Mittelschwaebische Nachrichten
„Die Ursberger Kirche ist für mich ein ganz besonderer Ort“
Theo Waigel blickt zu seinem 85. Geburtstags zurück auf seine Kindheit und Jugend. Was ihn mit der Geschichte Ursbergs verbindet und was ein „Lebensbaum“für ihn bedeutet.
Die Ouvertüre unseres Gesprächs ist ein Gang durch Dr. Theo Waigels Garten in Oberrohr. Er blickt auf die Bäume, die um diese Jahreszeit ihre ganze Blütenpracht entfalten. Herr Dr. Waigel, was bedeutet für Sie dieser Garten?
Theo Waigel: Schauen Sie sich diesen Pflaumenbaum an. Er ist über 100 Jahre alt, wir mussten schon einige Stützen für seinen Stamm anbringen, aber er steht noch, er blüht heuer wieder. Als Bub bin ich auf diesen Baum gestiegen, um Pflaumen zu pflücken, ist er mein Lebensbaum. Dieser naturbelassene Garten ist das Spiegelbild unserer Familiengeschichte, mein Großvater und mein Vater haben hier Bäume gefördert, die nicht gefällt werden.
Auch in Ihrem Haus gibt es viele Dinge, die Ihr Leben gewissermaßen erzählen. Auf einem sehr alt aussehenden schwarzen Rad ist der Schriftzug Diamant zu lesen. Das ist ein Radhersteller aus Chemnitz. Lange wurden Diamant-Räder hinter dem „Eisernen Vorhang“in der DDR produziert. Wie kommt dieses Rad in Ihr Haus?
Waigel: Mein Bruder, der 1944 in der Endphase des Krieges gefallen ist, war mit einem Diamant-Rad unterwegs. Mit diesem Fahrrad bin ich in den 1950er-Jahren im Sommer von Oberrohr nach Krumbach in die Oberschule geradelt. Auch über den Edenhauser Berg, das waren damals auf der alten B 300 noch 13 Prozent Steigung. Das Rad haben wir nicht mehr. Aber als ich 1991 im Rahmen meiner Tätigkeit als Bundesfinanzminister in Chemnitz zu tun hatte, habe ich spontan die Diamant-Werke besucht. Der Inhaber hat mich zunächst mit einem mürrischen Gesichtsausdruck empfangen.
Der Gedanke womöglich, er müsste Steuern nachzahlen …
Waigel: Ja, vielleicht. Aber es hat sich dann schnell ein sehr angenehmes Gespräch entwickelt. Er hat schließlich eine kleine Serie mit 500 Rädern produziert, die den alten Rädern mit dem unverwechselbaren geschwungenen Diamant-Lenker nachempfunden sind und mit dem Schriftzug „Theo Waigel“versehen sind. Eines dieser besonderen Räder steht bei mir zu Hause.
Sie waren mit dem Rad in Ihrer Schulzeit oft zwischen Oberrohr und Krumbach unterwegs. Wie haben Sie dies damals empfunden?
Waigel: Mit dem Rad über etliche Kilometer hinweg in der Schule oder in der Arbeit, das war damals einfach der Alltag. Die Regenkleidung war unzureichend. Man saß dann halt schon einmal nass und gefroren im Unterricht. Eine Radfahrt nach Krumbach im Jahr 1955 ist mir bis heute sehr intensiv im Gedächtnis geblieben.
Was war das Besondere dieser Fahrt?
Waigel: Es war die Beerdigung des damaligen Landrats und Bauernpräsidenten Fridolin
Rothermel im Oktober 1955. Er war nach einem Verkehrsunfall in Frankreich verstorben, die Beerdigung fand in Ursberg statt. Hochrangige Gäste aus Bundesund Landespolitik, darunter auch Franz Josef Strauß, waren gekommen. Ich war damals Schüler in der Krumbacher Oberschule und wollte unbedingt bei diesem so bedeutenden Ereignis dabei sein. So bin ich morgens vor der Beerdigung noch nach Krumbach geradelt und habe den Schuldirektor um Erlaubnis gefragt, die er mir gerne erteilt hat.
