Mittelschwaebische Nachrichten
„Wir haben die Pandemie nicht überstanden“
Die Regeln wurden gelockert. FDP und Freie Wähler fordern ein Ende der staatlichen Corona-Maßnahmen. Gleichzeitig steigt die Zahl der Infizierten. Wie Immunologe Prof. Wendtner die Lage auch für die Kinder beurteilt
Herr Professor Wendtner, Sie sind Immunologe und Chefarzt an der München Klinik Schwabing. Wir hören immer wieder, dass auch Geimpfte sich und andere anstecken, dass die Viruslast bei Geimpften sehr hoch sein kann. Wie ist hier die Lage?
Prof. Clemens Wendtner: Geimpfte tragen ein sehr geringes Risiko, an Covid zu erkranken, aber gerade bei der Delta-Variante kann die Viruslast auch bei einer Infektion eines Geimpften in der Tat sehr hoch sein. Es zeigte sich bei Studien, dass die Viruslast bei Delta um den Faktor 300 höher liegen kann im Vergleich zum ursprünglichen Wuhan-Wildtyp des Virus. Entscheidend ist aber, dass die Impfung die Ausbreitung der Viren im ganzen Körper verhindert, sie bietet also einen systemischen Schutz. Das Problem ist jedoch, dass ein Geimpfter, der sich frisch infiziert, im Rachenraum eine sehr hohe Virenzahl haben und diese auch potenziell ausscheiden kann, denn die Impfung wirkt ja nicht mittels Nasen- oder Rachenspray. Für Geimpfte in der Umgebung ist dies kein Problem, aber für Ungeimpfte ist die Gefährdung vor dem Hintergrund von Delta wirklich erheblich; sie tragen ein sehr hohes Risiko zu erkranken. Daher kann ich nur zum Impfen raten.
Stimmt es, dass ich keine Symptome spüren muss, und trotzdem als Geimpfter das Virus weitertragen kann? Wendtner: Ja, das ist möglich. Daher halte ich gerade auch die Maskenpflicht, aber auch die Abstands- und Hygieneregeln nach wie vor gerade in sensiblen Bereichen für so wichtig, wenn beispielsweise die Eltern oder Großeltern in Alten- und Pflegeheimen oder wenn ein Krebspatient in der Klinik besucht wird. Symptomfreiheit und Impfung schließen nicht hundertprozentig aus, dass Sie sich infiziert haben und das Virus weitergeben können. Und das Gegenüber muss nicht der Impfverweigerer sein, sondern auch beispielsweise ein immunsupprimierter Mitmensch, der nicht ausreichend geschützt ist. Wir sollten trotz Impfung sehr aufmerksam bleiben.
Virologe Christian Drosten warnte nun, dass wir mit der niedrigen Impfquote nicht in den Herbst und Winter gehen können. Wie sehen Sie das? Wendtner: Herr Drosten und ich tauschen uns ja regelmäßig aus, wir sind beide im Beratergremium von Bundesgesundheitsminister Spahn. Und wir haben uns von Epidemiologen aus der gesamten Bundesrepublik Daten zeigen lassen, und dabei ist noch einmal sehr klar festgestellt worden, dass wir eine Impfquote von 85 Prozent bei den unter und von über 90 Prozent bei den älteren Menschen zum Aufbau einer Herdenimmunität brauchen. Aktuell liegt die Impfquote insgesamt bei knapp über 60 Prozent. Das heißt, wir haben noch viel Luft nach oben. Und wenn sich hier nichts signifikant in den nächsten Wochen ändert, müssen wir davon ausgehen, dass die vierte Welle jetzt im Herbst noch massiv ansteigen wird und wir wieder viele Covid-Patientinnen und Covid-Patienten in den Kliniken und nicht zuletzt auf den Intensivstationen versorgen müssen. Die vierte Welle wird leider die Ungeimpften mit voller Wucht und mit allen klinischen Konsequenzen treffen; für diese Personengruppe wird es nach derzeitiger Datenlage keinen Schutz durch eine Herdenimmunität geben.
Von einer Entspannung der Lage kann damit nicht gesprochen werden oder? Wendtner: Nun, es wurden ja gewisse Warnsysteme wie die Klinik-Ampel, die die Hospitalisierungsrate zeitnah misst, installiert. Aber es wäre trügerisch zu denken, dass wir die Pandemie bereits hinter uns haben. Wir haben die Pandemie leider noch nicht überstanden, obwohl wir die Werkzeuge, dies zu verhindern – nämlich die Impfung – in der Hand hätten. Und die Warnsysteme geben es her, dass in den Herbst- und Wintermonaten bei einer zunehmenden Belastung der Kliniken Kontaktbeschränkungen und andere Einschränkungen wieder eingeführt werden könnten, was natürlich nicht wünschenswert ist.
Die FDP, aber auch Freie-WählerChef Aiwanger fordern für den 11. Oktober einen Freedom-Day, an dem alle staatlichen Corona-Maßnahmen beendet sind – was halten Sie davon? Wendtner: Aus ärztlicher und wissenschaftlicher Sicht muss man ganz klar erkennen, dass wir weit davon entfernt sind, den Sieg über Corona verkünden zu können. Die Pandemie mit einer deutlichen Belastung der Krankenhäuser wird sich meiner Einschätzung nach über die erste Hälfte des Jahres 2022 erstrecken. Ob es im nächsten Frühjahr wieder besser wird, das müssen wir abwar60-Jährigen ten; in den Herbst- und Wintermonaten dieses Jahres ist damit nach Meinung aller namhaften Experten nicht zu rechnen.
