Mittelschwaebische Nachrichten
Der Polizist gibt einen Schuss ab – was nun?
Kein Polizist setzt gern seine Schusswaffe ein. Manchmal lässt es sich nicht vermeiden. Nach dem Schusswaffengebrauch in Krumbach sprachen wir mit dem Ex-Polizeiseelsorger Ingo Zwinkau aus Thannhausen
Thannhausen Es ist normaler Alltag für Polizisten, in Einsätzen Menschen zu begegnen, die aggressiv auftreten und die nicht tun wollen, was die Beamten anordnen. Dass Letztere dabei ihre Schusswaffe einsetzen, kommt seltener vor, ist aber Teil ihres Berufs. Zum Schusswaffeneinsatz kam es bei einem Vorfall am Gründonnerstag in der Robert-SteigerStraße in Krumbach. Ein Mann wurde durch Kugeln aus einer Dienstpistole verletzt und es kursiert auch ein Video von dem Einsatz im Internet (wir berichteten).
Die Beamten der eingesetzten Polizeistreife wurden durch Internetkommentare mit Kritik überhäuft. Konfrontiert damit, geht es ihnen nicht gut. Wir sprachen mit Pfarrer Ingo Zwinkau aus Thannhausen, der solcherlei Situationen aus seinem langjährigen Dienst als Seelsorger der Bundespolizei in München kennt. Die blaue Dienstmütze von der Bundespolizei und ein Magnetblaulicht fürs Auto sind als Erinnerungsstücke aus der 13-jährigen Tätigkeit auf einem Regal im Dienstzimmer des heutigen Gemeindepfarrers der evangelischen Gemeinde in Thannhausen präsent. Erst im Oktober 2020 ist Zwinkau aus München in die schwäbische Mindelstadt gewechselt.
Zum Schusswaffen-Vorfall selbst in Krumbach kann Zwinkau nichts sagen. Auch das Video hat er nicht angeschaut. Er warnt allerdings davor, dass man aufgrund eines Videos allein einen Vorfall beurteilen kann. Das gelte für Laien, aber auch für Fachleute. „Ein Schusswaffeneinsatz kann im polizeilichen Einsatz dazugehören, das weiß jeder“, stellt
Zwinkau grundsätzlich fest. Und dabei meint er sowohl die Seite des Polizisten als auch jene seines Gegenübers. „Wenn jemand bewaffnet auf einen Polizisten losgeht, muss er damit rechnen, dass der Polizist auch seine Waffe einsetzt“, so der einstige Polizeiseelsorger. Kein Polizist, den er kenne, mache das gerne, das seien keine Menschen, die schießwütig durch die Gegend liefen. Man könne sicher sein, dass gerade in Deutschland Polizisten sehr lange und sehr gut auf alle möglichen Situationen trainiert und ausgebildet seien, bevor man sie auf Menschen loslasse. Zusätzlich würden beim Einsatz Routine und Diensterfahrung helfen, doch sei jungen Polizisten aus einem Mangel an Diensterfahrung keinerlei Vorwurf zu machen. Um selber eine gewisse Feldkompetenz zu bekommen, hat auch Zwinkau an Polizeitrainings teilgenommen und Bundespolizisten beim Dienst begleitet. Obgleich sich die Bundespolizei von der bayerischen Landespolizei unterscheide, weiß er, was Polizisten im Dienst erleben.
Durch aktuelle Umstände wie Terrorismus und gestiegene Gewaltbereitschaft habe sich das Leitbild des Polizisten teilweise auch verändert. Er sei heute nicht mehr nur der gute menschenfreundliche Schutzmann. Dadurch und auch durch die fortschreitende Technik und soziale Medien, hätten sich auch Bewertungsmuster in der Gesellschaft geändert. Hier auf dem Lande sei es noch nicht so extrem, aber in der Stadt seien sofort mindestens fünf Handykameras auf Polizisten im Einsatz gerichtet und das setze die Handelnden zusätzlich zur jeweiligen Situation unter Stress. Und dass man als Polizist dann in extreme Bewergeraten könne, sei eine extreme Belastung für die Beamten. Im Netz werde immer sehr kontrovers diskutiert von selbst ernannten „Experten“und auch leicht verurteilt. Die Bewertungen des Umfelds seien außerdem unterschiedlich und dazu käme immer auch noch die Selbstbewertung des Betroffenen. „Habe ich richtig gehandelt“, kreise in seinen Gedanken. Es helfe durchaus, sich als Betroffener nach so einem Vorfall erst einmal fernzuhalten vom Handy und den sozialen Medien. Dabei können beispielsweise Kollegen helfen, ebenso durch Gespräche nach dem Vorfall selbst.
