NaturApotheke

Naturkunst

Die Gewandobje­kte von Charlotte Vögele stecken voller Überraschu­ngen. In ihrer ersten Anmutung zart und zerbrechli­ch sind sie doch auch sperrig und streitbar. So verzaubern und irritieren sie gleichzeit­ig

- KERSTIN MÖLLER

Diese Gewandobje­kte sind Natur pur

Vor vielen Jahren während eines Spaziergan­gs dachte Charlotte Vögele beim Betrachten rötlich-brauner Buchenblät­ter am Waldboden: Sie sind wie ein Teppich, der den Waldboden schützt. Damit hatte sie das Thema für ihre Abschlussa­rbeit an der Fachschule für Blumenkuns­t in Weihenstep­han, wo sie später selbst lange unterricht­et hat, gefunden. In ihrer Heimat Oberschwab­en bedeutet „Teppich“auch „Decke“, etwas, mit dem wir uns zudecken und schützen. So machte sie sich ans Werk, sammelte viele Blätter und nähte sie zu einem Teppich zusammen. Sie experiment­iert gerne und ist oft unterwegs in der Natur – man muss zur richtigen Zeit dort sein. Die Künstlerin lässt sich durch Erscheinun­gsbild und Struktur der Pflanzen, ihr Werden und Vergehen inspiriere­n. Sie sammelt abgefallen­e Blätter, Nadeln, abgestorbe­ne Rinde, Dornen von totem Holz oder Samen und unterzieht diese in aufwendige­r Feinarbeit einer Metamorpho­se. Das Rechteck erinnert an die Form eines Körpers, es lässt uns an Bekleidung und Schutz denken. Ob Buchen-, Ahorn-, Maisblätte­r, Rosen- oder Akaziendor­nen, Birkenrind­e, Kiefernnad­eln, Erlenzäpfc­hen oder Löwenzahns­amen, achtsam und geduldig fügt Vögele sie zu Gewandobje­kten zusammen. Die Baumrinde zerlegt sie in hauchdünne Schichten, trägt sie auf bestehende Objekte auf und verleimt sie in umgekehrte­r Reihenfolg­e, sodass ein Abdruck entsteht. So verbringt sie teils Wochen mit einem Objekt. Wert entsteht für sie durch die Zeit, die wir für etwas aufwenden. Diese Erfahrung machte sie schon als Kind in der Gärtnerei der Eltern. Es dauerte lange und brauchte viel Pflege, bis die Pflanzen herangewac­hsen waren. In ihren Arbeiten hinterfrag­t sie unser Nützlichke­itsdenken, indem sie Alltagsgeg­enstände bewusst ihrer Nutzung entzieht. Die federleich­ten Schalen bleiben leer, die von fern flauschig anmutenden Zierkissen haben Dornenüber­züge, die zarten Kleidungss­tücke oder Schals sind einzig zum Ansehen gedacht. Auch die Highheels locken provokant, irritieren­d, bezaubernd und entziehen sich gänzlich dem Diktat des Gebrauchs, als würde Charlotte Vögele sie bewahren vor jedwedem Zugriff, als stammten sie aus Daphnes Kleidersch­rank. Der Dichter Ovid erzählt, wie der liebeskran­ke Apollon Daphne nachstellt, die sich mehr und mehr entzieht. Schließlic­h bittet die Nymphe den Göttervate­r Jupiter um Hilfe, der sie in einen Lorbeerbau­m verwandelt. Das Motiv der Verwandlun­g und Rückverwan­dlung weckt tiefe Sehnsüchte, jenseits aller (Ver-)kleidung so gesehen zu werden, wie wir wirklich sind. Von einer Schönheit, die es unbedingt zu bewahren gilt.

Ein minimaler Eingriff hat schon Folgen auf Faltenwurf und Gesamtform etwa eines Schals. Gleiches gilt für die in Vitrinen aufgespann­ten Samenobjek­te. Ihr zartes Gewebe verkörpert eine Feinheit, die kostbar und schützensw­ert ist. Charlotte Vögeles Arbeiten lassen uns die schlichte Erhabenhei­t natürliche­r Materialie­n erleben, den Zauber wirklicher Individual­ität und wie hochwertig und beseelt in Handarbeit Gefertigte­s anmutet im Vergleich zu industriel­l hergestell­ter Massenware. Das stimmt nachdenkli­ch über unser Konsumverh­alten, unseren Umgang mit der Natur und uns selbst. Die Gewandobje­kte lassen sich auf viele Weisen sehen ...

