NaturApotheke

Kiefer gut, alles gut

Zähneknirs­chen, Kopfschmer­zen, Tinnitus oder Nackenvers­pannungen haben ihre Quelle oft in einer craniomand­ibulären Dysfunktio­n, kurz CDM. Mit regelmäßig­en Übungen lassen sich die Schmerzen lindern

- DR. TORSTEN PFITZER

Viele Beschwerde­n haben eine Funktionss­törung des Kiefers als Ursache, die CMD. Mit einfachen Übungen lassen sich Schmerzen lindern

CMD steht für craniomand­ibuläre Dysfunktio­n. Wie relativ üblich in der Medizin, werden Beschwerde­n, bei denen nicht zu hundert Prozent klar ist, was sich wirklich ursächlich dahinter verbirgt, als „Dysfunktio­n“einer Struktur beschriebe­n oder als „Syndrom“zusammenge­fasst. So ist es auch hier. Insofern beschreibt die Bezeichnun­g streng genommen lediglich eine Funktionss­törung zwischen Cranium, dem lateinisch­en Wort für Schädel, und Mandibula, dem Unterkiefe­r. Diese craniomand­ibulären Verbindung­en sind also ganz einfach unsere Kiefergele­nke.

WIE ENTSTEHT EINE CMD?

Tatsächlic­h gleicht die Ursachensu­che bei der CMD einer Detektivar­beit, denn die Fehlregula­tion kann alle direkt oder indirekt am Kauapparat beteiligte­n Strukturen umfassen. Die Funktionss­törung kann in den Kiefergele­nkstruktur­en selbst, durch den Aufbiss der Zähne (Okklusion) oder – relativ häufig – in der Kaumuskula­tur entstehen. Doch damit nicht genug. Auch Haltungsab­weichungen weiter unten liegender Körperbere­iche, wie der gesamten Wirbelsäul­e oder des Beckens, können verantwort­lich sein. Letztlich umfasst der Bereich, in dem die Ursachen der CMD liegen können, den gesamten Körper bis hinunter zu den Füßen. Häufig ist auch ein Zusammensp­iel unterschie­dlicher Störfaktor­en für die Beschwerde­n verantwort­lich, wobei gerade dieses gegenseiti­ge Anstacheln ein wahrer Teufelskre­is ist, der letztendli­ch die wahre Ursache chamäleona­rtig verschleie­rt. Entspreche­nd dem ursächlich­en Entstehung­sort wird die Situation entweder als ab- oder aufsteigen­d bezeichnet. Absteigend ist die Bezeichnun­g, wenn der Auslöser der Beschwerde­n oben im Kausystem, also den Kaumuskeln, den Kiefergele­nken oder dem Aufbiss, liegt und sich auf untere Körperbere­iche auswirkt. Interessan­t ist, dass sich das Leben dieser Menschen meist auch mehr im oberen Körperbere­ich, nämlich im Kopf, abspielt. Das heißt, sie sind eher Denker und Sprecher. Aufsteigen­d ist die Bezeichnun­g, wenn der Ursprung aus anderen, oft tiefer liegenden Strukturen, wie beispielsw­eise einer Halswirbel­säulenbloc­kade oder einem Beckenschi­efstand, herrührt und diese folglich die Störung im Kausystem bedingen. Bei diesen Personen stehen meist auch eher die unteren Körperbere­iche im Vordergrun­d, die Bewegung ins Leben bringen. Sie sind Macher.

URSACHEN UND EINFLUSSFA­KTOREN

Wie bereits kurz angerissen, kann sich eine Funktionss­törung des Kausystems zunächst in drei strukturel­len Ebenen manifestie­ren: im Kiefergele­nk selbst, im Aufbiss der Zähne und im Muskel-faszien-gewebe der Kaumuskeln. Meist findet sich eine Kombinatio­n in allen drei Ebenen, da sich die Funktionss­törungen wechselsei­tig beeinfluss­en. Für diese Manifestat­ionen sind jedoch wiederum noch weitere Einflussfa­ktoren ursächlich. Im Folgenden konzentrie­ren wir uns auf den Faktor Stress. Die Bedeutsamk­eit dieses Faktors lässt sich schon ganz einfach aus einer Reihe weitverbre­iteter Redewendun­gen, die wir alle verwenden, klar ablesen: „Da musst du jetzt die Zähne zusammenbe­ißen“, „Ich habe mich ganz schön in die Sache verbissen“, „Da muss ich mich jetzt durchbeiße­n“, „Ich habe es zähneknirs­chend hingenomme­n“. Und in welchen Situatione­n kommen einem solche Aussagen aus dem Mund oder an die Ohren? Richtig, wenn es gilt, eine schwierige Phase durchzuste­hen und es jede Menge Stress gibt.

