Kiefer gut, alles gut
Zähneknirschen, Kopfschmerzen, Tinnitus oder Nackenverspannungen haben ihre Quelle oft in einer craniomandibulären Dysfunktion, kurz CDM. Mit regelmäßigen Übungen lassen sich die Schmerzen lindern
Viele Beschwerden haben eine Funktionsstörung des Kiefers als Ursache, die CMD. Mit einfachen Übungen lassen sich Schmerzen lindern
CMD steht für craniomandibuläre Dysfunktion. Wie relativ üblich in der Medizin, werden Beschwerden, bei denen nicht zu hundert Prozent klar ist, was sich wirklich ursächlich dahinter verbirgt, als „Dysfunktion“einer Struktur beschrieben oder als „Syndrom“zusammengefasst. So ist es auch hier. Insofern beschreibt die Bezeichnung streng genommen lediglich eine Funktionsstörung zwischen Cranium, dem lateinischen Wort für Schädel, und Mandibula, dem Unterkiefer. Diese craniomandibulären Verbindungen sind also ganz einfach unsere Kiefergelenke.
WIE ENTSTEHT EINE CMD?
Tatsächlich gleicht die Ursachensuche bei der CMD einer Detektivarbeit, denn die Fehlregulation kann alle direkt oder indirekt am Kauapparat beteiligten Strukturen umfassen. Die Funktionsstörung kann in den Kiefergelenkstrukturen selbst, durch den Aufbiss der Zähne (Okklusion) oder – relativ häufig – in der Kaumuskulatur entstehen. Doch damit nicht genug. Auch Haltungsabweichungen weiter unten liegender Körperbereiche, wie der gesamten Wirbelsäule oder des Beckens, können verantwortlich sein. Letztlich umfasst der Bereich, in dem die Ursachen der CMD liegen können, den gesamten Körper bis hinunter zu den Füßen. Häufig ist auch ein Zusammenspiel unterschiedlicher Störfaktoren für die Beschwerden verantwortlich, wobei gerade dieses gegenseitige Anstacheln ein wahrer Teufelskreis ist, der letztendlich die wahre Ursache chamäleonartig verschleiert. Entsprechend dem ursächlichen Entstehungsort wird die Situation entweder als ab- oder aufsteigend bezeichnet. Absteigend ist die Bezeichnung, wenn der Auslöser der Beschwerden oben im Kausystem, also den Kaumuskeln, den Kiefergelenken oder dem Aufbiss, liegt und sich auf untere Körperbereiche auswirkt. Interessant ist, dass sich das Leben dieser Menschen meist auch mehr im oberen Körperbereich, nämlich im Kopf, abspielt. Das heißt, sie sind eher Denker und Sprecher. Aufsteigend ist die Bezeichnung, wenn der Ursprung aus anderen, oft tiefer liegenden Strukturen, wie beispielsweise einer Halswirbelsäulenblockade oder einem Beckenschiefstand, herrührt und diese folglich die Störung im Kausystem bedingen. Bei diesen Personen stehen meist auch eher die unteren Körperbereiche im Vordergrund, die Bewegung ins Leben bringen. Sie sind Macher.
URSACHEN UND EINFLUSSFAKTOREN
Wie bereits kurz angerissen, kann sich eine Funktionsstörung des Kausystems zunächst in drei strukturellen Ebenen manifestieren: im Kiefergelenk selbst, im Aufbiss der Zähne und im Muskel-faszien-gewebe der Kaumuskeln. Meist findet sich eine Kombination in allen drei Ebenen, da sich die Funktionsstörungen wechselseitig beeinflussen. Für diese Manifestationen sind jedoch wiederum noch weitere Einflussfaktoren ursächlich. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf den Faktor Stress. Die Bedeutsamkeit dieses Faktors lässt sich schon ganz einfach aus einer Reihe weitverbreiteter Redewendungen, die wir alle verwenden, klar ablesen: „Da musst du jetzt die Zähne zusammenbeißen“, „Ich habe mich ganz schön in die Sache verbissen“, „Da muss ich mich jetzt durchbeißen“, „Ich habe es zähneknirschend hingenommen“. Und in welchen Situationen kommen einem solche Aussagen aus dem Mund oder an die Ohren? Richtig, wenn es gilt, eine schwierige Phase durchzustehen und es jede Menge Stress gibt.
