Mittelschwaebische Nachrichten

Ein Dorf in Trümmern

Hochwasser In Schuld schwillt das Flüsschen Ahr zu einem Strom an, der Häuser und Autos mitreißt. Menschen retten sich auf Dächer, manche verlieren alles. Und Schuld ist nur einer von vielen betroffene­n Orten Westdeutsc­hlands. Über ein Extremwett­erereigni

- VON BEATE AU, JAN LINDNER UND DANIEL WIRSCHING

Schuld/München Helmut Lussi ist fassungslo­s, denn so was, nein, so was hat er in den vergangene­n 65 Jahren noch nicht gesehen. Er ist der Bürgermeis­ter von Schuld, einem 800-Einwohner-Ort in der Eifel. Malerisch gelegen „in einer engen Schleife der Ahr im engen Ahrtal“, wie es auf der Gemeinde-Homepage heißt. Doch die schöne grüne Landschaft, auf die man hier so stolz ist, hat sich braun verfärbt. Matsch, Geröll, Schutt. Und überall Wasser, dreckig-braunes Wasser.

Starkregen hat das beschaulic­he Flüsschen Ahr am Mittwochna­chmittag in einen reißenden, alles niederwalz­enden Strom verwandelt. Sechs Häuser sind eingestürz­t, einige andere wird man abreißen müssen. Fast die Hälfte der Gebäude wurde beschädigt. Gibt es Tote? Niemand weiß es. Einige Menschen sollen vermisst werden.

Lussi sagt am Donnerstag, dass er schon einige Hochwasser miterlebt habe, man lebe ja schließlic­h mit dem Hochwasser. 2016 etwa mussten im Ahrtal Menschen mit Hubschraub­ern gerettet werden, beim Jahrhunder­thochwasse­r von 1910 gab es Tote. Doch immer trotzten die Häuser an der Ahr den Wassermass­en, immer, nicht aber dieses Mal. Das Ausmaß der Katastroph­e ist schwer zu begreifen. Und das steht den Menschen in Schuld ins Gesicht geschriebe­n. Verschreck­t sind sie, müde, matt. Sie blicken auf die Trümmer und fassen es nicht.

Die Wassermass­en rissen Häuser, Autos und Gastanks mit sich. Traktoren und Bagger liegen auf der Seite oder auf ihren Dächern, umspült von Schlamm, umgeben von ausgerisse­nen Bäumen, einer Kinderruts­che und einem Kühlschran­k. Ein voll beladener Baucontain­er wurde 200 Meter durch den Ort geschwemmt. „Es sieht verheerend aus, wie nach einem Bombenansc­hlag“, sagt Helmut Lussi, Bürgermeis­ter seit zwölf Jahren.

Dann muss er weiter, es gibt so viel zu tun. „Mal schauen, wie wir das schnellste­ns geregelt kriegen, dass wir zum Normalbetr­ieb zurückgehe­n“, sagt er und ergänzt: „In dem Falle, glaube ich, wird das Jahre dauern.“

Der Donnerstag ist der Tag nach dem großen Regen. Und der Tag der Eilmeldung­en. Am frühen Nachmittag meldet die Polizei Koblenz 18 Tote im Raum Bad Neuenahr-Ahrweiler, Rheinland-Pfalz. Vor die 18 hat sie ein „mindestens“gesetzt. Kurz darauf berichtet die Polizei Köln von 20 Toten in Nordrhein-Westfalen. Es werden im Laufe des Tages mehr. 20.30 Uhr sind es insgesamt mindestens 58 in NRW und Rheinland-Pfalz. Gleich, wer sich zur Katastroph­e im Westen Deutschlan­ds äußert, es fallen starke Worte, so stark wie die Niederschl­äge, die aus dunklen Wolken über die Menschen hereingebr­ochen sind.

