Mittelschwaebische Nachrichten
Die Muttershofer Sammlerin, die der „Zeit Zeit lässt“
Sophie Maiers Sammlung von Postkarten, Sterbebildern, Fotos und vielem mehr reicht weit ins 19. Jahrhundert zurück. Sie ist ein Spiegelbild der wechselvollen Geschichte.
Ziemetshausen Die Preise hatten noch eine andere Dimension in diesem Jahr 1902. Ganze 20 Mark zahlt „Frau Weilbach“für ihre „vier Tage Pension“im Juni 1902 im Krumbad. „Bier und Wein“hat sie sich offenbar nicht gegönnt, wie auf der Rechnung für sie vom 22. Juni 1902 nachzulesen ist. Als Sophie Maier den vergilbten, weit über 100 Jahre alten Karton im Postkartenformat auf den Tisch legt, kann man erahnen, in welche Zeiten ihre geradezu gewaltige Sammlung von Karten zurückreicht.
Wie viele Postkarten aus wie viel Jahrzehnten mögen es sein? Sie blickt auf die vielen Alben, die sie aus ihren Schränken geholt hat. „Ich weiß es nicht, aber es sind wohl Tausende von Karten“, schätzt die Muttershoferin.
Die Ränder der Alben sind nach all den Jahrzehnten abgegriffen, doch allein das grüne und braune, dicke Papier, auf dem die Karten befestigt sind, vermittelt eine Art „Schatztruhen-Gefühl“. Unter den Karten befinden sich edle Stücke mit Prägedruck mit dem Wappen des Königreichs Bayern, aber auch Rechnungen, die damals richtig kunstvoll sein konnten, wie etwa „Frau Weilbachs“Krumbad-Rechnung aus dem Jahr 1902. Auf der Vorderseite des Blatts ist eine fein detaillierte Schwarz-Weiß-Darstellung des Krumbads zu sehen.
„Frau Weilbach“? Sophie Maier kann über diesen Namen nichts erzählen, einige der Karten hat sie im Internet ersteigert. Doch sehr viele stammen aus ihrer Familie. Gewissermaßen quer durch Süddeutschland führt ihre Familiengeschichte, Sophie Maier, die in Ziemetshausen aufgewachsen ist, berichtet von Verwandten in Augsburg und München. Viel geschrieben habe man sich in früherer Zeit, erklärt sie. Und ihrer Familie (der „Kern“ist eine Landwirtschaft mit Schreinerei in Uttenhofen) sei es immer wichtig gewesen, all das zu sammeln. Mutter Antonie (1925 bis 1997) war dies ein besonderes Anliegen und irgendwann habe ihre Mutter zu ihr gesagt: „Des hebst du auf.“
Die Postkarten geben auch bemerkenswerte Einblicke in die Familie von Sophie Maier. Im Jahr 1938 schreibt Mutter Antonie ihrer damals 15-jährigen Schwester Mathilde (Hilde) nach Mittelberg im Allgäu. Hilde befindet sich dort in der Lungenheilanstalt, sie hat Heimweh. Nicht wenige Menschen litten damals an Lungenerkrankungen.
Doch „krank“war diese Zeit noch in einer ganz anderen Hinsicht. 1938: Nur noch ein Jahr sollte bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs (1939 bis 1945) vergehen. Die Sammlung von Sophie Maier ist auch ein Spiegelbild dieses schrecklichen Abgrunds. Auf einer Karte aus Nürnberg, datiert vom 5. Januar 1945, stehen die Worte „ausgebombt“, aber auch „Sind am
Leben“. Das Aussehen der Karten hat sich verändert, verschwunden sind die kunstvollen Darstellungen, die Karte aus Nürnberg ist rot umrandet.
Unvermittelt holt Sophie Maier ein kleines, braunes Papiertütchen aus einem ihrer Schränke. Sie habe es von einer ihrer Tanten erhalten, erinnert sie sich. Langsam gleiten ihrer Finger in das Tütchen und holen einen zunächst seltsam wirkenden, kleinen, schwarzen Gegenstand ans Licht. Es ist eine Trillerpfeife. Die Tante hat auf einem Stückchen Papier handschriftlich eine beklemmende Geschichte dazu hinterlassen. Sie erzählt von einem britischen Stirling-Bomber, der 1943 in Brand geschossen wurde und bei dem Dorf Schempach östlich von Dinkelscherben in einen Wald gestürzt ist.
