Frühe Reflexe MEILENSTEINE DER BEWEGUNGSENTWICKLUNG
oder Großhirn sind über das Stammhirn zu vermitteln. Die Reizleitung erfolgt über Nervenverbindungen, die über wiederkehrende Reize verknüpft werden. Bei der Geburt ist eine Fülle von Nervenzellen angelegt, jedoch gibt es nur wenige synaptische Verbindungen im Großhirn, das für bewusste Handlungen steht. Aus diesem Grund reagieren wir besonders in den ersten vier Lebensmonaten auf Reize hin reflexgesteuert. Während der ersten Lebensjahre kommen dann zahlreiche synaptische Verbindungen hinzu. Ein Leben lang werden nun neuronale Verbindungen aufgebaut, verwandelt und neu gebildet. Während das Kind sich weiterentwickelt und lernt, sich willentlich zu bewegen, werden die frühen Reflexe durch übergeordnete Zentren abgelöst, abgebaut oder so weit integriert, dass sie das vom Groß- und Mittelhirn gesteuerte Handeln und Verarbeiten nicht mehr beeinflussen. Manche Reflexe wie die Sprungbereitschaft und Gleichgewichtsreaktionen bestehen auch weiter. Sie sind hier nicht gemeint. Sind die frühen Reflexe nicht integriert, werden sie bei bestimmten Bewegungen/berührungen immer wieder aktiviert, da die Reflexbewegung vorrangig bleibt. Auf der Basis von gut integrierten frühen Reflexen und guten sozialen und familiären Voraussetzungen können Kinder ihre Motorik, Sensorik, Wahrnehmung, Reizverarbeitung und Impulskontrolle gut entwickeln. Bei teilweise nicht gehemmten frühkindlichen Reflexen wird das erschwert. Natürlich sind persistierende (= weiterhin aktive) frühe Reflexe nicht die Ursache für alle Probleme, werden sie allerdings nicht erkannt und integriert, können sie eine Vielzahl von Beschwerden und Einschränkungen nach sich ziehen.
Durch frühe Reflexe üben wir Bewegungen und meistern die Geburt. Lernt das Kind, sich selbst zu bewegen, braucht es sie nicht mehr. Wirken sie über die ersten sechs Monate hinaus, geht die Entwicklung zwar weiter, aber auf unsicherem Fundament IMMER MEHR KINDER MIT AKTIVEN FRÜHEN REFLEXEN
Einige Beispiele dafür: Bei immer mehr Kindern besteht ein Verdacht auf AD(H)S. Hier gibt es oftmals einen Zusammenhang mit fortbestehenden Restreflexen wie Moro, Tonischer-labyrinth-reflex (TLR), Asymmetrisch-tonischerNackenreflex (ATNR), Symmetrisch-tonischer-nackenreflex (STNR), Landau und Spinaler Galant. Darüber berichten wir ausführlicher in der dritten Folge unserer Reihe. Bleiben der Moro- oder der Asymmetrisch-tonische Nackenreflex aktiv, wirkt sich das stark auf die Sinne aus. Durch die Schreckreaktion beim Moro werden beinahe alle Sinne deutlich gesteigert, was eine angemessene Wahrnehmung und Reaktion erschweren kann. Ein weiter bestehender ATNR, der ausgelöst wird, wenn der Kopf über die Mittellinie bewegt wird, kann etwa den Gleichgewichtssinn sowie das Sehen und Hören beeinträchtigen. Weiterbestehende HandMund-fuß-reflexe und/oder Saug- und Suchreflexe führen aufgrund der Auswirkungen auf die Mund- und Zungenmotorik unter Umständen zu Aussprachestörungen. Störungen des Gleichgewichts und damit verbundene Auswirkungen auf die Motorik können bei Fortbestehen des Moro-reflexes, des Tonischen Labyrinth-reflexes, des