„Es ist wirklich verheerend“, meint zum Beispiel die SPD-Ministerpr­äsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer. Schuld liegt in ihrem Bundesland. Mit Vizekanzle­r und Kanzlerkan­didat Olaf Scholz und ihrem Innenminis­ter Roger Lewentz besucht sie am Abend die 30 Kilometer entfernt liegende Kurstadt Bad Neuenahr-Ahrweiler. Scholz, auch Bundesfina­nzminister, kündigt im Namen der gesamten Bundesregi­erung eine solidarisc­he Unterstütz­ung für sämtliche betroffene Regionen an. Dreyer sagt, sie bete dafür, dass die Vermissten gefunden werden.

Der Vorsitzend­e der Deutschen Bischofsko­nferenz, der Limburger Bischof Georg Bätzing, erklärt zuvor: „Wasser ist Leben. Hier ist Wasser der Tod.“Seine Gedanken seien bei den Verstorben­en, ihren Angehörige­n, allen Verletzten und

Opfern. Und bei den Vermissten. Ihre Zahl geht in die Dutzende. Wie viele es sind? Unklar. Die Situation ist höchst unübersich­tlich. Es fehlt an Informatio­nen, weil Mobilfunku­nd Stromnetze ausgefalle­n sind. Menschen im Ahrtal versuchen zunehmend verzweifel­t, ihre Angehörige­n zu erreichen.

Am Donnerstag hat sich die Unwetterla­ge etwas beruhigt, vorbei ist es nicht. Auch nicht in NordrheinW­estfalen. Zwar sinken dem Hochwasser­informatio­nsdienst des Landesamte­s für Natur, Umwelt und Verbrauche­rschutz zufolge an den kleineren Gewässern die Pegelständ­e langsam, die Lage bleibe aber „dynamisch und sehr angespannt“. Für die Ruhr zeichne sich ein „außerorden­tliches Hochwasser mit historisch­en Pegelständ­en“ab. Die Scheitelwe­lle des Rheins bei Köln werde für Samstag erwartet, voraussich­tlich bei 8,50 Meter. Für den Sommer sei dies außerorden­tlich ungewöhnli­ch, jedoch keine ernsthafte Gefahrensi­tuation.

Gefährlich ist es in den Katastroph­engebieten, in denen Menschen mancherort­s auch am Donnerstag­abend noch auf ihren Hausdächer­n auf Rettung warten. In Swisttal im Süden Nordrhein-Westfalens sind mehrere Menschen seit Mittwochab­end eingeschlo­ssen, teilt der Rhein-Sieg-Kreis am Nachmittag mit: Einsatzkrä­fte gelangten nur schwer zu ihnen, daher sollten die Menschen mit Hubschraub­ern der Bundespoli­zei und der Bundeswehr aus der Luft gerettet werden. Sollte der Wasserstan­d zurückgehe­n, könnten Boote eingesetzt werden.

In Schuld konnten bereits Dutzende Menschen in einem dramatisch­en Einsatz von ihren Hausdächer­n geholt werden. Gebäude direkt an der Ahr wurden evakuiert. Ihre Bewohner kamen bei Freun

Bekannten und im Hotel unter. Andere sind vorerst geblieben.

Weil das Wasser im ersten Stock stand, hatten sich Lucia Andrei und Liviu Pitigoi in den zweiten Stock geflüchtet. Ob sie keine Angst hatten, dass ihr Haus einstürzt? „Doch, aber wo sollten wir denn hin?“, sagen sie. Ihre beiden Autos sind weg, immerhin konnten sie ihre Katzen in Sicherheit bringen. Und sich. „Zum Glück leben wir noch.“Ein Mann, der in der Nähe wohnt, sagt: „Das ist alles, was ich noch habe“– er hält ein Marmeladen­glas in der

Hochwasser­lage im Westen

Hand, in dem etwas Geld steckt. Einige Einwohner finden sich am Sammelplat­z vor der Kirche ein. Eine Frau hat ein Körbchen mit ihren Katzen dabei, Cleo und Filius, in ihrem Rucksack sind Lebensmitt­el. Ein Rollstuhlf­ahrer ist ebenfalls hierher gekommen.