In Altenheimen gibt es schon die dritte Impfung. Sie impfen bereits Krebspatienten in Ihrer Klinik zum dritten Mal. Minister Spahn wollte einen Booster für alle, ist das wirklich nötig? Wendtner: Also die Drittimpfung für alle sehe ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht. Da müssen noch mehr klinische und evidenzbasierte Daten auf den Tisch kommen. In Kürze wird es solche aufbereiteten Daten aus Israel und den USA geben. Die Ständige Impfkommission wird sich auf dieser Datenbasis auch in den nächsten Wochen äußern. Und ich bin auch überzeugt davon, dass grundsätzlich eine Drittimpfung nötig werden wird, ich weiß nur noch nicht, wann genau. Allerdings wird auch diese dann aller Voraussicht nach mit einer Priorisierung erfolgen, das heißt, es wird wieder mit den ältesten und vulnerabelsten Menschen begonnen werden.
Wenn jetzt wieder so rasant die Zahl der Infektionen steigt, wächst dann nicht die Gefahr neuer Varianten? Wendtner: Die Mutationsfreudigkeit des Virus nimmt zu, wenn die Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung durch Infektionen hoch und gleichzeitig der Impfstatus unvollständig ist.
Was bei uns jetzt der Fall ist, oder? Wendtner: Die jetzige Teilimmunisierung durch die zu niedrige Impfquote ist in der Tat ein Nährboden für Mutationen, zumal wir damit rechnen müssen, dass sehr, sehr viele neue Infektionen im Herbst und Winter dazukommen werden. Entscheidend wird sein, ob sich Varianten auch durchsetzen können, das muss man beobachten und ist eine weitere Unwägbarkeit. Nicht jede aufkommende Mutante hat aber das Potenzial, sich durchzusetzen; nach der Alpha-Variante wurden die Beta- und Gamma-Varianten übersprungen, derzeit hat sich die DeltaVariante durchgesetzt. Wir alle hoffen, dass wir mit der Pandemie nicht wieder das griechische Alphabet lernen müssen.
Die Schule beginnt bald wieder – wie sehr sorgen Sie sich um die Gesundheit der Kinder?
Wendtner: Das ist aus meiner Sicht ein ernst zu nehmendes Problem. Vor allem für die Gruppe, für die die Stiko noch keine Impfempfehlung gegeben hat, also für die Kinder unter zwölf Jahren. Hier sind allerdings die Studien bereits gelaufen, und die Daten werden in Kürze vorliegen.
Ist also bald mit einem Impfstoff auch für die Kinder unter zwölf Jahren zu rechnen?
Wendtner: Prinzipiell ja, wobei auch hier wieder gestaffelt nach Altersgruppen geschaut wird, wir sprechen von Kaskadenstudien: Das heißt, es wird noch einmal die Altersgruppe zwischen sechs und zwölf Jahren gesondert ausgewertet und dann die Kinder unter sechs Jahren. Bei Kindern haben wir eine sehr hohe Verantwortung, und wir müssen hier auf Nummer sicher gehen, das heißt, es gilt die Daten wirklich abzuwarten, bevor über die Sicherheit und Effektivität einer Impfung in dieser Altersgruppe entschieden wird.
Das heißt aber auch, dass der Präsenzunterricht gefährlich ist oder? Wendtner: Ein Risiko ist vorhanden, und dieses Risiko, dass sich Kinder infizieren, sollte man auch nicht kleinreden. Zumal die Inzidenz bei Kindern, auch bei Kleinkindern, in Deutschland aktuell in einem hohen dreistelligen Bereich liegt. Der Großteil der Kinder wird aller Voraussicht nach nicht schwer erkranken. Aber – und diese Gefahr ist ernst zu nehmen: Auch bei Kindern kann, selbst wenn sie nicht schwer erkranken, Long-Covid auftreten. Die Long-Covid-Quote wird von Kinderärzten – wir haben hier in München mit Professorin Uta Behrends und der Kinder-Ambulanz ja eine besondere Expertise – im Bereich von vier bis fünf Prozent angesetzt. Das heißt, das kann für Kleinkinder beispielsweise Konzentrationsschwierigkeiten bedeuten, aber auch zu so schweren Problemen führen, dass es zu einer Schulunfähigkeit kommen kann.
Aber am Präsenzunterricht sollte festgehalten werden, oder?
Wendtner: Möglichst ja, weil wir wissen, wie wichtig Präsenzunterricht auch für die psychische Entwicklung der Kinder ist und wie groß die Gefahren und Schäden gerade bei Kindern aus bildungsferneren Schichten sind. Allerdings sind meines Erachtens Tests weiter stringent in den Schulen durchzuführen. Und auch Maskenregelungen sowie zusätzlich Lüftungs- und Filterungstechniken sind wichtige Voraussetzungen, um die Infektionsgefahr für Schüler und Lehrer zu reduzieren.
Interview: Daniela Hungbaur
Prof. Clemens Wendtner, 55, Chefarzt an der Mün chen Klinik Schwabing, be handelte Deutschlands erste CovidPatienten.