Mittelschwaebische Nachrichten
„Man kann sich an den Krieg nicht gewöhnen“
Nataliya Turko, 49, aus Iwano-Frankiwsk, kam kurz nach Kriegsbeginn mit ihren drei Kindern nach Deutschland. Ein halbes Jahr später kehrte sie in die Ukraine zurück. Sie fragt sich: Wenn alle das Land verlassen, was bleibt dann?
Wir sind vor zwei Jahren kurz nach Kriegsbeginn nach Deutschland gekommen. Wir sind hier sehr gut aufgenommen worden, ich konnte an einem Gymnasium DeutschUnterricht in einer Willkommensklasse geben, wir hatten sogar nach einer Übergangszeit, in der wir im Schlafzimmer einer Freundin übernachten durften, ein eigenes kleines Haus für die ganze Familie. Dennoch sind wir wieder zurückgegangen.
Meine drei Kinder wollten unbedingt nach Hause. Sie hatten so starkes Heimweh, wir mussten mit ihnen im Grunde fast täglich kämpfen, dass sie aufstehen, in die Schule gehen... Als dann der Vater meines Mannes zu Hause bettlägerig wurde und mein Mann deshalb in die Ukraine zurückkehren musste, haben meine Kinder gestreikt. In den Ferien sind wir nach Hause gefahren, wir leben in IwanoFrankiwsk im Westen, und dann hiergeblieben. Wir haben lange über diese Entscheidung nachgedacht, sie kam nicht von einem Tag auf den anderen: Bleiben wir als Familie zusammen oder nicht? Wir kennen mittlerweile viele getrennte Familien, in denen die Frauen mit den Kindern ins Ausland gegangen sind, manche gehen zu Bruch, andere überstehen es. Aber wir haben uns dagegen entschieden, getrennte Leben zu führen. Wenn wir schon eine Familie sind, dann wollen wir das zusammen durchstehen. Viele unserer Freunde und Bekannten haben gesagt, ihr solltet lieber an die jüngere Generation und nicht die ältere denken, aber meine Schwiegereltern in dieser Situation alleine lassen, das können wir nicht. Und so sind wir im September 2022 also hiergeblieben, ohne zu wissen, wie die weitere Entwicklung wird. Dann kam der schreckliche Winter mit ständigen Stromabschaltungen, sprichwörtlich düstere Zeiten, weil die Russen gezielt unsere Energieversorgung zerstören. Wir hatten am Tag vielleicht drei oder vier Stunden Strom. Ich hätte nie gedacht, wie sehr sich Dunkelheit auf die Psyche der Menschen auswirken kann. Das waren sehr schwierige Monate. Die Dunkelheit, und dann – auch wenn wir in der Westukraine leben – immer wieder Raketenangriffe. Wir haben gelernt, auch mit dieser Situation umzugehen, haben uns schlaugemacht, welche Generatoren braucht man, welche Aufladegeräte. Meine Kolleginnen und Kollegen vom Rudolf-Diesel-Gymnasium in Augsburg haben mir ein Aufladegerät zur Verfügung gestellt, damit ich online arbeiten kann. Dafür bin ich sehr dankbar.
Der Krieg ist immer präsent. Aber man kann sich nicht an ihn gewöhnen. Das ist zwar dein Haus, dein Zimmer, dein Hund, du kannst in den Geschäften Lebensmittel kaufen, wenn auch manche doppelt so teuer sind wie früher, aber dennoch ist nichts normal. Vor wenigen Tagen wurde das dreißig Kilometer entfernte Kraftwerk wieder getroffen. Wir können manchmal die Raketen fliegen hören. Aber die Russen setzten seit Kurzem neue Raketen ein, die noch viel schneller fliegen. Sie brauchen zwei Minuten von der Krim nach Kyjiw. Du kannst gar nicht mehr reagieren.
