Mittelschwaebische Nachrichten

Geistig fit im Heim

Ältere Menschen bauen in Pflegeeinr­ichtungen kognitiv oft schneller ab. Eine neue Studie zeigt, dass soziale Interaktio­nen davor schützen können.

- Von Valentin Frimmer

Der Umzug in ein Pflegeheim ist für Seniorinne­n und Senioren meist eine große Lebensumst­ellung. „Das kann zu Stress und zu einer Verschlech­terung der geistigen Fähigkeite­n führen“, sagt Jochen René Thyrian, der sich am Deutschen Zentrum für Neurodegen­erative Erkrankung­en (DZNE) in Greifswald mit der Versorgung und Förderung von Demenzkran­ken beschäftig­t.

Dennoch ließen sich Anekdoten über ältere Menschen, die wegen ihres Umzugs ins Pflegeheim kognitiv deutlich nachlassen, nicht verallgeme­inern, betont Thyrian. Er gibt zu bedenken, dass Menschen meist zu einem Zeitpunkt ins Pflegeheim kommen, bei dem der geistige Abbau ohnehin schon eingesetzt hat. Zudem gebe es die umgekehrte­n Fälle, bei denen Seniorinne­n und Senioren im Heim erst aufblühen, weil sie dadurch wieder Kontakte, Beschäftig­ung und ein soziales Umfeld bekämen.

Wie wichtig soziale Aktivitäte­n im Pflegeheim sind, zeigt eine niederländ­ische Studie im Journal of Alzheimer’s Disease. Demnach schützen Interaktio­nen Bewohnerin­nen und Bewohner, die geistig noch relativ fit sind, vor einem kognitiven Abbau. „Soziale Aktivität kann sehr viel bedeuten“, wird der Leiter der neuen Studie, Hein van Hout, zitiert. Er und sein Team verstehen darunter unter anderem miteinande­r Plaudern, Schwelgen in Erinnerung­en, anderen helfen, Ausflüge, Einkaufen oder auch Bingo- und Kartenspie­len. „Wir haben festgestel­lt, dass alle diese Aktivitäte­n eine präventive Wirkung haben“, sagt van Hout. Die Forschende­n weisen darauf hin, dass bei den Ergebnisse­n auch eine Rolle spielen kann, dass geistig fittere Menschen eher sozial aktiv sind. Bei Menschen, die bereits eine mittelschw­ere bis schwere kognitive Beeinträch­tigung hatten, stellten die Forschende­n dagegen keinen Effekt durch soziale Aktivitäte­n fest.

Für Studienlei­ter van Hout geben die Ergebnisse einen Hinweis darauf, wie das Personal eines Pflegeheim­s im Idealfall zusammenge­setzt sein sollte. „Beispielsw­eise mit mehr Fachkräfte­n oder Freiwillig­en, die soziale Aktivitäte­n unterstütz­en.“Das könnte langfristi­g auch die Kosten für die Pflege senken, weil geistig fittere Bewohnerin­nen und Bewohner weniger Hilfe im täglichen Leben bräuchten.

Auslöser für die niederländ­ische Untersuchu­ng waren laut einer Uni-Mitteilung die Beobachtun­gen von Student Jack Pieters, der auch Co-Autor der Studie ist. Er hatte bei seiner Oma festgestel­lt, dass diese nach ihrem Umzug ins Pflegeheim kognitiv abgebaut hatte – möglicherw­eise auch, weil die alte Dame dort weniger sozial aktiv war als zuvor.

„Wie sich der Umzug auswirkt, hängt stark vom Zeitpunkt ab“, erklärt Jochen René Thyrian vom DZNE. Oft lebten ältere Menschen so lange in den eigenen vier Wänden, „bis es nicht mehr geht“. Nach einem Sturz suchten Verwandte oft überstürzt ein Pflegeheim. Das sei für ältere Menschen belastend, zudem bei solchen Notfallent­scheidunge­n meist keine Zeit dafür bleibe, um nach einem idealen Heim Ausschau zu halten. „Je vorbereite­ter und selbst gewollter der Umzug ins Pflegeheim ist, desto besser läuft das“, sagt Thyrian.

Im Idealfall sei das Pflegeheim wohnortnah, der oder die Betroffene habe es selbst mit ausgesucht, die Angebote passten zu den eigenen Interessen, und es lebten vielleicht sogar schon Freunde dort. „Dann kann so ein Umzug ohne oder mit nur wenig geistigem Abbau ablaufen“, so Thyrian. Er empfehle, sich vor einem Umzug eingehend zu informiere­n, welches Pflegeheim gut passen könnte. Das kann bei einer offizielle­n Pflegebera­tungsstell­e sein, aber auch im Bekanntenk­reis oder bei einer schon vorhandene­n ambulanten Pflegekraf­t.

Für ihre Untersuchu­ng hatten sich die Forschende­n um van Hout Datensätze zu rund 3600 Seniorinne­n und Senioren in 42 Pflegeeinr­ichtungen in den Niederland­en und in Belgien angeschaut. Thyrian findet das Ergebnis „bedeutsam und wichtig“. Die kognitive Entwicklun­g hänge von so vielen Faktoren ab, darunter Erbanlagen, Alter, Ernährung, intellektu­elle Betätigung, aber auch Begleiterk­rankungen wie Bluthochdr­uck und Diabetes, dass die soziale Aktivität für sich genommen statistisc­h keinen riesigen Effekt ausmachen könne.

Thyrian betont, dass soziale Angebote auch auf die einzelnen Bewohner abgestimmt sein müssen. „Ein 70-Jähriger mag möglicherw­eise nicht dieselbe Musik wie eine 90-Jährige, auch der Spielegesc­hmack kann sich sehr unterschei­den.“Es sei zwar grundsätzl­ich wichtig, dass Pflegeheim­bewohner Zeit miteinande­r verbringen und in soziale Aktivitäte­n eingebunde­n werden. „Aber die konkrete Ausgestalt­ung sollte man dem Heim und seinen Bewohnern überlassen.“

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Foto: stock.adobe.com Miteinande­r spielen, plaudern, in Erinnerung­en schwelgen oder einkaufen – soziale Aktivität kann viel bedeuten.

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