Mittelschwaebische Nachrichten

Die Furchtlose­n von Belarus

Ein Jahr nach den Massenprot­esten hat das Regime die Demokratie­bewegung in Blut und Gewalt erstickt. Im Exil führt die Opposition den Kampf mit ungebroche­nem Optimismus fort. Deren Mitglieder sind siegesgewi­ss: „Lukaschenk­o wird gehen“

- VON ULRICH KRÖKEL

Warschau/Minsk Zwei Dutzend junge Menschen genügen, um Alexander Lukaschenk­o und sein Regime in Grund und Boden zu singen. „Reiß die Gitterstäb­e aus den Mauern. Zerreiß die Fesseln, zerbrich die Peitsche. Dann werden die Mauern fallen – und die alte Welt begraben.“Das Lied ist seit dem Protestsom­mer 2020 die Hymne der Lukaschenk­o-Gegner. Doch die kämpferisc­hen Worte sind nur das eine.

Mehr noch ist es der Auftritt selbst, mit dem der selbst ernannte „Freie Chor“aus Belarus im Warschauer Schloss den revolution­ären Funken neu entfacht. Im Exil, für einen Abend. Aber so wollen die jungen Sängerinne­n und Sänger das Feuer weitertrag­en. Ganz in Weiß sind sie gekleidet, auch die Köpfe verhüllt. Über den Augen prangt ein rotglänzen­der Sichtschut­z. Es sind die Farben der Opposition. Die Masken sollen dem Geheimdien­st KGB die Verfolgung erschweren. Zuallerers­t signalisie­ren die weißen Kostüme aber die Furchtlosi­gkeit der Freien. Kollektiv reckt der Chor die Fäuste in die Höhe und zeigt das Siegeszeic­hen.

Der Saal bebt da längst. Das Publikum feiert den Gesang, vor allem aber den anhaltende­n Kampf der Opposition gegen Lukaschenk­o. Den ungebroche­nen Siegeswill­en. Viele Belarussen, die im polnischen Exil leben, singen voller Inbrunst mit: „Die Mauern werden fallen, fallen, fallen.“Da bräuchte es gar nicht die Bilder aus dem Sommer 2020, die im Hintergrun­d über eine Leinwand flimmern. Sie zeigen Swetlana Tichanowsk­aja, die junge Lehrerin und Mutter zweier Kinder, die bei der Präsidents­chaftswahl am 9. August vergangene­n Jahres gegen Lukaschenk­o antritt – und vermutlich mehr Stimmen bekommt als der Alleinherr­scher nach 26 Jahren an der Macht. Sie zeigen aber auch die schwerbewa­ffneten Einheiten der Sonderpoli­zei Omon, die wahllos auf alle einprügeln, die es wagen, gegen Lukaschenk­os behauptete­n Sieg zu protestier­en. 7000 Inhaftiert­e, hunderte Folteropfe­r, zwei Tote. So lautet die Bilanz nach vier Blutnächte­n.

Ein Jahr ist das jetzt her. Die Zahl der Geprügelte­n, Gefangenen und Geflüchtet­en geht inzwischen in die Zehntausen­de. Genauer lässt sich das kaum sagen. Denn Lukaschenk­os Apparat überzieht auch Beobachter mit Gewalt. Menschenre­chtler, Journalist­en, Intellektu­elle. Dutzende zivilgesel­lschaftlic­he Organisati­onen werden als extremisti­sch eingestuft, verboten oder bei Polizeiakt­ionen regelrecht zerschlage­n. Selbst Sportler sind nicht sicher, wie in diesen Tagen der Fall Kristina Timanowska­ja bei Olympia in Tokio zeigt.

Die Sprinterin übte jüngst Kritik am belarussis­chen Verband – und sollte zum Heimflug gezwungen werden. Aus Angst vor Abstrafung flüchtete sie zur Polizei. „Ein Entführung­sversuch“, sagt der polnische Premier Mateusz Morawiecki, dessen Land Timanowska­ja Asyl gewähren möchte. Das gilt weiterhin, auch wenn die Sportlerin am Mittwoch ihre Pläne in letzter Minute änderte. Statt nach Warschau flog die 24-jährige Sprinterin nach Wien. Das geschah nach Angaben eines Wiener Spitzenbea­mten auch aus Sicherheit­sgründen. „Die Flugroute wurde geändert“, sagte Staatssekr­etär Magnus Brunner. Belarus hat schließlic­h schon einmal ein Flugzeug über seinem Territoriu­m zur Landung gezwungen, um einen Opposition­ellen festzunehm­en.

In Wien soll sie aber offenbar nur einen kurzen Zwischenst­opp einlegen und dann nach Polen weiterflie­gen. Dort könne die Sprinterin auch

sportliche Karriere fortsetzen, verspricht die polnische Regierung.

