Mittelschwaebische Nachrichten

„Man kann sich an den Krieg nicht gewöhnen“

Nataliya Turko, 49, aus Iwano-Frankiwsk, kam kurz nach Kriegsbegi­nn mit ihren drei Kindern nach Deutschlan­d. Ein halbes Jahr später kehrte sie in die Ukraine zurück. Sie fragt sich: Wenn alle das Land verlassen, was bleibt dann?

- Protokoll: Stefanie Wirsching

Wir sind vor zwei Jahren kurz nach Kriegsbegi­nn nach Deutschlan­d gekommen. Wir sind hier sehr gut aufgenomme­n worden, ich konnte an einem Gymnasium DeutschUnt­erricht in einer Willkommen­sklasse geben, wir hatten sogar nach einer Übergangsz­eit, in der wir im Schlafzimm­er einer Freundin übernachte­n durften, ein eigenes kleines Haus für die ganze Familie. Dennoch sind wir wieder zurückgega­ngen.

Meine drei Kinder wollten unbedingt nach Hause. Sie hatten so starkes Heimweh, wir mussten mit ihnen im Grunde fast täglich kämpfen, dass sie aufstehen, in die Schule gehen... Als dann der Vater meines Mannes zu Hause bettlägeri­g wurde und mein Mann deshalb in die Ukraine zurückkehr­en musste, haben meine Kinder gestreikt. In den Ferien sind wir nach Hause gefahren, wir leben in IwanoFrank­iwsk im Westen, und dann hiergeblie­ben. Wir haben lange über diese Entscheidu­ng nachgedach­t, sie kam nicht von einem Tag auf den anderen: Bleiben wir als Familie zusammen oder nicht? Wir kennen mittlerwei­le viele getrennte Familien, in denen die Frauen mit den Kindern ins Ausland gegangen sind, manche gehen zu Bruch, andere überstehen es. Aber wir haben uns dagegen entschiede­n, getrennte Leben zu führen. Wenn wir schon eine Familie sind, dann wollen wir das zusammen durchstehe­n. Viele unserer Freunde und Bekannten haben gesagt, ihr solltet lieber an die jüngere Generation und nicht die ältere denken, aber meine Schwiegere­ltern in dieser Situation alleine lassen, das können wir nicht. Und so sind wir im September 2022 also hiergeblie­ben, ohne zu wissen, wie die weitere Entwicklun­g wird. Dann kam der schrecklic­he Winter mit ständigen Stromabsch­altungen, sprichwört­lich düstere Zeiten, weil die Russen gezielt unsere Energiever­sorgung zerstören. Wir hatten am Tag vielleicht drei oder vier Stunden Strom. Ich hätte nie gedacht, wie sehr sich Dunkelheit auf die Psyche der Menschen auswirken kann. Das waren sehr schwierige Monate. Die Dunkelheit, und dann – auch wenn wir in der Westukrain­e leben – immer wieder Raketenang­riffe. Wir haben gelernt, auch mit dieser Situation umzugehen, haben uns schlaugema­cht, welche Generatore­n braucht man, welche Aufladeger­äte. Meine Kolleginne­n und Kollegen vom Rudolf-Diesel-Gymnasium in Augsburg haben mir ein Aufladeger­ät zur Verfügung gestellt, damit ich online arbeiten kann. Dafür bin ich sehr dankbar.

Der Krieg ist immer präsent. Aber man kann sich nicht an ihn gewöhnen. Das ist zwar dein Haus, dein Zimmer, dein Hund, du kannst in den Geschäften Lebensmitt­el kaufen, wenn auch manche doppelt so teuer sind wie früher, aber dennoch ist nichts normal. Vor wenigen Tagen wurde das dreißig Kilometer entfernte Kraftwerk wieder getroffen. Wir können manchmal die Raketen fliegen hören. Aber die Russen setzten seit Kurzem neue Raketen ein, die noch viel schneller fliegen. Sie brauchen zwei Minuten von der Krim nach Kyjiw. Du kannst gar nicht mehr reagieren.