Asymmetrisch-tonischen Nackenreflexes und des Symmetrisch-tonischen Nackenreflexes auftreten. In Anbetracht möglicher gravierender Folgewirkungen sollte der Bedeutung des Gleichgewichts generell mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Auch die Impulskontrolle wird erschwert. So kann ein fortbestehender Galantreflex etwa unwillkürliches Einnässen erklären. All das sind Stressoren, die das System zusätzlich belasten. Neuere Forschungsergebnisse belegen, dass auch periphere körperliche Ereignisse maßgeblich jene Gehirnanteile beeinflussen können, die an der psychischen Stressverarbeitung beteiligt sind. Zum einen sind es Erkrankungen oder bestimmte Umstände, die einen natürlichen Bewegungsablauf stören. Oft treffen verschiedene Faktoren zusammen, die dazu führen können, dass frühe Reflexe nicht zeitgerecht in der kindlichen Entwicklung integriert oder gehemmt werden: Während der Schwangerschaft sind dies etwa längere Zeit anhaltendes Erbrechen, schwere virale Infekte, hoher emotionaler Stress oder eine drohende Fehlgeburt. Gleiches gilt, wenn bei der werdenden Mutter hoher Blutdruck, unbehandelter (Schwangerschafts-)diabetes oder Drogenkonsum vorliegt. Mögliche Ursachen im Zusammenhang mit der Geburt wären u. a. Frühgeburten, das länger als zwei Wochen Übertragen, sehr lange Geburten, aber auch Sturzgeburten, eine Nabelschnurumschlingung, Zangen- oder Saugglockengeburten, ein Kaiserschnitt, eine Steißlage oder auch Sauerstoffmangel. Beim Neugeborenen können u. a. geringes Geburtsgewicht, intensivmedizinische Maßnahmen, ein verformter Schädel, eine längere Neugeborenengelbsucht und Fütterungsprobleme während des ersten halben Jahres zu weiterhin aktiven frühen Reflexen führen. Das Gleiche gilt während der Kindheit u. a. bei Erkrankungen mit sehr hohem Fieber in den ersten 18 Lebensmonaten, Verzögerungen in der Bewegungsentwicklung, Sprachentwicklungsstörungen, Impfreaktionen, häufigen Hals-, Nasen- und Ohrenentzündungen, Daumenlutschen und Bettnässen über das fünfte Lebensjahr hinaus. (Quelle INPP) Das moderne Leben spielt hier sicherlich auch eine Rolle. Es stellt uns alle vor gesteigerte Anforderungen – ob privat, beruflich, in Kindergarten, Schule oder Freizeit. So gibt es heutzutage kaum eine Schwangerschaft ohne beruflichen, familiären oder sozialen Stress. Dazu kommen Fehlbelastungen durch langes, berufsbedingtes Sitzen und fehlende Bewegung. Ein Umdenken, wonach Schwangere vor zu viel Stress geschützt werden, wäre hier wünschenswert. Entbindungen mit Kaiserschnitt haben einen fehlenden Reflexablauf unter der Geburt (siehe ATNR, TLR) zur Folge. Dabei stellt sich auch die Frage, ob eine Fehllage mit einem nachfolgenden Kaiserschnitt die Folge eines gestörten Reflexablaufes oder die Ursache für eine Störung des Reflexablaufes ist (oder vielleicht auch beides)? Hinzu kommen starke Veränderungen in der frühen Kindheit. Heute werden viele Kinder mit der Flasche ernährt. Beim Stillen wird aber der Saugreflex ausgelöst und die Greifreflexe werden aktiviert, sodass der Mund und die Händchen des Kindes sich beim Saugen an der Brust bewegen, was bei der Flaschenernährung weniger stattfindet.