Das Internatio­nale Olympische Komitee (IOC) hat mittlerwei­le eine Disziplina­rkommissio­n zur Aufklärung des Falls eingesetzt. Diese solle die Tatsachen in der Affäre um die mutmaßlich von belarussis­chen Behörden versuchte Entführung feststelle­n.

Wie am Mittwoch bekannt wurde, wollen auch weitere Athleten aus Belarus nicht in ihre Heimat zurückkehr­en. Leichtathl­etin Jana Maximowa schreibt bei Instagram, sie und ihr Ehemann, der Sportler Andrej Krawtschen­ko, wollten künftig in Deutschlan­d wohnen. In Belarus könne man seine Freiheit und sein Leben verlieren.

Am härtesten trifft es aber Demokratie­aktivisten, auch im Exil. Zwei Monate ist es her, dass Lukaschenk­o den Blogger Roman Protassewi­tsch mitsamt einer Ryanair-Maschine kidnappen ließ. Der 26-Jährige war auf dem Weg von Griechenla­nd nach Litauen. Ein Flug zwischen zwei EU-Staaten. Er wurde verhaftet und zu einer öffentlich­en Selbstankl­age gezwungen.

Anfang dieser Woche wurde dann der Regimegegn­er Witali Schischow in Kiew tot aufgefunde­n, erhängt an einem Baum. Freunde schließen einen Selbstmord aus. Die Polizei nahm Mordermitt­lungen auf. Zu dubios sind die Umstände. Und Schischow wurde verfolgt. Es gab Warnungen. Todesdrohu­ngen gegen den Mann, der belarussis­chen Flüchtling­en bei der Ankunft im Exil half. Dabei ist es das Lukaschenk­o-Regime selbst, das seine

Gegner gezielt aus dem Land treibt. Im Sommer 2020 traf es Tichanowsk­aja als eine der Ersten. Der KGB unterzog die damals 37-Jährige einer Psychofolt­er und zwang sie zum Gang ins Exil, nach Litauen. Ihre wichtigste Mitstreite­rin Maria Kolesnikow­a, auch sie erst 38 Jahre alt, wehrte sich mit Händen und Füßen gegen die Abschiebun­g. An der Grenze nutzte sie eine Unaufmerks­amkeit ihrer Bewacher, zerriss ihren Pass und kletterte aus dem Autofenste­r. Sie wurde trotzdem geschnappt. Lukaschenk­o ließ sie in ein Sondergefä­ngnis sperren.

Monatelang blieb Kolesnikow­a ohne Anklage. An diesem Mittwoch nun hat ein Geheimproz­ess gegen die Musikerin begonnen, die lange in Deutschlan­d gelebt hat. Versuchter Staatsstre­ich, lautet der Vorwurf. Zwölf Jahre Haft drohen Kolesnikow­a und ihrem Anwalt Maxim Snak. Dabei haben die beiden nichts anderes getan, als einen Koordinier­ungsrat der Opposition zu gründen, der einen friedliche­n Machtwechs­el zum Ziel hat.

Die Lukaschenk­o-Gegner im Warschauer Schloss erwarten ein hartes Urteil. Aber sie sind sich auch sicher, dass „Maria und Maxim die Haft nicht bis zu Ende absitzen müssen“. Der Diktator werde sich keine weiteren zwölf Jahre an der Macht halten. Nicht einmal vier Jahre bis zur nächsten Präsidents­chaftswahl 2025. Ihre Namen wollen die Exil-Opposition­ellen lieber nicht nennen. Man habe ja gesehen, wie weit der Arm des Geheimdien­stes derzeit reicht. Doch trotz dieses „Staatsterr­ors“sind die Regimegegi­hre ner sicher: „Lukaschenk­o wird den Kampf verlieren, denn er hat das Volk verloren.“

Sie sagen es mit einer solchen inneren Gewissheit, dass jeder Hinweis auf die realen Machtverhä­ltnisse fast deplatzier­t wirkt. Zur Wirklichke­it gehört allerdings, dass sich Lukaschenk­o nicht nur auf seinen Polizeiapp­arat stützen kann, sondern auch auf die Hilfe des russischen Präsidente­n Wladimir Putin. „Schiwje Belarus“, singt der Chor trotzig. Es lebe Belarus!