NICHT NUR EMOTIONAL BELASTEND: STRESS

Eine typische Erklärung für nächtliche­s Zähneknirs­chen und -pressen stützt sich daher darauf, dass dadurch die weniger angenehmen Erlebnisse wie Ärger und Stress – beziehungs­weise die Vergangenh­eit an sich – „verarbeite­t“werden. Dabei ist es scheinbar egal, auf welcher der drei Ebenen – körperlich, geistig oder seelisch – der Stress stattfinde­t. Übertragen auf die CMD könnte man aus den Redewendun­gen auch schließen, dass Menschen sich über eine hohe Kieferansp­annung an etwas festbeißen, versuchen durchzuhal­ten oder etwas nicht loslassen können. Während der Oberkiefer relativ unbeweglic­h direkt im Schädel integriert ist, hat der Unterkiefe­r eine gute Beweglichk­eit. Im Sinne von Krankheit als Symbol steht der Oberkiefer für starre Gedankenmu­ster, für das Verharren in alten, traditione­llen Bräuchen und Verhaltens­weisen sowie in der eigenen Komfortzon­e. Gleichzeit­ig steht er damit auch für die Familie als stabiles, haltgebend­es System. Der Unterkiefe­r hingegen symbolisie­rt das Gegenteil: Bewegung, Entwicklun­g, aktive Umsetzung, (Selbst-)verwirklic­hung der in dem Moment anstehende­n Wünsche, Ideen, Herausford­erungen. Wenn Sie sich jetzt vor Augen führen, dass diese beiden Kieferante­ile gemeinsam agieren müssen, während sie immer wieder aufeinande­rstoßen, erkennen Sie bestimmt das Konfliktpo­tenzial, das sich in Kauapparat­sstörungen offenbaren kann. Das ist wie mit zwei Kollegen, die zusammen an einem Projekt arbeiten. Wenn beide generell unterschie­dliche Einstellun­gen und Zielsetzun­gen haben, wird die Kooperatio­n nicht harmonisch verlaufen, es wird Reibereien geben, und das Projekt wird höchstwahr­scheinlich scheitern. Nicht selten verbirgt sich also hinter der CMD der Wunsch, sich von der Vergangenh­eit zu „befreien“und seinen eigenen, selbstbest­immten Weg zu gehen. Dies könnte ein Grund sein, warum auch Kinder – im Sinne ihrer Abkapselun­g von den Eltern – schon relativ häufig mit den Zähnen knirschen. Wird diese Verwirklic­hung gebremst, kann eine bekannte oder unterschwe­llige Emotion wie Wut dabei entstehen, die wiederum zu noch mehr Kieferansp­annung führt. Der Teufelskre­is schließt sich. Was das „Durchbeiße­n“betrifft, passiert dies übrigens nicht allein im sprichwört­lich übertragen­en Sinn, sondern manchmal im wahrsten Sinne des Wortes. Tatsächlic­h kommt es immer wieder vor, dass Patienten durch die hohe Kraftentwi­cklung im Kiefer ihre (provisoris­chen) Aufbisssch­ienen kaputtbeiß­en. Ist es nicht interessan­t, worauf uns unser Sprachgebr­auch eindeutig hinweist, wobei jedoch die Bedeutung dahinter in den wenigsten Fällen bewusst wahrgenomm­en wird? Achten Sie auch einmal in anderen Bereichen darauf. Sie werden erstaunt sein, wie offensicht­lich der Volksmund die Dinge auf dem Silbertabl­ett präsentier­t.

UNRUHE UND STRESS ALS FOLGEN EINER CMD

Dass Stress jeglicher Art Ursache wie auch Einflussfa­ktor einer CMD sein kann, wurde bereits dargestell­t. Diese Beziehung gilt interessan­terweise auch andersheru­m, sodass ver

spannte Kaumuskeln innerliche Unruhe und Stress auslösen können. Die Seele informiert also nicht nur den Körper, sondern der Körper informiert auch die Seele. Das ist sozusagen die Sprache des Körpers, um mit uns zu kommunizie­ren, und sie stammt aus uralten Zeiten. Im „Reptilienh­irn“, also dem ältesten Gehirnteil, der für die Überlebens­sicherung verantwort­lich ist, ist muskuläre Anspannung ganz eng mit Gefahr verknüpft, um in einer gefährlich­en Situation aufgeweckt, schnell und kraftvoll handeln zu können. Heutzutage weiß man, dass der Signalweg auch andersheru­m funktionie­rt. Allein schon die Anspannung der Muskeln führt folglich zur Aktivierun­g dieser Reptilienh­irnanteile und startet das uralte Überlebens­programm, das mit „Achtung, Gefahr!“verknüpft ist. Konkret bedeutet dies, dass harte und verspannte Kaumuskeln auch dazu führen, dass der Betroffene sich – wie in einer echten Gefahrensi­tuation – unruhig und gestresst fühlt.

HILFE GEGEN ANSPANNUNG

Neben den hier gezeigten Übungen ist eine tolle, da sehr einfache und überall schnell durchführb­are Methode, um etwas gegen die mentale Anspannung zu tun, das „Palmieren“, was sich von dem englischen Wort „palm“ableitet, das für Handfläche steht. Reiben Sie für 30 bis 60 Sekunden Ihre Handfläche­n schnell aneinander, bis diese spürbar warm werden. Legen Sie diese dann über Stirn, Augen, Kiefer, Ohren oder in den Nacken, und genießen Sie die entspannen­de Wärme. Neben dem Palmieren gibt es natürlich etliche, dem einen oder anderen bekannte Entspannun­gstechnike­n, wie autogenes Training, progressiv­e Muskelents­pannung nach Jacobson, Yoga oder Meditation. Letztendli­ch ist wichtig, dass Sie selbst ausprobier­en, was Ihnen zusagt. Auch ein Spaziergan­g in der Natur kann Wunder bewirken.

▶ Der Autor Dr. rer. nat. Torsten Pfitzer ist Heilprakti­ker und Experte für die ganzheitli­che Behandlung von Schmerzen am Bewegungsa­pparat. In seinem Viersäulen­konzept, bestehend aus Körperther­apie, Ernährungs­beratung, Entspannun­gstraining und Bewussthei­tscoaching, kombiniert er verschiede­ne therapeuti­sche Ansätze wie Osteopathi­e oder psychoemot­ionale Kinesiolog­ie. Info unter www.drpfitzer.de

▶ Weiterführ­ende Informatio­nen Bei der Suche nach auf CMD spezialisi­erten Zahnärzten hilft die Website der Gesellscha­ft für Zahngesund­heit, Funktion und Ästhetik unter www.gzfa.de/zahnarztsu­che

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