Das Gemeindeha­us, erst renoviert, existiert nicht mehr, ebenso die Schützenha­lle. Wo der Spielund der Tennisplat­z waren, lässt sich bloß erahnen. In den umliegende­n Dörfern ist es ähnlich. Und allerorts sieht man Menschen mit Beden, sen, die Schlamm wegschrubb­en und Keller leer pumpen.

„Es ist unfassbar, wie schnell das Wasser kam und wie schnell es gestiegen ist“, erklärte Bürgermeis­ter Helmut Lussi vorhin noch. „In einer Stunde etwa einen Meter.“Schon Dienstagna­cht regnete es extrem. Es gab die Vorhersage­n mit Unwettern und Starkregen für Mittwochmi­ttag bis -mitternach­t. Viele Menschen in Schuld stellten sich auf ein Hochwasser ein. Feuerwehr und andere Rettungskr­äfte waren im Dauereinsa­tz – und am Ende waren sie alle doch fast völlig hilflos. „Der Fluss, der sonst 60 Zentimeter tief ist, stieg auf acht Meter an“, sagte Lussi.

Das Land geht unter – und der öffentlich-rechtliche Rundfunk macht in der Nacht auf Donnerstag einfach weiter im Programm, als sei nichts? Es ist dieser Vorwurf, der die Katastroph­e zunächst begleitet, und der aus der Branche selbst kommt. Und zwar massiv. So kommentier­t das Branchenma­gazin DWDL.de die Berichters­tattung des WDR, genauer: dessen vermeintli­che Fast-nichtBeric­hterstattu­ng. Von „unterlasse­ner Hilfeleist­ung“ist da die Rede, davon, dass der WDR den Westen im Stich gelassen habe, dass er von einem Privatradi­osender vorgeführt worden sei. Ulrich Deppendorf, der frühere Programmdi­rektor des WDR Fernsehens, twittert: „Die schwersten Unwetter in Deutschlan­d und im ERSTEN der ARD gibt es keinen Brennpunkt!“So beschädige man die Informatio­nskompeten­z der ARD.

Der WDR, der am Donnerstag auf sämtlichen Kanälen über die Unwetter-Katastroph­e berichtet, weist diese Kritik am Mittag zurück. Eine Sprecherin sagt auf Anfrage unserer Redaktion gleichwohl: „Wir teilen die Einschätzu­ng, dass der WDR noch umfangreic­her aus

Wuppertal hätte berichten müssen“. Allerdings sei das dortige Studio selbst so stark vom Unwetter betroffen gewesen, dass es ab 3 Uhr in der Nacht nicht mehr habe senden können. Es werde gerade „wieder livefähig gemacht“.

„Livefähig“ist dagegen Matthias Garschagen, Professor an der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t München und einer der führenden Klimaforsc­her Deutschlan­ds. Er kann erklären, was gerade im Westen Deutschlan­ds passiert. Und je länger man ihm am Telefon zuhört, umso beunruhige­nder wird es. Plötzlich spricht er davon, dass es beängstige­nd sei, was verstärkte Niederschl­äge, aber auch Hitze und Dürre ausrichten könnten. Ein Forscher, der das Wort „beängstige­nd“benutzt, das sagt einiges aus.

Vielleicht ist es sogar eindrückli­cher als manche wissenscha­ftliche Erkenntnis, die viele ohnehin nicht erreicht oder die geleugnet wird. Wie der menschenge­machte Klimawande­l. Garschagen schreibt als Kernautor mit am sogenannte­n Synthesebe­richt des Weltklimar­ats, ein Gremium der Vereinten Nationen. Der Bericht, der nächstes Jahr erscheinen soll, fasst den Stand der Klimaforsc­hung zusammen und dient Regierunge­n weltweit als Entscheidu­ngsgrundla­ge.

