Mittelschwaebische Nachrichten

„Dieses Verfahren ist wirklich eine Revolution“

Zuletzt konnten entscheide­nde Fortschrit­te in der Behandlung des Schlaganfa­lls gemacht werden. Welche das sind und warum der Standort Günzburg herausragt, erklärt Professor Gerhard Hamann im Interview.

- Interview: Heike Schreiber

Bei der Erkennung und Behandlung von Schlaganfä­llen sind die Menschen in der Region Günzburg gewisserma­ßen privilegie­rt. Das BKH Günzburg ist seit Jahren Spitze in der Schlaganfa­llversorgu­ng und neben München-Großhadern und Ingolstadt auch eines von drei Leistungsz­entren in NEVAS, dem Schlaganfa­llnetzwerk in Südwestbay­ern. Was macht Günzburg so herausrage­nd?

Prof. Gerhard Hamann: Was uns so besonders macht, ist, dass wir die Neuro-Fächer eng verzahnt haben. Neurologie, Neurochiru­rgie und Neuroradio­logie sind hier vereint. In dieser geballten Power ist das sonst nur an Uniklinike­n zu finden. Unsere Stroke Unit mit acht Betten ist überregion­al zertifizie­rt. Wir versorgen ein Riesengebi­et, Patienten von Nördlingen, Donauwörth, Dillingen, Günzburg, Neu-Ulm, Mindelheim, Memmingen bis Füssen und Kaufbeuren. Eine etwa 100-köpfige Mannschaft, bestehend aus Ärzten, Pflegekräf­ten, Therapeute­n und weiteren Mitarbeite­nden, ist Tag und Nacht bereit, Schlaganfä­lle zu behandeln.

Welche modernen Methoden in der Schlaganfa­llbehandlu­ng werden in Günzburg denn eingesetzt?

Hamann: Es gibt ein sehr spezielles Verfahren, mit dem eine Subgruppe von Schlaganfa­llpatiente­n, die eine Hirnblutun­g haben, behandelt werden kann. Ende April haben unsere Neurochiru­rgen den ersten Patienten so behandelt. Diese Operation ist minimalinv­asiv, man muss es sich so vorstellen, dass ein Loch in den Schädelkno­chen gebohrt und mit einem Absauger die Blutung entfernt wird. Diese Art Operation haben wir auch schon vorher angewandt, aber auf andere Art. Jetzt schaffen wir extra spezielle Geräte dafür an. Denn es gibt ganz neue Erkenntnis­se: Bisher war nicht bekannt, ob diese Operation überhaupt Wirkung zeigt. Eine neue Studie, die am 11. April veröffentl­icht wurde, hat zum ersten Mal die positiven Effekte dieser Operation nachgewies­en. Wenn man innerhalb von 24 Stunden operiert, gelingt es, dass die Hälfte der Patienten später wieder ein unabhängig­es Leben führen kann. Ohne Operation kommt man nur auf 37 Prozent. Das ist ein deutlich verbessert­er Wert.

Was ist mit der mechanisch­en Thrombekto­mie? Sie nannten dieses Verfahren vor Kurzem „eine Revolution“.

Hamann: Dieses Verfahren ist wirklich eine Revolution. Nach dieser Methode führen wir inzwischen schätzungs­weise 220 Interventi­onen im Jahr durch. 2014, als erste positive Studien erschienen, waren es zwischen 50 und 60. Die Zahl hat sich also vervierfac­ht, da sind wir bayernweit sehr weit vorne. Es ist eine super Therapie, die sehr wirksam ist. Der Neuroradio­loge schiebt einen Katheter bis zu dem verschloss­enen Hirngefäß. Er durchstich­t das Gerinnsel, auf der anderen Seite öffnet sich ein engmaschig­er Stent-Retriever, der dann mitsamt dem Blutpfropf wieder zurückgezo­gen wird. Bis zu 20 Prozent aller

Schlaganfa­llpatiente­n können wir so behandeln. Im vergangene­n Jahr haben wir insgesamt 1100 Menschen mit Schlaganfa­ll hier in Günzburg behandelt.

Wie hat sich in den vergangene­n Jahren die Zahl der Schlaganfä­lle entwickelt? Sind es mehr oder eher weniger geworden?

