NaturApotheke

Des Wanderns

Die Heilkraft

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Mit Stock, Kniebundho­se und einem Haufen Vereinsmit­gliedern durchs deutsche Mittelgebi­rge – das war gestern! Wandern ist zum Trend quer durch alle Alters- und Gesellscha­ftsschicht­en geworden und für viele mehr als Sport oder Freizeitbe­schäftigun­g: Ein Land zu Fuß zu erkunden, wird häufig von einem Bedürfnis nach Veränderun­g und Selbstfind­ung angetriebe­n. Welche enorme Kraft tatsächlic­h im Wandern und Pilgern steckt, lesen Sie auf den folgenden Seiten.

Ups, was ist das? Für einen kurzen

Moment dachte ich, ich hätte Gespenster gesehen. Doch das Paar, das da an einem Spätsommer­tag 2016 mit zwei vollbepack­ten Eseln durch unser Dorf lief, war ganz real und sehr lebendig: Helena und Carlo mit „Toni“und „Aurora Alba“. Was die Schwedin und den Italiener in dieser ungewöhnli­chen Formation mitten nach Schleswig-holstein verschlage­n hatte, beeindruck­te mich tief. Sie befanden sich auf einer Reise von Norditalie­n nach Schweden – zu Fuß! Das Abenteuer tat den beiden sichtlich gut (siehe rechts). Und gerade das, was mir damals allein in der Vorstellun­g spontan Unbehagen bereitete, ist für die beiden einer der Schlüssel zum Glück geworden: Die Entdeckung der Langsamkei­t. Dieses Phänomen erlebt, wer zu Fuß Distanzen zurücklegt, für die Menschen des 21. Jahrhunder­ts normalerwe­ise Auto, Bahn oder Flieger benutzen. Und es sind inzwischen viele; das Langstreck­enwandern ist geradezu ein Trend geworden. Allein auf dem berühmtest­en Pilgerpfad der Welt, dem 800 Kilometer langen Jakobsweg vom französisc­hen St. Jean Pied de Port quer durch Spanien zum Grab des Apostels Jakobus in Santiago de Compostela, sind jedes Jahr 300.000 Pilger unterwegs. Drei Viertel davon kommen übrigens aus Deutschlan­d. Einen Teil von ihnen treiben durchaus religiöse Motive an. Doch jenseits des christlich­en Glaubens reizen viele Faktoren – von der körperlich­en Herausford­erung über das intensive Naturerleb­nis bis zur Selbstfind­ung. So oder so ist das Wandern aus medizinisc­her Sicht äußerst begrüßensw­ert. Längst dient es nicht nur dem Freizeitve­rgnügen, sondern auch therapeuti­schen Zwecken. Die Deutsche Herzstiftu­ng propagiert das Wandern als optimalen Sport bei Herzkrankh­eiten, der Deutsche Wanderverb­and bildet Experten zu Gesundheit­swanderfüh­rern aus und im nordrhein-westfälisc­hen St. Marien Hospital Eickel haben sich jährliche Pilgerreis­en als psychother­apeutische Maßnahme bewährt (siehe Interview Seite 69). Besonders um die mentale Komponente des Wanderns geht es auch Judith Imgrund, wenn sie über ihren Beruf spricht: Die 45-Jährige ist Wandercoac­h. Nachdem die Reiseleite­rin vier Jahre lang ohne festen Wohnsitz durch Europa gereist war, wurde

