen sorgt: die Umweltzerstörung, das Klima. Bereits 50 Jahre ist es jetzt her, dass der Club of Rome vor den „Grenzen des Wachstums“warnte. Inzwischen sind aus den Folgen feste Zahlen geworden: Als oberste das Ziel von weniger als zwei Grad Celsius Erderwärmung bis zum Jahr 2100 gegenüber dem Niveau vor Beginn der Industrialisierung. Das ist die 682 der Weltgemeinschaft – ohne zu behaupten, dass es uns da schon gut ginge, bloß weil es so vielleicht noch halbwegs gut gehen könnte. Eine Zahl als Fanal. Der Grenzwert erscheint als Schicksalsfrage. Und verweist auf noch viel mehr Werte, Zahlen als Ge- und Verbote.
Die Grenze ist die Wegmarke einer Entscheidung? Die Grenze ist die Manifestation der Behauptung von Macht? In der Geschichte der Menschheit nimmt ein neuer, bestimmender Konflikt Gestalt an: der Grenzwertkonflikt. Unser Essen und Trinken, unser Wohnen und Arbeiten, unser Fahren und Reisen: Bereits heute regulieren Grenzwerte in vieles hinein und sorgen zwar immer wieder für Debatten wie zur Nitratbelastung der Felder oder zur Feinstaub-Regulierung des Innenstadtverkehrs oder zu flächendeckenden Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen – die ganz großen Freiheitswertkämpfe sind bislang nicht ausgebrochen. Aber wohl zu erwarten, wird der Alltag erst mal geprägt, die Freiheit beschränkt, wie es nun in der Coronahin
Krise der Fall ist, wo Richtzahlen über die Gestaltung des öffentlichen wie des privaten Lebens bestimmen. Die Grenze ist die Wegmarke einer Entscheidung? Ist die Manifestation der Behauptung von Macht? Für das Wohlergehen der Gesellschaft wird die Freiheit aller an R- oder Inzidenzwerten ausgerichtet. Das ist erklärter Ausnahmezustand und spaltet doch bereits eine ans liberale Leben gewöhnte Gesellschaft, für die Freiheit eine Frage zuvorderst der Individualität geworden ist – und die umso mehr allgemeine Gebote anzweifelt und als Rechtfertigung quasi Alternativlosigkeit verlangt.
Denn es könnte ebenso gut das Fanal eines Einzug haltenden Prinzips sein. Wie die einen bereits fordern und die anderen schon fürchten: Wenn sich nun bei Corona zeigt, dass das von Gefahren bedrohte Leben in der Gemeinschaft durch solche Grenzwerte effektiv zu ihrem Wohl zu regulieren ist, über alle bisher dominierenden Hemmnisse wie die immer drohende Krise des Wirtschaftswachstums hinaus – werden wir dann nicht auch künftig bei den anderen Krisen so verfahren? Müssen, sollen, können? Gerade wenn es um eine noch größere Bedrohung der Allgemeinheit geht wie durch Klimaveränderung und Umweltzerstörung? Sind die notwendigen Grenzen des Wachstums nicht am besten durch Grenzwerte durchzuregulieren, die dann als Wegmarken des Umsteuerns, als Medien einer sich ändernden Welt tatsächlich entscheidend in den Alltag eingreifen, in die Freiheit?
Das betreute Leben nach Zahlen könnte in Gesellschaften ungemeine Konjunktur entfalten – und müsste es in der ganzen Welt? Aber hier eben nicht für jeden freiwillig – versteht sich auch, oder? Hauptsache, es geht ihr gut, der Menschheit, der Welt? Die Grenze ist eine Entscheidung. Die Grenze ist die Manifestation der Behauptung von Macht. Wer kann und will den flächendeckenden Verzicht auf Freiheit verordnen und mit Werten markieren? Und wer wird das akzeptieren, wenn aus einem vorübergehenden Ausnahmezustand eine neue Normalität werden soll? Siehe Corona.
Wer stellt den Grenzschutz an den Wegmarken des Grenzwertzeitalters? Oder soll in der Weltgeschichte nun doch plötzlich auf die so oft beschworene Vernunftbegabtheit der Menschen Verlass sein? Ist die ansonsten drohende Katastrophe dann groß genug? Oder muss sie erst nah genug sein? Und wenn das die an ihre Freiheit gewöhnten Wohlstandsländer meint: Ist es dann nicht längst zu spät? Noch mal, siehe Corona: Wo liegt der Grenzwert der Vernunft? Und wer moderiert den Konflikt zwischen den individualisierten Freiheitsansprüchen der Gegenwart und dem Erhalt einer grundlegenden Freiheit aller in Zukunft? Wer ist einverstanden, wenn die Wissenschaft modelliert und die Politik installiert: 682?
Mit der Macht und der Freiheit und den Menschen – es ist ein abstruses Szenario. Wie die Parade des „Friede, Freude, Eierkuchen“in einer Katastrophe erstickte, könnte es die Menschheit an ihrer Ungezügeltheit. Ein „Eiserner Vorhang“, der wahr und falsch, gut und schlecht trennt, würde wohl zu noch mehr Krieg führen. Im Zeitalter der Grenzwerte und Grenzwertkonflikte bedeutet das mehr denn je: Der Mensch muss zeigen, ob er fähig ist zur Selbstgesetzgebung. Moral ist nicht mit der Apple-Watch messbar. Aber unsere Personality könnte durchaus ein bisschen Coaching vertragen zur humanistischen Selbstoptimierung. Also, Menschheit: Wie geht es dir heute? Wollen wir uns auf eine Zielmarke einigen? Oder wirst du in Freiheit vernünftig?