Mittelschwaebische Nachrichten
Serien erst nach dem Hype schauen?
ProGehypte Serien sind eine tickende Zeitbombe. Bei Serien in der Größenordnung von „Game of Thrones“, „Succession“und was es nicht alles gibt, lauert über lange Zeit hinweg an jeder Ecke ein Spoiler. Die neueste Folge muss schließlich diskutiert werden. Online, unter Freunden, am Nebentisch im Café ...
Da ist es nur klug, einfach erst mal von nichts eine Ahnung zu haben. Wer die Namen der Seriencharaktere nicht kennt, interessiert sich nicht dafür, dass diese eine, unglaublich wichtige Person in Staffel 5, Episode 3, überraschend ablebt. Während die Hype-Fans den Lieblingscharakteren hinterhertrauern und über die neueste Entwicklung der Handlung grübeln, lehnen sich die Geduldigen zurück und vergessen in der Zwischenzeit, was passiert sein soll. Ist der Hype abgeflacht, schlurfen sie dann in aller Seelenruhe zum Sofa und können die Serie „bingewatchen“. Kein Warten auf die nächste Folge und, besonders reizend: kein Cliffhanger!
Das bietet ganz neue Möglichkeiten und Perspektiven auf das cineastische Meisterwerk. Die Serie ist viel mehr das eigene Ding, ein bisschen privater, ein bisschen entspannter und immer noch genauso spannend. Ein Tipp: Gerne mit einer Person schauen, die die Serie schon kennt, der man aber genug vertraut, dass auch nicht der kleinste Spoiler deren Lippen verlässt. Denn auch der erneute, ruhigere Blick auf die Serie hat seinen Reiz.
So kann man durch die Stadt laufen, ohne sich bei jedem „Hast-du-schon-Gesehen“panisch die Ohren zuzuhalten. Den Hype abzuwarten kann übrigens ganze Freundschaften retten. Denn im Eifer des Gefechts wird gerne auch mal der beste Freund zum Verräter – nicht nur in der Serie, sondern auch im wahren Leben.
Contra
Es gibt zwei Typen unter den Serienjunkies: „Hastdu-schon-gesehen?“-Trendsetter und „Lieber-Schnee-von-gestern!“-Trendverweigerer. Aber so glamourös, so lässig desinteressiert diese Anti-Haltung auch anmutet, nicht jedem Netflix-Hype hinterherzuhechten, sich wie ein Widerstandskämpfer an der Fernbedienung gegen den Streaming-Kapitalismus zu wehren und lieber jetzt erst Staffel 1 der „Lindenstraße“zu gucken – man verpasst dabei doch den halben Spaß. Nämlich den Moment, in dem Popkultur geboren wird.
Serien-Spaß entwickelt sich erst so richtig schön im Miteinander, beim KollegenPlausch in der Kantine, beim Gemunkel unter Freunden: Schon die neue Folge „Real
Housewives of Salt Lake City“gesehen? Wahnsinn, in der nächsten knallt es! So entsteht wahre Spannung beim wilden Spekulieren zwischen Staffel 2 und 3 von „Bridgerton“, in der heißen Erwartung der neuen „Star Wars“-Serie, also: im Wimpernschlag der Gegenwart. Ist es nicht der größte Nervenkitzel, bei einem Cliffhanger selbst mit an der Klippe zu hängen, zu warten, zu bibbern – bevor alles schon auserzählt, gespoilert und Serien-Geschichte ist? In diesem Moment liegt auch Macht: Im Netz wird heute in Echtzeit über Figuren und Plots debattiert, und mit jedem Aufschrei, jedem Hype und jedem StreamingKlick wird per Fan-Votum mitentschieden, ob und wie eine Serie verlängert wird.
Ja, es ist fein, dass man im Streaming die Zeit zurückspulen kann: Bei RTL+ ist sogar wieder der alte Schinken „Dallas“im Angebot, das hat Charme – und verraten Sie jetzt bitte nicht, wer JR erschossen hat! Aber warum warten, wenn eine neue Serie neue Schnappatmung verspricht? Wer zu spät guckt, den bestraft Netflix.