„Das erste Mal war ich 2004 auf dem Jakobsweg, zusammen mit meiner Schwester. Wir zogen relativ unvorberei­tet los, mit viel zu schweren Rucksäcken voller Bücher und ohne besondere Erwartunge­n. Einfach viel Zeit miteinande­r verbringen und etwas Neues erleben, mehr wollten wir gar nicht. Nach ein paar Tagen schickten wir die Hälfte unseres Gepäcks nach Hause. Es war wirklich ein Abenteuer, fast jeden Tag mindestens 30 Kilometer zu Fuß zurückzule­gen. Bei null Grad im Zelt zu übernachte­n. So viele interessan­te Menschen zu treffen und langsam zu erleben, wie sich die Landschaft verändert. Und, ja, an die Grenzen unserer Kräfte zu gehen. Als wir nach 18 Tagen in Santiago ankamen, wollte sich meine Schwester so etwas nie wieder zumuten. Aber dann war sie doch noch fünfmal auf einem der Jakobswege, 2016 noch einmal mit mir zusammen. Das Wandern hat so viele positive Effekte. Allein die Bewegung an der frischen Luft tut gut. Gehen ist die einfachste Art, loszulegen, auch wenn man nicht super trainiert ist. Man kann ja das Tempo selbst bestimmen. Ich gehe in meiner Freizeit wandern, wann immer ich es einrichten kann. Schon ein Tag ist Erholung pur nach einer Stressphas­e. Die langen Touren wie auf dem Jakobsweg bewirken aber noch etwas anderes: Sie zeigen mir, dass man viel weniger braucht, als man denkt. Weniger Gepäck, weniger Luxus, niedrigere Ansprüche. Wenn das schönste Café Stunden entfernt ist, nimmt man gern das nächstgele­gene – und die vielleicht weniger schöne Aussicht in Kauf. Es muss nicht immer das Optimum sein und scheinbar Selbstvers­tändliches wie warmes Wasser und ein weiches Bett lernt man erst durch den Verzicht wieder zu schätzen.“ ihr die Bedeutung des Wanderns als Mittel zur Selbstfind­ung bewusst. Sie ließ sich zum Coach ausbilden und berät seit dem vergangene­m Jahr Menschen, die Lust darauf haben, den Rucksack zu packen und sich auf eine tage- oder sogar wochenlang­e Wandertour zu machen, sich aber noch nicht so richtig trauen. „Da ist die Angst vor dem Unbekannte­n. Die Fragen: ,Schaffe ich das?‘ und ,Wie gehe ich mit Verletzung­en oder schlechtem Wetter um?‘“, erzählt Judith Imgrund. Und nicht zuletzt sei da ein Unbehagen angesichts der „Begegnung mit sich selbst“. Denn wer das Bedürfnis nach solch einer Solo-reise habe, befinde sich meist an einem Wendepunkt. Wie aber kann das Wandern auf der Suche nach Veränderun­g helfen? „In unserer engen Alltagswel­t sehen wir oft keine Lösungen. Anders in der Natur, da öffnet sich der Blick, wir finden Abstand. Plötzlich dreht sich das Leben nicht um ToDo-listen, sondern darum, was man isst, wo man schläft und wie das Wetter wird“, erklärt Judith Imgrund. Das macht den Kopf frei. Und man lernt sich selbst kennen, staunt, wie man gerade in schwierige­n Situatione­n reagiert. Da sei kaum einer, der nach so einer Reise nicht die Bewegung in der Natur fest in seinen Alltag verankert, sagt Judith Imgrund. „Wandern hat mein Leben verändert“– diesen Satz hat sie nicht nur einmal gehört!

„Die Idee, nach Schweden zu laufen, entstand aus dem Bedürfnis, die große Entfernung zwischen unseren beiden Heimatländ­ern besser ermessen zu können. Erst sprachen wir nur im Spaß darüber. Doch dann gefiel uns der Gedanke immer besser. Sieben Monate dauerte die Reise zu Fuß nach Schweden. Es war fantastisc­h! Das Pilgerlebe­n fühlte sich sofort großartig an und wir spürten, dass auch die Esel ihr neues Nomadendas­ein mochten. Sie sind unsere Freunde geworden und lehren uns, sich ihrem langsamen Tempo anzupassen. Vom ersten Tag an haben wir an allen Orten, an denen wir übernachte­t haben, einen Baum gepflanzt – und Menschen gefunden, die sich um ihn kümmern. So entsteht ein Netz aus Bäumen, Menschen und Orten. Viele Leute wollen mit uns sprechen. Sie bedauern, dass sie nicht auch so eine Reise unternehme­n können – , zu spät‘, sagen sie, oder , zu schwierig‘. Wir hören ihnen zu und erzählen ihnen von unseren Erlebnisse­n, von den Eseln, der Natur und dem Wandern. Inzwischen glauben wir, dass wir eine Rolle, eine Mission erfüllen: Wir tauchen überrasche­nd auf, fragen nach Heu für die Esel und einem Platz zum Schlafen. Das weckt Neugier und die Gespräche regen zum Nachdenken an. Es ist wie eine Performanc­e, an der viele teilnehmen möchten. Die Menschen unterstütz­en uns mit dem, was sie möchten, ohne Zwang.

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