Goldener Abiturjahrgang nimmt das Gymnasium genau unter die Lupe
Was geht Endsechzigern durch den Kopf, die 50 Jahre nach ihrem Abitur wieder an ihre alte Schule kommen? Das konnte bei den „Wossidlo-Tagen“erkundet werden, zu denen 90 der damals 120 Abiturienten von 1974 reisten.
WAREN – Sie steigen eine verwinkelte Treppe nach unten, kommen in einem kleinen, dunklen Kellerraum an, der vollgestellt ist mit Schulbänken und Stühlen. Alle suchen sich einen Platz. Vorn an der Tafel steht ein kleiner, älterer Herr. Er stellt sich vor als Herr Schmidt und kündigt an, dass jetzt der Russischunterricht beginnt. Später dann wissen Jutta, Lore, Hartmut, Dagmar, Birgit und ihre Klassenkameraden, dass der Lehrer Otto Schmidt heißt, vor vielen Jahren aus der Sowjetunion in die DDR übersiedelte, herzensfreundlich ist und immer noch mit starkem Akzent spricht. Darum wird er Russen-Otto genannt.
Das alles ist jetzt 52 Jahre her. Damals kamen die meisten Schüler der Klassen 10aV und 10bV der POS (Polytechnische Oberschule) „Joliot Curie“in Röbel an die EOS (Erweiterte Oberschule) „Richard Wossidlo“in Waren und wurden Schüler der Klassen 11b3 und 11b4. Jutta und Kameraden landeten in der 11b4, in der Mechthild Petrick als Klassenleiterin den Ton angab. Es war alles so eng an der Warener Schule. Rund 450 Schüler mussten sich das über 100 Jahre alte Gebäude teilen. Darum wurde jeder Quadratzentimeter zum Unterrichten genutzt, auch der kleine Kellerraum, in dem die ehemaligen Röbeler Schüler jetzt Vokabeln der „Kampfgefährten“paukten.
52 Jahre später, jetzt in den ersten Maitagen, trafen sich 16 der damals 24 11b4und 12b4-Schüler in Waren wieder, um gemeinsam mit den „aktuellen“Lehrern, Schülern und natürlich auch mit den alten Klassenkameraden aus der 12 a, 12b1 und 12b2 „Goldenes Abitur“zu feiern. Die Altschülerschaft mit Uta Krenzel an der Spitze, die Lehrer und Schüler hatten ein wunderbares, dreitägiges Fest, die „Richard-Wossidlo-Tage 2024“, vorbereitet. Rund 90 der 120 Abiturienten von 1974 kamen dazu aus ganz Deutschland an die Müritz. Bei einem Rundgang durch die Schule, die schon lange nicht mehr EOS, sondern wieder Gymnasium heißt, konnten sich die „Goldenen“auf dem Hof und in den Gebäuden umsehen.
Als sie 1970 und dann die Röbeler 1972 an die EOS kamen, bestand die ganze Einrichtung aus dem alten Gebäude und der alten Turnhalle. Am Hof standen zwei weitere Schulen: die GoethePOS und die Diesterweg-POS. Diese Schulen als solche gibt es schon lange nicht mehr, wohl aber die Gebäude, die jetzt zum Gymnasium gehören. Wie eine weitere Turnhalle und weitere Gebäude ebenfalls. „Die können es guthaben, so viel Platz für 600 Schüler“, lautete das eindeutige Urteil der „Goldenen“, die mit viel weniger Raum auskommen mussten, um zum Abitur zu kommen. „Dafür durften wir auch jeden Sonnabend die Schulbank drücken“, merkte Petra Hakert, die 1974er-Abiturientin, die die Festrede beim Wossidlo-Festakt hielt, später dazu an.
Der Festakt am zweiten Wossidlo-Tag fand im Bürgersaal statt, denn für so ein Ereignis ist die Aula der alten Schule einfach viel zu klein. Schulleiter Kai Behrns hielt eine nicht nur würdige, sondern – wofür ihm die Zuhörer sehr dankbar waren – ebenfalls unterhaltsame und witzige Rede. Dazu hatte er sich zum Beispiel aus den vergilbten Klassenbüchern von damals Einträge herausgesucht. Und so waren die Zuspätkommer, Bummelanten und Hausaufgaben-„Vergesser“der frühen 1970erJahre zum Gelächter aller noch mal „dran“... Mit dabei waren auch rund 300 „aktuelle“Schüler. Unter ihnen die besten, die von der stellvertretenden Schulleiterin Christin Strümpel im Namen des Gymnasiums mit Wossidlo-Preisen ausgezeichnet wurden. Preise dieses Namens
gab es übrigens auch vor 50 und mehr Jahren schon, so erinnerten sich einige „Goldene“daran, dass so ein Preis als ihre vielleicht wertvollste Auszeichnung zu Hause einen Ehrenplatz einnimmt. Die Chöre der Klassen 9 bis 11 gaben dem Fest einen schönen musikalischen Rahmen und durften mit „Du hast den Farbfilm vergessen“und „Schrei nach Liebe“unter all ihren englischen Titeln sogar zwei deutschsprachige singen.
Wer am dritten Tag den Schiffsausflug von Waren nach Malchow unternahm, hat das mit Sicherheit nicht bereut. Mal ganz abgesehen von der Landschaft, die sich von der Müritz über die Reek, den Kölpinsee, den Fleesensee bis hin zum Malchower See auftat: Der Besuch der Klosterkirche, deren Mauern das einzige Orgelmuseum des Landes beherbergen, war ein unvermuteter Gewinn. Weil der Museumsleiter Friedrich Drese nicht nur spannend erzählen, sondern auch wunderbar all die Orgeln unter dem Dach des Kirchenschiffs zum Klingen bringen kann. Über was werden die Abiturienten von heute in 50 Jahren erzählen, was werden sie denken, was wird für sie wichtig sein? Vielleicht erzählt die Enkelin von Petra Hakert, die heute am Richard-Wosidlo-Gymnasium lernt, dann als Endsechzigerin im Jahr 2074 oder 2075 den Jubilaren, was vor 50 Jahren an der Müritz los war und was die damaligen Endsechziger so umtrieb.