Was bedeutet die Ursberger Kirche für Sie?
Waigel: In ihr wurde ich getauft, empfing die erste Kommunion, war Ministrant. Ab dem 14. Lebensjahr durfte ich in den Gottesdiensten die Empore aufsuchen. Mein Platz war links oben im zweiten „Loch“, wie wir es nannten. Von dort konnte ich die Rothermel-Beerdigung genau verfolgen. Die Ursberger Kirche war und ist für mich ein ganz besonderer Ort. Ab dem 18. Lebensjahr habe ich auch im Kirchenchor mitgesungen.
Man darf vermuten, in einer tieferen Stimmlage?
Waigel: Es war der zweite Bass. Gerne denke ich mit Blick darauf auch an den Unterricht und den Chorgesang in Krumbach bei Musiklehrer Willi Wilikovsky zurück.
Die romanische Kreuzigungsgruppe, ein Holzfiguren-Ensemble aus dem 13. Jahrhundert, befand sich damals noch nicht in der Mitte des Raumes, sondern in einer Seitenkapelle. Was verbinden Sie mit diesem bedeutenden Kunstwerk?
Waigel: Es ist gut, dass dieses herausragende Kunstwerk seinen Platz in der Mitte der Kirche gefunden hat, ich habe mich in der hochemotionalen Diskussion seinerzeit intensiv dafür eingesetzt. Dieses Werk, das stürmische Zeiten unbeschadet überstanden hat, ist ein eindrucksvolles Symbol für die kraftvolle Botschaft, die von Ursberg ausgeht.
Werden der Ort Ursberg und seine Bedeutung
von Außenstehenden bisweilen möglicherweise unterschätzt?
Waigel: Wenn ich in meiner Schulzeit in Krumbach berichtete, ich besuchte die Schule in Ursberg, wurde gelacht. Zeit meines Lebens war es für mich ein Antrieb, alles zu tun, dass über Ursberg niemand mehr lacht. Es war mir wichtig, das Große, das hier für Menschen mit Behinderung geleistet wird, zu respektieren. Ich freue mich sehr, dass dies gelungen ist.
Die verdiente Anerkennung für Ursberg: Haben Sie auch mit Blick darauf immer wieder hochkarätige Politiker wie Kohl, Weizsäcker oder auch Köhler nach Ursberg eingeladen?
Waigel: So ist es. Ich erinnere mich beispielsweise an das Jahr 1981, als der damalige Bundespräsident Karl Carstens bei einer seiner Wanderungen durch Deutschland in Attenhausen weilte. Ich bat ihn dringend, den Menschen mit Behinderung, den vielen engagierten Bediensteten und Schwestern einen Kurzbesuch abzustatten. Er ließ sich überreden, und auf der kurzen Autofahrt von Attenhausen und Ursberg nannte ich ihm einige Daten. Im Klosterhof hatten sich dann Tausende versammelt. Aus dem Stegreif hielt der Bundespräsident eine großartige Rede mit viel Einfühlungsvermögen für die Anwesenden und das große Werk. Als er sich später mit dem Hubschrauber verabschiedete, bemerkte er zu seiner Frau Veronika: Wenn uns das Leben einmal sehr bedrückt, denken wir an Ursberg, wie man auch ein schweres Leben mit Lebensfreude meistern kann. Genau das ist die eindrucksvolle Ursberger Botschaft.
Ursberg rückt 2027 als Austragungsort für die Landesausstellung des Hauses der Bayerischen Geschichte erneut in den Mittelpunkt. Bei der Wahl des Ausstellungsortes hat Ihre Fürsprache wohl eine maßgebliche Rolle gespielt …
Waigel: Dieses Projekt war für Ursberg in der Tat schon fast verloren. Ich habe dann Ministerpräsidenten Markus Söder angeschrieben und ihm erklärt, warum Ursberg eine sehr gute Wahl für die Schwerpunktthematik
Gesundheit, Gemeinschaft und Integration für Menschen mit Behinderung ist. Ich freue mich sehr, dass neben Dillingen Ursberg ein zentraler Ort für die Landesausstellung wird. Die Ausstellung wird viele Besucherinnen und Besucher in die Region bringen.
