Mittelschwaebische Nachrichten
Österreich taumelt
Trotz einer offensiven Teststrategie steigen die Inzidenzwerte in der Alpenrepublik an. Vor allem Kinder stecken sich an – und die Patienten auf den Intensivstationen werden jünger
Wien Österreich macht – vorerst einmal nichts. Alles soll so bleiben, wie es ist, das ist das Ergebnis der Beratungen vom Montag zwischen der Bundesregierung von ÖVPKanzler Sebastian Kurz, Experten, Opposition und den Länderchefs. Dabei hatte die Regierungsspitze eigentlich für den 27. März Lockerungen angekündigt und eine Öffnung der Außengastronomie in Aussicht gestellt. Die rasant steigenden Infektionszahlen und vor allem die zugespitzte Situation auf den Intensivstationen machen Öffnungen aber unmöglich. Auf diese hatten vor allem die Länderchefs von Wien, Niederösterreich und dem Burgenland massiv gedrängt.
Die Regierung hatte am Montag alle Mühe, den Landeshauptleuten – die sie in den vergangenen Monaten selbst verstärkt ins Pandemie-Management eingebunden hatte – zumindest abzuringen, dass die Biergärten in der Osterwoche geschlossen bleiben. Mit den Lockerungsankündigungen haben Kanzler Kurz und sein Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) eine Erwartungshaltung geschaffen, die sie nun nicht erfüllen können. Die Unfähigkeit Anschobers, sich gegenüber den Ländern durchzusetzen, wird immer offensichtlicher.
Als Gesundheitsminister stehe er allein auf weiter Flur“, sagte Anschober am Montag im ORF-TV. Die Bundesregierung habe in den letzten Wochen und Monaten das Ruder aus der Hand gegeben, bilanzierte am Dienstag SPÖ-Parteichefin Pamela RendiWagner, selbst Epidemiologin. „Man steuert mehr oder weniger führungslos dahin, in der Hoffnung, den Eisberg nicht zu rammen.“Am Dienstagabend tagt eine SonderRunde der östlichsten Bundesländer mit dem Gesundheitsminister, Verschärfungen stehen im Raum, wirklich harte Maßnahmen werden aber nicht erwartet. Die seien ja auch Sache des Bundes, heißt es aus Wien.
Ein klares Ziel oder eine Perspektive, wie es nun weitergehen soll, gibt es nirgends. Klar ist nur eines: Der selbst ernannte „Testweltmeister“Österreich steht in der dritten Welle, dominiert von der aggressiven B.1.1.7-Variante des Coronavirus, kurz vor einer Eskalation. Schon am Montag wurde in Wien der Rekord an Corona-Intensivpatienten vom 20. November, dem Höhepunkt der zweiten Welle, eingestellt. Nun sind es vor allem die 40- bis 60-Jährigen, die auf den Intensivstationen landen. Dort bleiben sie vielfach länger, weil sie insgesamt einen besseren gesundheitlichen Grundzustand haben.
Viele Kliniken im Osten haben nur mehr einzelne Intensivbetten frei, nicht dringende Operationen müssen verschoben werden. Und die dritte Welle rollt weiter. Die 7-Tage-Inzidenz betrug am Dienstag 243 Fälle auf 100000 Einwohner, im Osten stellenweise sogar über 400. Obwohl vielfach in Abrede gestellt, spielt sich das Infektionsgeschehen vor allem in den jüngeren Alterskohorten ab, gerade bei Schülern: Im Burgenland beträgt die 7-Tage-Inzidenz der 5- bis 14-Jährigen bereits über 500, in Niederösterreich, Wien und auch in Salzburg sieht es kaum besser aus. War also das von der Regierung vermittelte Bild, durch möglichst viel Testen, vor allem an den Schulen, könne man die Pandemie besser unter Kontrolle bringen, falsch?
Nicht die Tests seien sinnlos, sondern die Aggressivität von B.1.1.7 sei schuld, sagt der Wiener Virologe Norbert Nowotny von der VetMedUni Wien im Gespräch mit unserer Redaktion. Die Mutation sei nicht nur um ein Drittel ansteckender, sondern führe auch zu schlimmeren Krankheitsverläufen. Aufgrund der Erfahrungen in Großbritannien sei bekannt, dass B.1.1.7 die Jüngeren stärker trifft. Dass all das Testen im Endeffekt nichts gebracht habe, be„manchmal streitet Nowotny aber. Viel eher sei es so, dass man ohne Testen die Schulen im Februar erst gar nicht aufsperren hätte können. Dennoch: „Ich hätte harte Maßnahmen, ähnlich wie in Deutschland, erwartet“, sagt der Virologe. Bis man die Pandemie besser im Griff habe, sei es „noch ein weites Stück“.
Dafür sprechen auch die Zahlen der zu erwartenden Impfstofflieferungen. Bundeskanzler Kurz weiß, dass seiner Regierung im Rahmen des EU-Verteilungsprozederes schwere Fehler unterlaufen sind. Deshalb probt Kurz in Brüssel seit Tagen den Aufstand: Er drohte der am kommenden Donnerstag tagenden Verhandlungsgruppe mit einem Veto, falls er bei den zu verteilenden zehn Millionen zusätzlichen Impfdosen nicht seinen Vorstellungen gemäß berücksichtigt werde.
In Deutschland winkt man ab: Europa-Staatssekretär Michael Roth (SPD) sagte am Dienstag, er sehe „derzeit keine Veranlassung“, am „transparenten und sehr fairen“Verteilungsverfahren etwas zu ändern. Österreich habe eben sein Kontingent nicht voll ausgeschöpft. In Brüssel sieht man Kurz’ VetoDrohung laut ORF-Berichten als übliche Taktik im Vorfeld von Verhandlungen, die immer noch mit einem Kompromiss geendet hätten. Und den dürfte Kurz wie gewohnt innenpolitisch verkaufen wollen.
Bei der Impfstoffbeschaffung hat Kurz Fehler gemacht