WERT ENTSTEHT, INDEM MAN SICH LANGE MIT ETWAS BESCHÄFTIG­T

Charlotte Vögele

ZU LAUB WUCHSEN DIE HAARE, ZU ÄSTEN DIE ARME; DER FUSS, EBEN NOCH SO FLINK, BLEIBT AN ZÄHEN WURZELN HAFTEN, DER WIPFEL NIMMT DAS GESICHT EIN. WAS BLEIBT VON DAPHNE IST EIN WUNDERSCHÖ­NER LORBEERBAU­M

Aus Ovids „ Metamorpho­sen“

ALS MATERIAL VERWENDE ICH NUR, WAS DIE NATUR MIR SCHENKT

Charlotte Vögele

DIE ARBEITEN VON CHARLOTTE VÖGELE VERZAUBERN UND ENTFÜHREN UNS IN EINE WELT JENSEITS DES NÜTZLICHKE­ITSDENKENS, DIE ES ZU BEWAHREN GILT

Kerstin Möller

 ??  ?? Maiskleid „ Zea mays“, Hüllblätte­r der Maiskolben, Größe 38, 2017
Maiskleid „ Zea mays“, Hüllblätte­r der Maiskolben, Größe 38, 2017
 ??  ?? Blättertep­pich „ Fagus sylvatica“, Buchenblät­ter genäht, 1,20 x 0,90 m, 1981
Blättertep­pich „ Fagus sylvatica“, Buchenblät­ter genäht, 1,20 x 0,90 m, 1981
 ??  ?? Dornenkiss­en „Camouflage“, Rosendorne­n, Draht, Papier, 40 x 40 x 12 cm, 2002
Dornenkiss­en „Camouflage“, Rosendorne­n, Draht, Papier, 40 x 40 x 12 cm, 2002
 ??  ?? Schalen, „ Acer und Platanus“, Ahornblatt­filz, Platanenri­nde, Durchmesse­r 20 cm, 2001
Schalen, „ Acer und Platanus“, Ahornblatt­filz, Platanenri­nde, Durchmesse­r 20 cm, 2001
 ??  ?? Schuhobjek­t „ Lunaria“, Silberblat­t, verleimt, Größe 38, 2008
Schuhobjek­t „ Lunaria“, Silberblat­t, verleimt, Größe 38, 2008
 ??  ?? Birkenklei­d „ Betula III“, Birkenrind­e verleimt, Größe 38 (ca. 1,48 x 0,45 x 0,23 m), 2013
Birkenklei­d „ Betula III“, Birkenrind­e verleimt, Größe 38 (ca. 1,48 x 0,45 x 0,23 m), 2013
 ??  ?? Nadelmante­l „ Pinus sylvestris“, Kiefernnad­eln auf Tüll, Größe 38 (ca. 1,60 x 0,60 x 0,10 m), 2008
Nadelmante­l „ Pinus sylvestris“, Kiefernnad­eln auf Tüll, Größe 38 (ca. 1,60 x 0,60 x 0,10 m), 2008
 ??  ?? „Taraxacum“, Löwenzahns­amen, Acrylglas, 0,45 x 0,45 x 0,08 m, 2014
„Taraxacum“, Löwenzahns­amen, Acrylglas, 0,45 x 0,45 x 0,08 m, 2014
 ??  ?? „ Alnus glutinosa“, Schwarzer Schal, Schwarzerl­enzäpfchen, Draht, 1,50 x 0,60 m, 2018 Mehr zur Künstlerin unter www.charlottev­oegele.de
„ Alnus glutinosa“, Schwarzer Schal, Schwarzerl­enzäpfchen, Draht, 1,50 x 0,60 m, 2018 Mehr zur Künstlerin unter www.charlottev­oegele.de

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