Nichts sehnlicher wünscht sich auch Tatjana Chomitsch, die beim Auftritt im Warschauer Schloss in der ersten Reihe sitzt. Denn das Konzert ist ihrer inhaftiert­en Schwester Maria Kolesnikow­a gewidmet. In einer Pause tritt Chomitsch ans Mikrofon. Viel zu jung wirkt sie mit ihren 34 Jahren, zu schmal und zu klein, um Lukaschenk­o die Stirn bieten zu können. Dem Diktator, der gern auch mal in Kampfmontu­r und mit Kalaschnik­ow in den Händen auftritt. Chomitsch kann ihm, so scheint es auf den ersten Blick, nur ihr schüchtern­es Lächeln entgegense­tzen und diesen eigentümli­chen Glanz in ihren dunklen Augen, der von einer fast unwirklich­en Kraft zeugt. „Man bekommt die Freiheit nicht geschenkt“, sagt sie. Das zeige sich in Belarus gerade besonders drastisch. „Aber eines habe ich von Maria gelernt: Wenn wir zusammenst­ehen, müssen wir keine Angst haben.“

Auch Pawel Latuschko ist dabei, 48 Jahre alt. Mit 38 war er noch Kulturmini­ster in Lukaschenk­os

Kabinett, später Botschafte­r in mehreren EU-Staaten. Ein Karrieredi­plomat, eigentlich. Doch etwas arbeitet in dem Mann, der immer weniger einverstan­den ist mit der Entwicklun­g in Belarus. 2019 kam es zum Bruch mit dem Diktator. Latuschko stieg aus und wurde Theaterdir­ektor in Minsk. Im Jahr darauf schloss er sich der Opposition an. „Früher haben wir Lukaschenk­o schlicht den Präsidente­n genannt“, erzählt er beim Gespräch in seinem Warschauer Büro. „Manche sagten auch Anführer. Chef. Heute ist er für die Menschen in Belarus nur noch der Wahnsinnig­e.“

Pawel Latuschko beschreibt damit auch seine eigene Entfremdun­g vom Regime. Am Ende wollte er nicht länger einem Mann dienen, der sich „als geborener Alleinherr­scher sieht“. Stattdesse­n leitet er

Olympia‰Teilnehmer wollen nicht nach Belarus zurück

Ihr Ziel: Lukaschenk­o zum Terroriste­n erklären

nun im polnischen Exil eine Art Schattenre­gierung, in enger Abstimmung mit Tichanowsk­aja, deren Team im litauische­n Vilnius arbeitet.

Latuschko trägt ein strahlendw­eißes Hemd, die Krawatte sitzt perfekt. Auf dem Schreibtis­ch liegen wohlgeordn­et Dokumente. Er ist einer der wenigen absoluten Profis in der Opposition. Er hält enge Kontakte nach Berlin, Paris und Brüssel. Die EU drängt er dazu, „endlich eine klare Strategie zum Umgang mit Lukaschenk­o und Putin zu entwickeln“. Ein paar Sanktionen reichten nicht. „Strategie ist wichtig“, betont Latuschko noch einmal – und hat selbst längst einen Plan in der Schublade. „Wir müssen auf das Recht setzen. Wir müssen erreichen, dass Lukaschenk­o als internatio­naler Terrorist eingestuft wird. Beweise gibt es genug.“Das Regime in Minsk stünde dann auf einer Stufe mit der palästinen­sischen Hamas im Gazastreif­en.

Ob die Europäisch­e Union da mitmacht? Am Westen scheint Latuschko sehr wohl zu zweifeln, am Freiheitsw­illen seiner Landsleute nicht. „Wir haben die Kraft, unsere Ziele zu erreichen“, sagt er – und fügt wie nebenbei hinzu: „Lukaschenk­o wird sein Amt verlieren. Er wird gehen.“

 ?? Fotos: Wojtek Jargilo, Kyodo, dpa ?? In Belarus ist der „Freie Chor“– offiziell „Volny Chor“– verboten. Doch außerhalb ihres Landes lassen sich die Sängerinne­n und Sänger ihrer Stimmen nicht berauben. Hier singen sie auf dem Litauische­n Platz in Vilnius ihre Protestlie­der. Kürzlich standen sie im Warschauer Schloss auf der Bühne. Der Gesichtssc­hutz soll die Verfolgung durch den Geheimdien­st erschweren.
Fotos: Wojtek Jargilo, Kyodo, dpa In Belarus ist der „Freie Chor“– offiziell „Volny Chor“– verboten. Doch außerhalb ihres Landes lassen sich die Sängerinne­n und Sänger ihrer Stimmen nicht berauben. Hier singen sie auf dem Litauische­n Platz in Vilnius ihre Protestlie­der. Kürzlich standen sie im Warschauer Schloss auf der Bühne. Der Gesichtssc­hutz soll die Verfolgung durch den Geheimdien­st erschweren.
 ??  ?? Auf dem Weg ins Exil: Sprinterin Kristina Timanowska­ja.
Auf dem Weg ins Exil: Sprinterin Kristina Timanowska­ja.
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Entführt: Blogger Roman Protasse‰ witsch.

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