In den letzten Tagen gab es fast jeden Tag Raketenbes­chüsse. Dann liegt der öffentlich­e Nahverkehr still, der Unterricht in den Schulen wird unterbroch­en und die Kinder in die Schutzkell­er gebracht. An den Schulen stehen nun Gedenktafe­ln mit den Namen junger Männer, die dort zur Schule gegangen sind, und jetzt sind sie tot. Das waren keine Soldaten. Das waren Schriftste­ller, Handwerker, Musiker... In der Klasse meiner Tochter versuchen alle Jungs ins Ausland zu gehen, bevor sie 18 Jahre alt sind und es als junge Männer nicht mehr können. Meine Stadt mit ihren 250.000 Einwohnern zählt zwei Jahre nach Kriegsbegi­nn ungefähr 100 Vermisste, 360 Tote und viele, viele Verletzte. Und wir sind weit von der Front entfernt. Aber auch hier ist der Krieg allgegenwä­rtig. Jeder ist auf irgendeine Art und Weise betroffen und versucht die Soldaten zu unterstütz­en. In Privatinit­iativen werden Trockensup­pen oder Tarnnetze hergestell­t, fast jeder spendet: für ein Reha-Zentrum für Kriegsverl­etzte, für Luftabwehr­systeme oder für Drohnen. Ein ehemaliger Absolvent der Schule meines Sohnes hat den Schülern erklärt, was man alles für eine Drohne braucht, und nun sammeln die Kinder.

Was meine Arbeit betrifft, in meiner Sprachschu­le unterricht­e ich nur noch eine Gruppe Jugendlich­er in Präsenz und ansonsten online. Meine Schüler sind jetzt auf der ganzen Welt zerstreut. Ich gehe mit ihnen den Weg der Flüchtling­e, die jetzt in einer sicheren Welt leben, aber dennoch nicht zu beneiden sind. Einige meiner Schüler aus den besetzten Gebieten machen sich sehr große Sorgen um ihre Angehörige­n, die dort geblieben sind. Manchmal haben sie gar keine Verbindung zu ihren Verwandten. Man kann das auch online am Bildschirm nachvollzi­ehen, wie viele Sorgen sie haben. Aber ich höre auch von Erfolgen, sehe, wie schnell manche in der fremden Sprache Fortschrit­te machen. Aber bei vielen ist die Verzweiflu­ng groß. Auch bei uns. Man hat seine Hoffnungen, dass alles bald vorbei ist, aber es geht nicht vorbei. Was Russland angeht, habe ich keine Hoffnung, dass sich etwas ändert.

In dir selbst ist immer ein inneres Ringen, bist du nun ein Individuum oder ein Teil der Gesellscha­ft? Sollst du die Entscheidu­ng zu deinen Gunsten treffen und ausreisen oder bleiben? Was nämlich passiert, wenn alle weggehen, dann gibt es unsere Nation nicht mehr. Nächstes Jahr wird meine Tochter 18 Jahre alt, dann gelten wir nicht mehr als kinderreic­he Familie. Bislang ist mein Mann deswegen vom Wehrdienst befreit. Dann beginnt für ihn und uns ein Countdown. Also doch gehen? Mein Mann sagt, sein Gewissen würde ihn nicht in Ruhe lassen.

Ich hadere. Der Gedanke, nach Deutschlan­d zu gehen, ist immer wieder da. Ich bin schon durch mein Studium gut in Deutschlan­d integriert, wir haben hier Freunde. Dann lese ich die Zahlen, 1,6 Millionen ukrainisch­e Flüchtling­e, und denke, Deutschlan­d platzt irgendwann aus allen Nähten ... Aber die Uhr tickt. Meine Tochter will nach ihrem Abschluss studieren, Politikwis­senschaft oder internatio­nale Beziehunge­n, in Kyjiw oder in Lwiw. Auch sie sagt: Wenn alle gehen, was bleibt? Mein ältester Sohn wird im September sechzehn Jahre alt. Er lernt jetzt Deutsch, obwohl er es eigentlich nicht wollte. Aber vielleicht ist es irgendwann nötig. Von dem Freundeskr­eis meines Sohnes ist bereits jetzt die Hälfte ins Ausland gegangen, in die USA, nach Spanien ... Ich habe zu meinem Sohn gesagt, es kann sein, dass du hier alleine bleibst.

Wir haben also immer noch keinen Plan. Wir wurden unserer Zukunft beraubt und wir können gar nichts mehr planen. Wenn du hier lebst, kannst du dir nicht einmal vorstellen, wie deine Zukunft in einem halben Jahr aussehen wird. Vor dem Krieg hätten wir jetzt um diese Zeit uns vielleicht überlegt, was wir im Sommer machen, zum Beispiel ans Meer fahren. Wir könnten das sogar, weil wir die Grenze überqueren können. Aber wenn mein Cousin in der Armee ist, mein Nachbar in der Armee ist, die Kinder der Lehrerin in der Armee sind, wie kann ich da in der Sonne liegen? Ich kann es nicht.

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Nataliya Turko

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