Mittelschwaebische Nachrichten
„Es ist wirklich verheerend“
Flutkatastrophe im Westen Deutschlands: Mehr als 40 Menschen sterben, dutzende werden vermisst. Ministerpräsidentin Dreyer und ihr Kollege Laschet sind erschüttert. Experten sehen Ursache auch im Klimawandel
Ahrweiler Die Wassermassen fressen sich regelrecht durch die Orte, ganze Orte versinken in Schlamm. Es sind beängstigende Bilder und Szenen, die sich im Westen Deutschlands abspielen. Vor allem in der Eifel und in Nordrhein-Westfalen hat der extreme Regen der vergangenen Tage zu einer Flutkatastrophe geführt. Mindestens 58 Menschen starben, dutzende wurden am Donnerstag noch vermisst. Im Ort Schuld in der Eifel wurden vier Häuser komplett und zwei weitere zur Hälfte weggespült. Menschen suchten auf Bäumen und Hausdächern Schutz vor den Fluten. Es war schwierig, die Vermissten zu erreichen, da das Mobilfunknetz zum Teil ausgefallen war. Die Stadt Bonn rief ihre Bürger auf, Notunterkünfte zur Verfügung zu stellen.
„So eine Katastrophe haben wir noch nicht gesehen. Es ist wirklich verheerend“, sagte die rheinlandpfälzische Ministerpräsidentin Malu
Dreyer (SPD). NRW-Ministerpräsident und Unionskanzlerkandidat Armin Laschet reiste ins Katastrophengebiet. „Das Wichtigste ist, jetzt zu helfen, und vor allem denjenigen, die helfen, Rückendeckung zu geben“, sagte er. Die Kanzlerkandidaten von Grünen und SPD, Annalena Baerbock und Olaf Scholz, brachen ihren Urlaub ab. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel wandte sich an die Betroffenen. „Friedliche Orte durchleben in diesen Stunden eine Katastrophe, man kann sagen eine Tragödie“, erklärte Merkel von Washington aus. Ihre Anteilnahme gelte den Angehörigen der Toten und Vermissten. „Ich bin erschüttert über die Berichte, die mich erreichen“, sagte sie und versprach, alle staatlichen Kräfte zu mobilisieren und bei den Aufbauarbeiten finanziell zu helfen.
Vor Ort setzte die Bundeswehr Soldaten und schweres Gerät zur Rettung ein. Insgesamt seien in Rheinland-Pfalz und NordrheinWestfalen 500 Männer und Frauen im Einsatz gewesen, sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums. Auch das Innenministerium zeigte sich solidarisch. „Ich biete den Ländern jegliche Unterstützung an“, sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) der Bild. „Diese extremen Wetterkapriolen sind die Folgen des Klimawandels.“
„Phänomene wie das jetzige werden durch den Klimawandel künftig wahrscheinlicher, also potenziell häufiger auftreten“, sagt Professor Matthias Garschagen, einer der führenden Klimaforscher Deutschlands. „Insofern ist es ein Vorbote dessen, was wir vom Klimawandel zu erwarten haben – unabhängig von der Frage, ob das jetzige Phänomen auch ohne Klimawandel so möglich gewesen wäre.“Auch in Bayern, das aktuell weitgehend glimpflich davonkommt, würden sich Extremwetterlagen häufen. „Bayern hat ein großes Risiko von Hitzeperioden, deren Intensität steigen wird“, sagte Garschagen unserer Redaktion. „Das Starkniederschlagsrisiko wird sich ebenfalls erhöhen, ganz massiv im Alpenvorland.“Doch noch ein anderes menschengemachtes Phänomen ist mitverantwortlich für die derzeitige Hochwassersituation. „Dass derartige Starkregenfälle so dramatische Konsequenzen haben, liegt zu einem großen Teil an der Versiegelung der Böden“, sagt Friederike Otto, deutsche Klimatologin an der Universität in Oxford.
Die Grünen werfen der Bundesregierung unterdessen vor, das Problem zu verschärfen, weil Flüsse nicht renaturiert würden – dabei hatte genau das die EU schon im Jahr 2000 in einer Richtlinie beschlossen. Doch noch 2017 entsprachen 91 Prozent der deutschen Flüsse und 79 Prozent der natürlichen Seen nicht den ökologischen Vorgaben der Richtlinie. „Die Bundesregierung ignoriert die Wasserrahmenrichtlinie schlichtweg“, sagt der Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen im Europäischen Parlament,
Sven Giegold. So hätte auch das nun betroffene Nordrhein-Westfalen „längst einen Umsetzungsplan für die EU-Regeln vorlegen müssen“, so Giegold. Aber „Naturschutz wird von der NRW-Landesregierung notorisch auf die lange Bank geschoben. Die Folgen sind in diesen Tagen schmerzhaft spürbar.“
Unwetter und Überschwemmungen dürften aus Sicht der Versicherungsbranche 2021 besonders hohe Schäden anrichten. Es zeichne sich ab, dass sich das Jahr „zu einem der schadensträchtigsten seit 2013 entwickeln könnte“, teilte der Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft, Jörg Asmussen, mit. Dass die Schäden hoch sind, liegt aber nicht nur an der Natur. Der Rückversicherer Munich Re macht „sozioökonomische Veränderungen“mitverantwortlich. „Das heißt, in den betroffenen Gebieten steigt die Dichte und der Wert von Immobilien und Infrastruktur, den sogenannten Exposures.“
Risiko von Extremwetter steigt auch in Bayern