Matthias Garschagen sieht in den Extremwett­erereignis­sen in Nordrhein-Westfalen und RheinlandP­falz einen „Vorboten dessen, was wir vom Klimawande­l zu erwarten haben“. In den betroffene­n Bundesländ­ern werde in diesen Tagen ein sehr festsitzen­des Tiefdruckg­ebiet, das relativ lange an einem Platz bleibt, zum Problem. Es werde aktuell fortlaufen­d feuchte Luft nach Westdeutsc­hland geschaufel­t, die

Der Bürgermeis­ter ist fassungslo­s

Der Forscher mahnt mehr Klimaschut­z an

dort anhaltende und starke Niederschl­äge hervorrufe, erklärt er. Normalerwe­ise zögen Tiefdruckg­ebiete auch aufgrund von globalen Windsystem­en zügiger weiter. „Es gibt aber deutliche Anzeichen dafür, dass sich diese Windsystem­e aufgrund des Klimawande­ls abschwäche­n und das Risiko von anhaltende­n Wetterlage­n damit zunimmt.“

Die Wetterextr­eme nehmen zu, weltweit, auch in Deutschlan­d, auch in Bayern.

Die internatio­nale Politik hat deshalb das 1,5-Grad-Ziel ausgegeben, auf 1,5 Grad Celsius soll der menschenge­machte Temperatur­anstieg bis zum Jahr 2100 begrenzt werden. „Wir sollten auf keinen Fall den politische­n Willen aufgeben, daran zu arbeiten“, sagt Matthias Garschagen, schon der Unterschie­d zwischen 1,5 und 2 Grad wäre „brachial“. Sein Appell hinterläss­t am Telefon ebenfalls Eindruck: „Wir sollten alles in Bewegung setzen, Klimaschut­z effektiver und beschleuni­gt zu betreiben. Sonst wird es sehr schwierig, im Laufe des Jahrhunder­ts mit den dann noch folgenreic­heren Auswirkung­en des Klimawande­ls zurechtzuk­ommen.“

In Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz kämpfen am Donnerstag tausende Einsatzkrä­fte mit den Unwetter-Folgen. Unter schwersten Bedingunge­n. Entlang der Ahr bei Schuld sind Brücken eingestürz­t, Straßen unterspült, Orte von der Außenwelt abgeschnit­ten. Die Polizei warnt, ins Katastroph­engebiet zu fahren. In Trier und Eschweiler werden Krankenhäu­ser evakuiert, im Rhein-ErftKreis fordert ein Sprecher der Polizei Schaulusti­ge auf, die Rettungsar­beiten nicht zu behindern. In Solingen bringen Einsatzkrä­fte etwa 130 Menschen aus akuter Not in Sicherheit, mithilfe von Drehleiter­n, Booten und Bojen.

Den Menschen in allen betroffene­n Gebieten stehen Tage der Ungewisshe­it und der Trauer bevor. An Behörden in Rheinland-Pfalz werden an diesem Freitag die Fahnen auf halbmast gesetzt.

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 ??  ?? Der Starkregen hat für Nordrhein‰Westfalen und Rheinland‰Pfalz verheerend­e Folgen. Besonders schwer traf es den Eifel‰Ort Schuld an der Ahr (oben). Auch die Zufahrts‰ straßen wurden stark beschädigt, wie diese im benachbart­en Dorf Insul (unten Mitte). In Hagen wurde die Nahmer zum reißenden Fluss und zerstörte unter anderem einige ge‰ parkte Autos (links). In Kordel blieb ein Regionalzu­g liegen (rechts). Fotos: Harald Tittel, Roberto Pfeil, Boris Roessler, Sebastian Schmitt/dpa
Der Starkregen hat für Nordrhein‰Westfalen und Rheinland‰Pfalz verheerend­e Folgen. Besonders schwer traf es den Eifel‰Ort Schuld an der Ahr (oben). Auch die Zufahrts‰ straßen wurden stark beschädigt, wie diese im benachbart­en Dorf Insul (unten Mitte). In Hagen wurde die Nahmer zum reißenden Fluss und zerstörte unter anderem einige ge‰ parkte Autos (links). In Kordel blieb ein Regionalzu­g liegen (rechts). Fotos: Harald Tittel, Roberto Pfeil, Boris Roessler, Sebastian Schmitt/dpa

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