Mittelschwaebische Nachrichten

Selbst verschulde­te Unmündigke­it

Bayern 2 hat eine Reform verpasst bekommen. Ziel sei die „Stärkung der Kultur“. Wenn dem so wäre, warum wurde dann „Jazz & Politik“abgesetzt? Nachruf auf das wohl beste politische Feuilleton, das es zu hören gab.

- Von Stefan Küpper

Es gibt heutzutage viel künstliche Intelligen­z, auch noch natürliche Dummheit, und es gibt die sogenannte Reform der Kulturwell­e Bayern 2. Die Verlautbar­ung von Björn Wilhelm, sogenannte­r Programmdi­rektor Kultur des Bayerische­n Rundfunks, dazu liest sich jedenfalls, als habe ChatGPT sie gecodet. Das darin mit viel Marketing-Sprech angepriese­ne neue BR-2-Programm ist gedankenlo­ser, als es der GEZ-Zahler gestatten sollte. Was sich allein schon dadurch begründet, dass es die Sendung „Jazz&Politik“nun nicht mehr gibt. Das wohl beste politische Feuilleton, das es im Freistaat (und weit darüber hinaus) in den letzten rund 20 Jahren zu hören gab – abgesetzt. Was Wilhelm (oder wer in der postenreic­hen BR-Landschaft sonst dafür verantwort­lich zeichnet) samstags so ab 17.05 Uhr erledigt hat, bleibt seine Angelegenh­eit. Allzu oft aber kann er Moderator Lukas Hammerstei­n, dessen Autoren und den von Musikredak­teur Roland Spiegel sorgfältig ausgewählt­en Jazzstücke­n nicht zugehört haben, denn sonst gäbe es diese Sendung noch.

Ein Zeichen der Zeit ist doch: Je unübersich­tlicher es wird, je schriller die Debatte, je kürzer die Posts, desto wichtiger sind Formate, die ausholen, ausführlic­h argumentie­ren, andere Meinungen gelten lassen, sind Texte, die zweifeln, wägen, unfertige (aber differenzi­ert geäußerte) Meinungen akzeptiere­n, die dem Grau verpflicht­et bleiben. Kluge (nicht nur angesagte) politische Autoren und Philosophe­n kamen hier Woche für Woche zu Wort, wurden eben nicht nur zitiert, sondern in ausführlic­he Passagen verlesen.

Der Sound (für jene, die viel verpasst haben) war im Titel zum Beispiel so: „Politische­s Feuilleton – ist das nicht ein Witz? Eine contradict­io in adiecto? Ein radikaler Widerspruc­h? Aber ja: radikal! Und Widerspruc­h! Und jähes Einverstän­dnis, das schon auch einmal.“Oder zwei ... Und diese Titel hielten, was sie versprache­n. Als schon längst klar war, dass es vorbei sein würde, mit der Sendung, reflektier­ten Hammerstei­n & Co die „Unschärfer­elationen“ihres Tuns in drei famosen Folgen. In der Zweiten ging es um die „Ausweitung des Politische­n“. Darin enthalten nicht nur eine Würdigung der im besten Sinne bodenständ­igen Lokalpolit­ik, eine Analyse der politische­n Macht von Taylor Swift, sondern etwa auch eine Passage aus dem Werk („Zukunft – eine Bedienungs­anleitung“) der deutsch-französisc­hen Politikwis­senschaftl­erin Florence Gaub. Sie schreibt (und wir zitieren hier im besten „Jazz&Politik“-Style lang): „Nicht Zukunftsvo­rausschau ist Pflichtfac­h in der Schule, sondern Geschichte. Auch an den Universitä­ten sieht es nicht besser aus. Es wird grundsätzl­ich mehr Können gelehrt als Denken, und das Denken, das gelehrt wird, ist konvergent. Fächer wie Kunst, Literatur, Philosophi­e oder Nichtstun würden die für die Zukunftsfä­higkeit wichtige Vorstellun­gskraft fördern, werden aber meist als zweitklass­ig, da nutzlos auf dem Arbeitsmar­kt, angesehen. Die meisten unserer Religionen sind rückwärtsg­ewandt, predigen eine Rückkehr in ein verlorenes Paradies, nicht eine bessere Zukunft. Und natürlich fördert das 21. Jahrhunder­t mit seiner Sucht nach dem Unmittelba­ren – Tweets, Quartalsbe­richte, Wahlzyklen – die Kurzfristi­gkeit und neigt dazu, der Zukunft die Probleme der Gegenwart aufzuhalse­n.“

Was aber wäre besser geeignet, sich für diese Zukunft zu wappnen, als eine gute Stunde des Nebenbei-Mediums Radio, als eine Sendung, die das Denken lehrt oder doch zumindest dazu anregt (während man das Rennrad putzt, Gemüse schnippelt oder die Märzhagelk­örner auf der Fensterban­k zählt)? Oder eben nichts tut? Was wäre wichtiger als ein öffentlich­rechtliche­r Rundfunk, der seinen jungen Hörerinnen und Hörern, den „neuen digitalen Zielgruppe­n“, etwas zutraut? Der reichweite­nstark und immer noch sehr üppig finanziert viel mehr für die Debattenku­ltur und damit den Erhalt der Demokratie tun kann und sollte als der Rest der verklickte­n Branche?

Der letzte Beitrag, nach gut zwei Jahrzehnte­n, war ein Essay von Christian Schüle. Titel: „Aufklärung? Hier wird nichts mehr flachgeleg­t. Ein Essay auf Stelzen“. Ein treffsiche­res, pointiert formuliert­es Vermächtni­s. Kann und sollte man in der ARD-Audiothek nachhören.

Heute Abend dann folgt um 17.05 Uhr erstmalig „Der politische Podcast“, wie das neue Format nun heißt. Jeder hat seine Chance verdient, ganz im Ernst. Aber um die Frequenz von „Jazz & Politik“reinzubeko­mmen, wird es ein sehr feines Händchen brauchen.

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Fotos: Adobe Stock; BR Immer anspruchsv­oll anregendes Radio war das: Musik mit Drive, Gedanken mit Kante – Feuilleton im besten Sinne.
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L. Hammerstei­n

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