URSACHEN FÜR NOCH AKTIVE REFLEXE
Besonders in den ersten Lebensmonaten ist es hilfreich, Kinder oft gut gestützt zu tragen und ihnen so Sicherheit, körperliche Nähe und Geborgenheit zu vermitteln. Ein ausgewogenes Maß an Bewegungsanregungen erlaubt es den Kindern, Bewegungen auszuformen, die frühen Reflexe angemessen zu erleben und zu hemmen. Ein guter Gradmesser sind dabei zustimmende oder ablehnende Signale des Kindes. Zu viele Reize überfordern das Kind eher. Die oben genannten Gründe können auch dazu führen, dass frühe Reflexe bei Kindern in verschiedener Konstellation und Stärke aktiv bleiben. Umso mehr hilft umfassende und vielfältige Bewegung (wie beispielsweise Balancieren, Krabbeln und Rollen) in den folgenden Jahren, Reste früher Reflexe abzuschwächen. Weil ihnen unbeschwerte Bewegung aber nicht so leicht fällt, ziehen diese Kinder Fernsehen oder Computerspiele vor, wodurch Möglichkeiten für Abbau oder Integration noch aktiver früher Reflexe ungenutzt bleiben. Der Schutzreflex (auch Furcht-lähmungs-reflex) entwickelt sich etwa in der 6. Schwangerschaftswoche, wird durch Erschütterungen ausgelöst und schützt den Fötus, damit er sich nicht in der Nabelschnur verfängt. Wird er durch einen Schreck ausgelöst, führt er zu Erstarrung. Der Schutzreflex wird in der natürlichen Entwicklung durch den Moro-reflex abgelöst. Bleibt der FLR weiter bestehen, aktiviert das die Stresshormone, was die ohnehin erhöhte Sensibilität bei Reaktionen noch verstärkt. Hinzukommen oft noch aktive Einflüsse des Moro-reflexes. Je nachdem, welcher Anteil stärker ist, wird das Kind mit Rückzug (FLR) oder Aggression (Moro) reagieren. Dieser Teufelskreis schwächt langfristig das Immunsystem. Von einem noch aktiven FLR betroffene Personen sind u.a. schüchtern, ängstlich, zurückgezogen, hochsensibel und scheuen Menschenmengen. Allgemein gilt, die
DIE EINZELNEN REFLEXE, TEIL 1
Entwicklung der jeweils reiferen Reaktion hemmt die Wirkung der vorangegangenen. Wird ein Reflex nicht integriert, wirkt sich das auch auf die anderen Reflexe aus. Da FLR und Moro stark mit allen Sinnessystemen verbunden sind, hat das weitreichende Folgen auf das persönliche Fühlen und Denken sowie auf das soziale Verhalten. Nach dem Einatmen folgt ein Moment der Starre (Flr-anteil) vor dem heftigen Aufschrecken (Moro-anteil). Beide stellen den Körper auf Flucht oder Kampf ein. In früheren Zeiten waren diese Kompetenzen von großer Bedeutung, da sie unser Überleben sicherten. Auch wenn das inzwischen nicht mehr erforderlich ist, bilden die frühen Reflexe auch heute noch die Basis dafür, dass wir uns entwickeln und lernen. Der Moro-reflex, auch Umklammerungsreflex, entsteht in der 9. bis 12. Schwangerschaftswoche und soll bei der Geburt vollständig vorhanden sein. Evolutionär dient er als eine Art Notreaktion bei Situationen, die als lebensbedrohlich empfunden werden. Erfolgt ein Sinnesreiz wie eine deutliche Lageveränderung, ein starkes Licht, Geräusch oder Kälte oder eine unsanfte Berührung, wird er ausgelöst. Das Kind streckt dann Arme und Beine von sich, öffnet seine Händchen, spreizt die Finger, legt den Kopf in den Nacken und erstarrt kurz. Anschließend öffnet es den Mund, atmet tief ein, stößt unter Umständen einen Schrei aus und schließt beim Ausatmen ruckartig gleichzeitig Arme und Beine, beugt die Arme und schließt die Hand zur Faust. Bei jungen Menschenaffen sorgt dieser Greifreflex dafür, dass sie sich bei Gefahr am Fell der Mutter festklammern, um sicherzustellen, dass sie mitgenommen werden. Der Moro-reflex sorgt dafür, dass das Kind nach der Geburt zu atmen anfängt. Sollte er in seiner aktiven Zeit nicht völlig vorhanden sein, kann das zu einem zu schwach ausgelösten Reflex führen, sodass Ausatmen und Schließen der Arme und Beine nur schwach oder gar nicht erfolgen. Fehlendes Ausatmen nach tiefem Einatmen ist mit Luftanhalten gleich