Die Pfeife ist möglicherweise die Pfeife des Bordkommandanten. Was nach dem Absturz im Wald von Schempach passiert ist, man kann es in dieser abgründigen Zeit nur erahnen. Auch der Blick auf die zahllosen Sterbebilder in Sophie Maiers Sammlung lässt diesen Abgrund spüren. Sie blickt auf die Bilder, dann sagt sie: „Da wirst du katholisch.“Der katholische Glaube war und ist für immer ein wichtiger, Halt gebender Wegbegleiter. Die Sterbebilder-Sammlung reicht bis 1859 zurück.
Doch da ist auch der Blick auf die heitere Seite des Lebens. Beispielsweise bei Fotos aus dem Jahr 1972, als Schlagerstar
Roy Black in Ziemetshausen zu Gast war. Auch den bekannten Wallfahrtsort Maria Vesperbild hat Roy Black damals besucht. So ist es keine Überraschung, dass es zwischen der Maria Vesperbilder Wallfahrtsdirektion und Sophie Maier immer wieder intensive Kontakte gab und gibt. In ihrer Sammlung befinden sich auch Fotos etlicher Vesperbilder Wallfahrtsdirektoren. Sophie Maier berichtet von mehreren Gesprächen mit den früheren Vesperbilder Wallfahrtsdirektoren Wilhelm Imkamp und Erwin Reichart.
Sophie Maier, Jahrgang 1955 (geboren am 9. April, es war ein Ostersamstag), die nach wie vor in der von einem ihrer Söhne geleiteten Muttershofer Autowerkstatt wesentliche Büroarbeiten erledigt, war lange bei der Marktgemeinde Ziemetshausen beschäftigt. Sie kennt im Zusamtal gewissermaßen „Gott und die Welt“und gerne hat sie besondere Momente auch selbst mit der Kamera festgehalten.
Oder besondere Fotos gesammelt, darunter etliche Autogrammkarten, die für goldene Zeiten des deutschen Sports stehen, Karten mit den Unterschriften des legendären Fußballers Gerd Müller (1974), von Tennisstar Steffi Graf (1986) oder Gewichtheber Rudolf Mang (nach dem olympischen Silbermedaillengewinn 1972).
Mit Blick auf all das ist es keine Überraschung, dass Sophie Maier auch leidenschaftlich Briefmarken sammelt. „Rund 150 Alben sind es wohl“, schätzt sie. Unter den Marken sind sowohl Exemplare aus Sachsen aus dem Jahr 1875 als auch Exemplare aus Nordkorea aus den 1980er-Jahren. In einem der Alben hat sie Briefmarken aufbewahrt, die aus der französischen Besatzungszone nach dem Zweiten Weltkrieg (1945 bis 1949) stammen.
Zu Frankreich hat sie eine besondere Beziehung, ihr Vater (1927 bis 1995) war in der Gemeinde Pont d’ Ain im französischen Osten nach dem Kriegsende 1945 einige Jahre auf einem Bauernhof in Gefangenschaft, zu den Hofinhabern hat er dann ein geradezu herzliches Verhältnis entwickelt. „Papa, red französisch, haben wir ihn oft gebeten“, erinnert sich Sophie Maier. Ihr Vater Josef Knöpfle war in Ziemetshausen Landwirt und Zimmerer.
Sophie Maier zeigt schließlich auch ihre Hummel-Karten (wohl rund 400). Dazu bündelweise Geldscheine aus der Inflationszeit 1923. „Ich bin Millionärin“, sagt sie lachend.
Ihre geradezu gewaltige Sammlung an Karten, Briefmarken und vielem mehr führt gewissermaßen durch das Auf und Ab des Lebens. Sophie Maier erzählt, dass sie sich oft stundenlang in all das vertieft. Und sie möchte weitersammeln. Sozusagen die Zeit einfach „festhalten“, der „Zeit Zeit lassen“. In unserer regelrecht getriebenen Gegenwart ist das eine bemerkenswerte Botschaft.