Die Unterzeichnung der Verträge für die Landesausstellung fand vor einigen Monaten in Ursberg statt. Für den Unterzeichnungstermin mit dem bayerischen Wissenschaftsminister Markus Blume haben Sie den hölzernen Stuhl zur Verfügung gestellt, auf dem der in Ursberg geborene bekannte katholische Theologe und Philosoph Joseph Bernhart einen großen Teil seiner Werke verfasst hat. Wie kam dies zustande?
Waigel: Die Würdigung der Lebensleistung von Joseph Bernhart ist mir ein besonderes Anliegen. Ich bin seit 1981 Protektor (Schirmherr) der Joseph-BernhartGesellschaft. Der Stuhl befand sich lange im Besitz von Otto Kobel, dem Regisseur der Waaler Passionsspiele und Bildhauer. Nach seinem Tod kam seine Witwe auf mich zu, so steht der Stuhl heute im Joseph-Bernhart-Saal in Ursberg.
Joseph Bernhart starb 1969. Haben Sie ihn noch persönlich kennengelernt?
Waigel: Es kam nie zu einem Gespräch, aber ich habe ihn mehrmals in Ursberg gesehen. Er war eine auffällige, großgewachsene, vornehme Gestalt mit weißen Haaren. Bemerkenswert ist, dass er tiefsinnig und humorvoll-leicht gleichermaßen schreiben konnte. Und er hatte eine große Kenntnis über die unterschiedlichsten Sprachfärbungen in Schwaben. Er war ein wahrer Meister des Dialekts.
Sie waren vor einigen Monaten zu Gast bei der Eröffnungsveranstaltung der Krumbacher Festwoche in der Sparkasse und sprachen über Ihre Erlebnisse als Jugendlicher im Krumbacher Stadtsaal. Kommen diese Erlebnisse verstärkt ins Gedächtnis zurück?
Waigel (lacht): Ich träume sogar davon! Oberrohr, Ursberg und Krumbach kommen in meinen Träumen immer wieder vor. Vor Kurzem habe ich davon geträumt, dass der frühere Chefredakteur der Tageszeitung Die Welt, Manfred Schell, orientierungslos mit dem Rad durch Krumbach fuhr. Ich habe ihn auf dem Marktplatz getroffen.
Sind Sie selbst nach wie vor mit dem Rad unterwegs?
Waigel: Nicht mehr mit dem Diamant-Rad, sondern mit einem E-Bike. Eine großartige Sache, so kann ich auch mit 85 Jahren auf die nächste Alpe fahren. Das ist ein Stück Lebensqualität und ja auch eine Errungenschaft unserer Zeit. Ich möchte ohnehin davor warnen, immer von der guten alten Zeit zu sprechen. Überlegen Sie mal, wie das wäre, wenn beispielsweise noch 500.000 russische Soldaten in Ostdeutschland stehen würden. Mit Putin wäre das eine elementare Gefahr. Das ist zum Glück nicht der Fall, weil es uns in den 1990er-Jahren gelungen ist, die sowjetischen Soldaten und das Waffenarsenal zurückzubringen. In den 1950er-Jahren wurde phasenweise ein Drittel des Bundeshaushalts in den Aufbau der Bundeswehr investiert. Und die soziale Not war sicherlich weit größer als heute.
Ursberg war damals schon ein Ort, der sich in einer besonderen Weise für Menschen mit Behinderung einsetzt, aber bei Weitem nicht so anerkannt …
Waigel: So ist es. Aber das hat sich glücklicherweise fundamental geändert. Es gibt einen großen Respekt für das, was in Ursberg geleistet wird. Und ich freue mich, dass ich dazu einiges beitragen konnte.