Mittelschwaebische Nachrichten
„Nur ein Transportmittel“
Nach dem Drama um Annika Schleu ist der Moderne Fünfkampf heftig in die Kritik geraten. Die Athletin und ihre Trainerin verteidigen ihr Verhalten, während Reitsport-Experten fordern, das Springreiten zu streichen
Augsburg Es waren genau die Bilder, die man im Reitsport nicht sehen möchte: ein schweißnasses, verängstigtes Pferd mit aufgerissenen Augen und offenem Maul, das sich panisch um die eigene Achse dreht. Das am liebsten nur flüchten möchte und dann noch mit der Peitsche traktiert wird. Im Sattel die deutsche Fünfkämpferin Annika Schleu, der bei jedem Schlag Verzweiflung, Frustration und Hilflosigkeit anzusehen sind. Angetrieben von einer Trainerin, die sie ermutigt, noch mehr zu schlagen.
Durch das Drama um Fünfkämpferin Annika Schleu, die vor der Disziplin Springreiten auf Goldkurs lag, sind die seit Jahren währenden Probleme des Modernen Fünfkampfs nun wieder in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Diese Disziplin war schon immer berüchtigt dafür, die Platzierungslisten komplett durcheinander zu wirbeln, je nachdem welches Pferd dem Athleten oder der Athletin zugelost wird. Selbst für professionelle Reiterinnen und Reiter ist es eine höchst anspruchsvolle Aufgabe, mit einem ihnen unbekannten Pferd nach nur 20 Minuten Eingewöhnungszeit einen Springparcours zu bewältigen. Noch dazu wenn dem Pferd Ausbildung und Nervenstärke fehlen.
Das Leih-Pferd Saint Boy, das Lena Schleu gemäß Reglement nur diese 20 Minuten lang kennenlernen konnte, wollte den Parcours schon gar nicht betreten und verweigerte dann vor den Hindernissen. Als die Probleme offensichtlich wurden, brach Schleu in Tränen aus und setzte verzweifelt die Gerte ein. Mit den Worten „Hau mal richtig drauf! Hau drauf!“war sie dazu – gut hörbar im Fernsehen – von ihrer Trainerin Kim Raisner aufgefordert worden. Raisner gab dem Pferd zudem einen Klaps mit der Faust. „Ich fühle mich natürlich schon angegriffen, wenn gesagt wird, dass ich unmenschlich bin, wenn Vorwürfe der Tierquälerei geäußert werden. Ich bin nach bestem Gewissen mit dem Pferd umgegangen“, sagte Schleu. „Es war schon klar, dass man etwas konsequenter werden muss, aber ich war zu keiner Zeit grob.“
Auch Raisner wies die Beleidigungen und Anschuldigungen zurück. „Im Nachhinein kann man vielleicht sagen, das war zu harsch. Ich weiß, auch dieser Klaps auf den Hintern, der hätte nicht sein müssen, aber der war nicht doll“, sagte sie. „Ich bin weit davon entfernt, Tiere zu quälen. Ich liebe Tiere, ich liebe Pferde, genauso wie Annika. Wir verdreschen unsere Pferde Sie war danach vom Weltverband UIPM von Olympia ausgeschlossen und zuvor bereits vom Deutschen Olympischen Sportbund von ihren Aufgaben in Tokio entbunden worden.
Josef Schummer, den Vorsitzenden für den Bereich Ausbildung im Bayerischen Reit- und Fahrverbande sowie Mitglied der Landeskommission, hätte die Lage in Tokio eigentlich schon frühzeitig entnicht.“ schärft werden müssen. Zumal das Pferd von Schleu schon bei seiner ersten Reiterin Überforderung gezeigt hatte. „Die Jury hätte dieses Pferd, das offensichtlich nicht geeignet war, aus dem Rennen nehFür men müssen“, sagt Schummer und verweist auf die eigene bayerische Meisterschaft im Junioren-Vierkampf nächste Woche. „Wenn ich bei der Vorstellung so ein Pferd sehe, nehme ich das als Richter raus. Eigentlich würde ich das bei einem Olympischen Fünfkampf auch erwarten.“Doch dort entschied ein wohl zuständiger Tierarzt nach dem ersten missglückten Ritt einer Russin, dass Saint Boy weiterhin eingesetzt werden könne. Mit den entsprechenden Folgen für Schleu.
Deshalb könne man laut Josef Schummer durchaus überlegen, „das Reiten im Modernen Fünfkampf aufzugeben“. Bei den fünf Sportarten Pistolenschießen, Degenfechten, Schwimmen, Querfeldeinlauf und Springreiten könne „das Reiten gar nicht in der Qualität durchgeführt werden, wie wir uns das vorstellen, in der Feinabstimmung und Einfühlung. Ich persönlich halte das auch nicht mehr für zeitgemäß“, so Schummer.
Damit liegt er auf einer Linie mit vielen anderen: der Führungsspitze des deutschen Modernen Fünfkampf-Verbands, dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), den Athletinnen und Athleten sowie allen Kritikern und Kritikerinnen – darunter auch prominente Sportlerinnen wie Dressurreiterin Isabell Werth oder die Peking-Olympiasiegerin im Modernen Fünfkampf, Lena Schöneborn. Diese hatte in einem ähnlichen Fiasko ebenfalls beim Reiten 2016 in Rio de Janeiro ihre olympische Medaille verloren. Allein der Weltverband im Modernen Fünfkampf (UIPM) will am Reiten grundsätzlich festhalten.
Die UIPM kündigte in einer Mitteilung am Sonntag lediglich an, das Geschehen beim Reit-Drama um Schleu „einer vollständigen Überprüfung“zu unterziehen und dabei „auch die Bedeutung des Wohlergehens der Pferde und der Sicherheit der Athleten in der gesamten globalen Wettkampfstruktur“zu berücksichtigen. DOSB-Präsident Alfons Hörmann fordert hingegen eine „grundsätzliche Überarbeitung der Frage: Ist ein kurzfristiges Zulosen eines Lebewesens überhaupt verantwortbar, wir reden nicht über ein Sportgerät. Es handelt sich um ein Tier aus Fleisch und Blut. 20 Minuten, um dann in den weltwichtigsten Wettbewerb zu gehen, sind im Grunde eine viel zu kurze Zeit.“
Auch die siebenmalige Olympiasiegerin Werth sagte dazu: „Das ganze System muss geändert werden.“Das Pferd tue ihr leid, betonte die 52-jährige erfolgreichste Reiterin der Welt. Die Tiere seien im Fünfkampf „nur ein Transportmittel“.