Mittelschwaebische Nachrichten
Selbst verschuldete Unmündigkeit
Bayern 2 hat eine Reform verpasst bekommen. Ziel sei die „Stärkung der Kultur“. Wenn dem so wäre, warum wurde dann „Jazz & Politik“abgesetzt? Nachruf auf das wohl beste politische Feuilleton, das es zu hören gab.
Es gibt heutzutage viel künstliche Intelligenz, auch noch natürliche Dummheit, und es gibt die sogenannte Reform der Kulturwelle Bayern 2. Die Verlautbarung von Björn Wilhelm, sogenannter Programmdirektor Kultur des Bayerischen Rundfunks, dazu liest sich jedenfalls, als habe ChatGPT sie gecodet. Das darin mit viel Marketing-Sprech angepriesene neue BR-2-Programm ist gedankenloser, als es der GEZ-Zahler gestatten sollte. Was sich allein schon dadurch begründet, dass es die Sendung „Jazz&Politik“nun nicht mehr gibt. Das wohl beste politische Feuilleton, das es im Freistaat (und weit darüber hinaus) in den letzten rund 20 Jahren zu hören gab – abgesetzt. Was Wilhelm (oder wer in der postenreichen BR-Landschaft sonst dafür verantwortlich zeichnet) samstags so ab 17.05 Uhr erledigt hat, bleibt seine Angelegenheit. Allzu oft aber kann er Moderator Lukas Hammerstein, dessen Autoren und den von Musikredakteur Roland Spiegel sorgfältig ausgewählten Jazzstücken nicht zugehört haben, denn sonst gäbe es diese Sendung noch.
Ein Zeichen der Zeit ist doch: Je unübersichtlicher es wird, je schriller die Debatte, je kürzer die Posts, desto wichtiger sind Formate, die ausholen, ausführlich argumentieren, andere Meinungen gelten lassen, sind Texte, die zweifeln, wägen, unfertige (aber differenziert geäußerte) Meinungen akzeptieren, die dem Grau verpflichtet bleiben. Kluge (nicht nur angesagte) politische Autoren und Philosophen kamen hier Woche für Woche zu Wort, wurden eben nicht nur zitiert, sondern in ausführliche Passagen verlesen.
Der Sound (für jene, die viel verpasst haben) war im Titel zum Beispiel so: „Politisches Feuilleton – ist das nicht ein Witz? Eine contradictio in adiecto? Ein radikaler Widerspruch? Aber ja: radikal! Und Widerspruch! Und jähes Einverständnis, das schon auch einmal.“Oder zwei ... Und diese Titel hielten, was sie versprachen. Als schon längst klar war, dass es vorbei sein würde, mit der Sendung, reflektierten Hammerstein & Co die „Unschärferelationen“ihres Tuns in drei famosen Folgen. In der Zweiten ging es um die „Ausweitung des Politischen“. Darin enthalten nicht nur eine Würdigung der im besten Sinne bodenständigen Lokalpolitik, eine Analyse der politischen Macht von Taylor Swift, sondern etwa auch eine Passage aus dem Werk („Zukunft – eine Bedienungsanleitung“) der deutsch-französischen Politikwissenschaftlerin Florence Gaub. Sie schreibt (und wir zitieren hier im besten „Jazz&Politik“-Style lang): „Nicht Zukunftsvorausschau ist Pflichtfach in der Schule, sondern Geschichte. Auch an den Universitäten sieht es nicht besser aus. Es wird grundsätzlich mehr Können gelehrt als Denken, und das Denken, das gelehrt wird, ist konvergent. Fächer wie Kunst, Literatur, Philosophie oder Nichtstun würden die für die Zukunftsfähigkeit wichtige Vorstellungskraft fördern, werden aber meist als zweitklassig, da nutzlos auf dem Arbeitsmarkt, angesehen. Die meisten unserer Religionen sind rückwärtsgewandt, predigen eine Rückkehr in ein verlorenes Paradies, nicht eine bessere Zukunft. Und natürlich fördert das 21. Jahrhundert mit seiner Sucht nach dem Unmittelbaren – Tweets, Quartalsberichte, Wahlzyklen – die Kurzfristigkeit und neigt dazu, der Zukunft die Probleme der Gegenwart aufzuhalsen.“
Was aber wäre besser geeignet, sich für diese Zukunft zu wappnen, als eine gute Stunde des Nebenbei-Mediums Radio, als eine Sendung, die das Denken lehrt oder doch zumindest dazu anregt (während man das Rennrad putzt, Gemüse schnippelt oder die Märzhagelkörner auf der Fensterbank zählt)? Oder eben nichts tut? Was wäre wichtiger als ein öffentlichrechtlicher Rundfunk, der seinen jungen Hörerinnen und Hörern, den „neuen digitalen Zielgruppen“, etwas zutraut? Der reichweitenstark und immer noch sehr üppig finanziert viel mehr für die Debattenkultur und damit den Erhalt der Demokratie tun kann und sollte als der Rest der verklickten Branche?
Der letzte Beitrag, nach gut zwei Jahrzehnten, war ein Essay von Christian Schüle. Titel: „Aufklärung? Hier wird nichts mehr flachgelegt. Ein Essay auf Stelzen“. Ein treffsicheres, pointiert formuliertes Vermächtnis. Kann und sollte man in der ARD-Audiothek nachhören.
Heute Abend dann folgt um 17.05 Uhr erstmalig „Der politische Podcast“, wie das neue Format nun heißt. Jeder hat seine Chance verdient, ganz im Ernst. Aber um die Frequenz von „Jazz & Politik“reinzubekommen, wird es ein sehr feines Händchen brauchen.