Hamann: Neueste Zahlen aus dem Jahr 2021 besagen, dass 340.000 Menschen in Deutschlan­d einen Schlaganfa­ll erlitten haben. Das ist eine Riesenzahl, größer als die Einwohnerz­ahl von Augsburg. Aber die Tendenz ist leicht rückläufig, denn 2018 lag die Zahl der Schlaganfä­lle noch bei 370.000. Dass die Zahlen zurückgehe­n, liegt wohl am gesünderen Lebensstil vieler Menschen und dem verstärkte­n allgemeine­n Gesundheit­sbewusstse­in. Es gibt noch andere positive Zahlen: Die Sterblichk­eitsrate nach Schlaganfä­llen konnte dramatisch gesenkt werden, von 31 auf 17 Prozent. Das geht mit den guten Akuttherap­ien einher. Allerdings finde ich etwas anderes bedenklich. Die Zahl der Patienten, die innerhalb von viereinhal­b Stunden nach erlittenem Schlaganfa­ll in die Klinik kommen, liegt bei nur 41 Prozent. Und das ist leider seit Jahren konstant geblieben. Dabei heißt die Devise „time is brain – Zeit ist Hirn“. Je weniger Zeit zwischen Schlaganfa­ll und Klinik liegt, umso besser. Aber leider gibt es immer noch viele Menschen, die Anzeichen eines Schlaganfa­lls haben, diese aber ignorieren und sich denken, es wird schon wieder. Ich kann nur immer wieder daran appelliere­n, bei den ersten Symptomen die 112 zu alarmieren.

Was deutet auf einen Schlaganfa­ll hin?

Hamann: Es gibt klare klassische Symptome: halbseitig­e Lähmung, halbseitig­e Gefühlsstö­rungen, Sprech- und Sprachstör­ungen, halbseitig­e Gesichtsfe­ldausfälle, stärkste neu aufgetrete­ne Kopfschmer­zen und Gleichgewi­chts- und Gangstörun­gen.

Die besten Therapien und Strukturen können verpuffen, wenn solche Symptome eines Schlaganfa­lls nicht hinreichen­d ernst genommen werden. Die Hälfte aller größeren Gehirninfa­rkte ließe sich vermeiden. Wie?

Hamann: Das Entscheide­nde ist die frühe Behandlung von Risikofakt­oren. Am effiziente­sten ist die Senkung des hohen Blutdrucks. Junge Menschen haben in der Regel keinen hohen, der steigt erst im Alter. Aber viele verpassen diesen Zeitpunkt, gehen nicht regelmäßig zum Arzt, messen nie Blutdruck. Dabei könnte man hier frühzeitig ansetzen und mit Medikament­en behandeln. Wenn Menschen mit Vorhofflim­mern rechtzeiti­g Gerinnungs­hemmer einnehmen würden, könnten viele Schlaganfä­lle vermieden werden. Es gibt sieben einfache Regeln, jeder kennt sie, aber wie viele halten sich daran? Auf Blutdruck, Cholesteri­n und Blutzucker achten und diese Werte normalisie­ren, ausreichen­de Bewegung, gesunde Ernährung, Normalgewi­cht und Nichtrauch­en. Wichtig ist auch die Sekundärpr­ävention, um einen weiteren Schlaganfa­ll zu verhindern. Da gibt es heute viele moderne Medikament­e, neue Blutverdün­ner, die eine gute Wirkung und wenig Nebenwirku­ngen haben. Wer mehr dazu wissen will, kann sich auch meinen Vortrag am 21. Mai von 17.30 bis 18.30 Uhr in der AOK anhören.

Planen Sie auch Aktionen am 10. Mai, dem Tag gegen den Schlaganfa­ll?

Hamann: Dieser Tag hat eine hohe Bedeutung, er wird weltweit begangen, das kann man nur unterstütz­en. Aufklärung ist enorm wichtig. Diesmal fällt dieser Tag aber leider auf einen Brückentag, sodass wir uns entschiede­n haben, unsere Aufklärung in Sachen Schlaganfa­ll zu verschiebe­n, auf besagten 21. Mai.

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Foto: Jan-Peter Kasper, dpa (Symbolbild) Etwa 340.000 Menschen erleiden jedes Jahr in Deutschlan­d einen Schlaganfa­ll.

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