In den letzten Tagen gab es fast jeden Tag Raketenbeschüsse. Dann liegt der öffentliche Nahverkehr still, der Unterricht in den Schulen wird unterbrochen und die Kinder in die Schutzkeller gebracht. An den Schulen stehen nun Gedenktafeln mit den Namen junger Männer, die dort zur Schule gegangen sind, und jetzt sind sie tot. Das waren keine Soldaten. Das waren Schriftsteller, Handwerker, Musiker... In der Klasse meiner Tochter versuchen alle Jungs ins Ausland zu gehen, bevor sie 18 Jahre alt sind und es als junge Männer nicht mehr können. Meine Stadt mit ihren 250.000 Einwohnern zählt zwei Jahre nach Kriegsbeginn ungefähr 100 Vermisste, 360 Tote und viele, viele Verletzte. Und wir sind weit von der Front entfernt. Aber auch hier ist der Krieg allgegenwärtig. Jeder ist auf irgendeine Art und Weise betroffen und versucht die Soldaten zu unterstützen. In Privatinitiativen werden Trockensuppen oder Tarnnetze hergestellt, fast jeder spendet: für ein Reha-Zentrum für Kriegsverletzte, für Luftabwehrsysteme oder für Drohnen. Ein ehemaliger Absolvent der Schule meines Sohnes hat den Schülern erklärt, was man alles für eine Drohne braucht, und nun sammeln die Kinder.
Was meine Arbeit betrifft, in meiner Sprachschule unterrichte ich nur noch eine Gruppe Jugendlicher in Präsenz und ansonsten online. Meine Schüler sind jetzt auf der ganzen Welt zerstreut. Ich gehe mit ihnen den Weg der Flüchtlinge, die jetzt in einer sicheren Welt leben, aber dennoch nicht zu beneiden sind. Einige meiner Schüler aus den besetzten Gebieten machen sich sehr große Sorgen um ihre Angehörigen, die dort geblieben sind. Manchmal haben sie gar keine Verbindung zu ihren Verwandten. Man kann das auch online am Bildschirm nachvollziehen, wie viele Sorgen sie haben. Aber ich höre auch von Erfolgen, sehe, wie schnell manche in der fremden Sprache Fortschritte machen. Aber bei vielen ist die Verzweiflung groß. Auch bei uns. Man hat seine Hoffnungen, dass alles bald vorbei ist, aber es geht nicht vorbei. Was Russland angeht, habe ich keine Hoffnung, dass sich etwas ändert.
In dir selbst ist immer ein inneres Ringen, bist du nun ein Individuum oder ein Teil der Gesellschaft? Sollst du die Entscheidung zu deinen Gunsten treffen und ausreisen oder bleiben? Was nämlich passiert, wenn alle weggehen, dann gibt es unsere Nation nicht mehr. Nächstes Jahr wird meine Tochter 18 Jahre alt, dann gelten wir nicht mehr als kinderreiche Familie. Bislang ist mein Mann deswegen vom Wehrdienst befreit. Dann beginnt für ihn und uns ein Countdown. Also doch gehen? Mein Mann sagt, sein Gewissen würde ihn nicht in Ruhe lassen.
Ich hadere. Der Gedanke, nach Deutschland zu gehen, ist immer wieder da. Ich bin schon durch mein Studium gut in Deutschland integriert, wir haben hier Freunde. Dann lese ich die Zahlen, 1,6 Millionen ukrainische Flüchtlinge, und denke, Deutschland platzt irgendwann aus allen Nähten ... Aber die Uhr tickt. Meine Tochter will nach ihrem Abschluss studieren, Politikwissenschaft oder internationale Beziehungen, in Kyjiw oder in Lwiw. Auch sie sagt: Wenn alle gehen, was bleibt? Mein ältester Sohn wird im September sechzehn Jahre alt. Er lernt jetzt Deutsch, obwohl er es eigentlich nicht wollte. Aber vielleicht ist es irgendwann nötig. Von dem Freundeskreis meines Sohnes ist bereits jetzt die Hälfte ins Ausland gegangen, in die USA, nach Spanien ... Ich habe zu meinem Sohn gesagt, es kann sein, dass du hier alleine bleibst.
Wir haben also immer noch keinen Plan. Wir wurden unserer Zukunft beraubt und wir können gar nichts mehr planen. Wenn du hier lebst, kannst du dir nicht einmal vorstellen, wie deine Zukunft in einem halben Jahr aussehen wird. Vor dem Krieg hätten wir jetzt um diese Zeit uns vielleicht überlegt, was wir im Sommer machen, zum Beispiel ans Meer fahren. Wir könnten das sogar, weil wir die Grenze überqueren können. Aber wenn mein Cousin in der Armee ist, mein Nachbar in der Armee ist, die Kinder der Lehrerin in der Armee sind, wie kann ich da in der Sonne liegen? Ich kann es nicht.