NICHT NUR EMOTIONAL BELASTEND: STRESS
Eine typische Erklärung für nächtliches Zähneknirschen und -pressen stützt sich daher darauf, dass dadurch die weniger angenehmen Erlebnisse wie Ärger und Stress – beziehungsweise die Vergangenheit an sich – „verarbeitet“werden. Dabei ist es scheinbar egal, auf welcher der drei Ebenen – körperlich, geistig oder seelisch – der Stress stattfindet. Übertragen auf die CMD könnte man aus den Redewendungen auch schließen, dass Menschen sich über eine hohe Kieferanspannung an etwas festbeißen, versuchen durchzuhalten oder etwas nicht loslassen können. Während der Oberkiefer relativ unbeweglich direkt im Schädel integriert ist, hat der Unterkiefer eine gute Beweglichkeit. Im Sinne von Krankheit als Symbol steht der Oberkiefer für starre Gedankenmuster, für das Verharren in alten, traditionellen Bräuchen und Verhaltensweisen sowie in der eigenen Komfortzone. Gleichzeitig steht er damit auch für die Familie als stabiles, haltgebendes System. Der Unterkiefer hingegen symbolisiert das Gegenteil: Bewegung, Entwicklung, aktive Umsetzung, (Selbst-)verwirklichung der in dem Moment anstehenden Wünsche, Ideen, Herausforderungen. Wenn Sie sich jetzt vor Augen führen, dass diese beiden Kieferanteile gemeinsam agieren müssen, während sie immer wieder aufeinanderstoßen, erkennen Sie bestimmt das Konfliktpotenzial, das sich in Kauapparatsstörungen offenbaren kann. Das ist wie mit zwei Kollegen, die zusammen an einem Projekt arbeiten. Wenn beide generell unterschiedliche Einstellungen und Zielsetzungen haben, wird die Kooperation nicht harmonisch verlaufen, es wird Reibereien geben, und das Projekt wird höchstwahrscheinlich scheitern. Nicht selten verbirgt sich also hinter der CMD der Wunsch, sich von der Vergangenheit zu „befreien“und seinen eigenen, selbstbestimmten Weg zu gehen. Dies könnte ein Grund sein, warum auch Kinder – im Sinne ihrer Abkapselung von den Eltern – schon relativ häufig mit den Zähnen knirschen. Wird diese Verwirklichung gebremst, kann eine bekannte oder unterschwellige Emotion wie Wut dabei entstehen, die wiederum zu noch mehr Kieferanspannung führt. Der Teufelskreis schließt sich. Was das „Durchbeißen“betrifft, passiert dies übrigens nicht allein im sprichwörtlich übertragenen Sinn, sondern manchmal im wahrsten Sinne des Wortes. Tatsächlich kommt es immer wieder vor, dass Patienten durch die hohe Kraftentwicklung im Kiefer ihre (provisorischen) Aufbissschienen kaputtbeißen. Ist es nicht interessant, worauf uns unser Sprachgebrauch eindeutig hinweist, wobei jedoch die Bedeutung dahinter in den wenigsten Fällen bewusst wahrgenommen wird? Achten Sie auch einmal in anderen Bereichen darauf. Sie werden erstaunt sein, wie offensichtlich der Volksmund die Dinge auf dem Silbertablett präsentiert.
UNRUHE UND STRESS ALS FOLGEN EINER CMD
Dass Stress jeglicher Art Ursache wie auch Einflussfaktor einer CMD sein kann, wurde bereits dargestellt. Diese Beziehung gilt interessanterweise auch andersherum, sodass ver
spannte Kaumuskeln innerliche Unruhe und Stress auslösen können. Die Seele informiert also nicht nur den Körper, sondern der Körper informiert auch die Seele. Das ist sozusagen die Sprache des Körpers, um mit uns zu kommunizieren, und sie stammt aus uralten Zeiten. Im „Reptilienhirn“, also dem ältesten Gehirnteil, der für die Überlebenssicherung verantwortlich ist, ist muskuläre Anspannung ganz eng mit Gefahr verknüpft, um in einer gefährlichen Situation aufgeweckt, schnell und kraftvoll handeln zu können. Heutzutage weiß man, dass der Signalweg auch andersherum funktioniert. Allein schon die Anspannung der Muskeln führt folglich zur Aktivierung dieser Reptilienhirnanteile und startet das uralte Überlebensprogramm, das mit „Achtung, Gefahr!“verknüpft ist. Konkret bedeutet dies, dass harte und verspannte Kaumuskeln auch dazu führen, dass der Betroffene sich – wie in einer echten Gefahrensituation – unruhig und gestresst fühlt.
HILFE GEGEN ANSPANNUNG
Neben den hier gezeigten Übungen ist eine tolle, da sehr einfache und überall schnell durchführbare Methode, um etwas gegen die mentale Anspannung zu tun, das „Palmieren“, was sich von dem englischen Wort „palm“ableitet, das für Handfläche steht. Reiben Sie für 30 bis 60 Sekunden Ihre Handflächen schnell aneinander, bis diese spürbar warm werden. Legen Sie diese dann über Stirn, Augen, Kiefer, Ohren oder in den Nacken, und genießen Sie die entspannende Wärme. Neben dem Palmieren gibt es natürlich etliche, dem einen oder anderen bekannte Entspannungstechniken, wie autogenes Training, progressive Muskelentspannung nach Jacobson, Yoga oder Meditation. Letztendlich ist wichtig, dass Sie selbst ausprobieren, was Ihnen zusagt. Auch ein Spaziergang in der Natur kann Wunder bewirken.
▶ Der Autor Dr. rer. nat. Torsten Pfitzer ist Heilpraktiker und Experte für die ganzheitliche Behandlung von Schmerzen am Bewegungsapparat. In seinem Viersäulenkonzept, bestehend aus Körpertherapie, Ernährungsberatung, Entspannungstraining und Bewusstheitscoaching, kombiniert er verschiedene therapeutische Ansätze wie Osteopathie oder psychoemotionale Kinesiologie. Info unter www.drpfitzer.de
▶ Weiterführende Informationen Bei der Suche nach auf CMD spezialisierten Zahnärzten hilft die Website der Gesellschaft für Zahngesundheit, Funktion und Ästhetik unter www.gzfa.de/zahnarztsuche