Mit vielem muss der Polizist, der seine Schusswaffe beruflich gegen einen Menschen eingesetzt hat, erst einmal klarkommen. Einen Unterschied mache es, ob der Mensch „nur“verletzt wurde oder ob er bei dem Ereignis getötet worden sei. Ein weiterer Faktor unterschiedlichen Erlebens und Verarbeitens des Ereignisses sei, ob sich der Polizist selbst in einer lebensbedrohlichen Situation befunden habe. „Wenn es eine lebensgefährliche Dimension war, nimmt das mehr mit“, so Zwinkau.
Er zitiert aus polizeilichem Unterrichtsmaterial, denn auch er unterrichtete Bundespolizisten in Ausbildung in Seminaren. Akute Stressreaktionen bis zwei Tage nach dem Ereignis seien normal ebenso wie eine sogenannte akute Belastungssituation, die bis rund vier Wochen nach dem Ereignis anhalten könne.
In dieser Zeit erlebe man unter Umständen das Ereignis in Träumen immer wieder ganz oder teilweise. Oder Bilder, Geräusche, Gerüche oder Geschmack kämen einem aus dieser Situation immer wieder in den Sinn. Der Betroffene könne ein Vermeidungsverhalten zeigen für ähnliche Situationen oder Orte. Auch träte unter Umständen ein erhöhter psychosomatischer Erregungszustand auf, der sich in Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, erhöhter Reizbarkeit, Aggressivität oder Konzentrationsschwäche ausdrücken könne. Ebenso könne ein Zustand emotionaler Taubheit eintreten, ein Gefühl der Entfremdung von sich selbst und anderen. Rückzug, Interessensverlust und Teilnahmslosigkeit könnten sich einstellen. Das bewege sich alles in einem normalen Rahmen, wenn solcherlei Reaktionen bis rund einen Monat nach dem Ereignis anhielten und sich im weiteren Verlauf besserten.
Zwinkau, der auch eine traumatherapeutische Ausbildung hat, betont, dass die Kenntnis um diesen Symptomverlauf und die Verarbeitungsmechanismen einem Betroffenen helfen könne, nicht an sich selber zu zweifeln. Setzten sich die Symptome im weiteren zeitlichen Verlauf aber fest, was sehr selten der Fall sei, sollte ein Betroffener unbedingt professionelle Hilfe suchen, damit sich keine länger andauernde „Posttraumatische Belastungsstörung“ausbildet. Kollegen und Vorgesetzte hätten in der Regel ein Auge auf den Betroffenen, um ihm in solchen Situationen das Richtige zu raten und Hilfe anzubieten. Polizisten würden aber auch in der Ausbildung darauf vorbereitet, dass sie diesbezüglich auf sich selber achteten, erklärt Zwinkau. Die meistungsstürme ten Beamten kämen sehr bald wieder gut mit der Situation zurecht, ohne Symptome zu verdrängen und zu unterdrücken. Auch das sei normal. „Es ist immer wieder wichtig, zu betonen, dass die meisten Polizeibeamten sehr gut auch mit solchen belastenden Einsätzen umgehen können.“Man wolle auch keinem eine Belastung einreden, die er nicht habe, erklärt Zwinkau.
Ebenfalls zurechtkommen muss der Beamte mit einem Statuswechsel. Nach jedem Einsatz der Schusswaffe wird er, der sonst selber ermittelt, nun zum Gegenstand der Ermittlungen. Die Kriminalpolizei, oft von einer anderen Dienststelle, übernehme die Ermittlungen. „Dieser Wechsel ist schwierig im Erleben“, so Zwinkau, doch jeder Schusswaffeneinsatz im Dienst ziehe das nach sich. In Gesprächen nach dem Vorfall seien da Vertrauenspersonen wichtig. Es brauche dann achtsame Vorgesetzte, die auch auf Hilfsmöglichkeiten hinweisen würden.
Neben der Polizeiseelsorge gebe es auch psychologische oder ärztliche Dienste und vor allem das kollegiale Umfeld. Manchmal könnten aber Vorgesetzte noch so menschlich zugewandt sein, man müsse als Betroffener wissen, dass einzig der seelsorgliche Dienst eine Schweigepflicht und ein Zeugnisverweigerungsrecht habe. Andere Kollegen müssten in Ermittlungen aussagen, wenn man als Betroffener über möglicherweise unrichtiges Handeln nach einer Tat spreche.
„Ich wünsche den betroffenen Kollegen, dass sie diesen Einsatz bald gut verarbeiten können – und falls nötig dabei auch die notwendige Unterstützung bekommen“, sagt Pfarrer Zwinkau abschließend.