zusetzen. Besteht dieser Zustand länger fort, könnte bei weiterhin aktivem Moro-reflex ebenfalls ein Zusammenhang mit Asthma bestehen. Als Folge eines noch wirkenden Moro kann es zu flachem Atem, Hyperventilation und Panik kommen. Vielleicht hat das Kind auch Probleme beim Abstützen und später beim Sitzen oder es fällt beim Laufen leichter hin. Als weitere Folge bleibt das Kind im Bereich der Sinne überempfindlich. Diese erhöhte Wahrnehmungsempfindlichkeit belastet es durch erhöhte Stresshormone. Nach gelungener Integration wandelt sich der Moro-reflex in die reife Schrecksituation, die uns hilft, weniger wichtige Sinneseindrücke von wichtigen zu unterscheiden, und uns somit angemessen handeln lässt. Restreaktionen des Reflexes mindern die Konzentrationsfähigkeit, sie können zu schneller Blutzuckerverbrennung und damit zu Leistungs- und Stimmungsschwankungen führen. Auffällig sind hier unter anderem die Abneigung gegen Veränderungen, die Neigung zu sich wiederholenden Verhaltensmustern, abwechselnde Phasen von Hyperaktivität und Übermüdung sowie Probleme, Kritik zu akzeptieren. Der Palmar-reflex entsteht in der 11. Schwangerschaftswoche und soll bei der Geburt vollständig vorhanden sein. Es findet eine schrittweise Entwicklung vom unwillkürlichen Greifen und Loslassen hin zu einer verfeinerten Kontrolle über die Finger statt. Auslöser dafür ist eine leichte Berührung oder ein Druck auf die Handinnenfläche, was das Einrollen der Finger und einen Faustschluss bewirkt. Solange der Reiz andauert, bleibt die Hand fest geschlossen und das Baby kann an den Händen hochgezogen werden, seine Ellenbogen bleiben dabei leicht angewinkelt. Während der ersten Lebensmonate sind der Palmar-reflex und das Stillen eng miteinander verbunden. Die Saugbewegungen stimulieren den Säugling dazu, knetende Handbewegungen zu machen. Der Palmar-reflex steht aus diesem Grund in einem engen Zusammenhang sowohl mit der späteren feinmotorischen Koordination als auch mit Sprache und Artikulation. Wenn das Baby vier bis sechs Monate alt ist, soll der PalmarReflex so weit integriert sein, dass es einen Gegenstand loslassen kann. Mit sechs Monaten lernt es, den Gegenstand zwischen Daumen und Zeigefinger im Pinzettengriff zu halten. Manche Kinder tun dies allerdings auch schon mit vier Monaten. Wenn noch Reste des Reflexes aktiv sein sollten, kann sich das Kind nicht optimal auf die offene Hand abstützen, was sich auf seine Gleichgewichtsreaktionen auswirkt. Diese Kinder halten den Stift oftmals auffällig in der Hand, was auch dazu führt, dass sie vor allem beim Schreibfluss und bei schnellem Schreiben Probleme haben. In der nächsten Folge stellen wir weitere frühe Reflexe vor. In der dritten Folge berichten wir über Möglichkeiten und Angebote, noch aktive Restreaktionen früher Reflexe festzustellen, und Hilfen, sie zu integrieren bzw. zu hemmen, damit die Entwicklung des Kindes (oder des Erwachsenen) gefördert wird. Von der reinen Reflexintegration bis hin zur komplexen Arbeit mit frühen Bewegungsmustern gibt es verschiedene Möglichkeiten, sich mit dieser Thematik zu beschäftigen. In der vierten Folge geht es um die frühen Reflexe im weiteren Umfeld früher Bewegungsmuster und deren Auswirkungen bzw. Integrationsmöglichkeiten und Angebote. Wir beschreiben die frühen Reflexe in dieser Reihe recht ausführlich. Häufig äußern sich bestehende Restreaktionen früher Reflexe aber auch nur in abgeschwächter Form und mit geringfügigen Anzeichen. Eltern stehen heute auf vielerlei Weise unter Druck. Wir möchten Sie ermutigen, es Ihrem Kind dennoch zu ermöglichen, sich in der ihm angemessenen Zeit zu entwickeln.
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