Frühkindliche Reflexe, Teil 2
Frühkindliche Reflexe helfen dem Kind schon in der Schwangerschaft, in Bewegung zu kommen, die Geburt gut zu meistern und zu lernen, sich eigenständig zu bewegen. Diesmal stellen wir weitere frühe Reflexe vor und erklären, wie sie wirken
Sie helfen dem Baby, in Bewegung zu kommen. Wir erklären, wie sie wirken
Im ersten Teil unserer Serie über frühkindliche Reflexe (siehe dazu Naturapotheke 02/2019) ging es darum, wie diese das frühe Bewegungslernen unterstützen. Mit der zunehmenden Bewegungserfahrung des Kindes insbesondere im ersten halben Lebensjahr wandeln sie sich und geben Raum für die weitere Entwicklung. Das nennt man fachsprachlich Hemmen. Bleiben sie jedoch bestehen, führt das zu unbewussten und ungewollten Bewegungsreaktionen und auch das Koordinieren von Bewegungsabläufen fällt schwerer. Eine gelungene Bewegungsentwicklung ist so bedeutsam, weil sie maßgeblich die Basis für unsere Bewegungskompetenzen bildet und mitbestimmt, wie wir uns als Kinder und als Erwachsene bewegen und wie viel Freude, Selbstvertrauen und Gelassenheit wir dabei empfinden. Im zweiten Teil unserer Einführung setzen wir die Vorstellung frühkindlicher Reflexe fort. Generell lässt sich sagen, wenn das Kind gut und eigenständig in Bewegung kommt, dann können die Reflexe leichter integriert werden. Dies gilt leider auch umgekehrt. Aus diesem Grund hilft es sehr, wenn die Eltern – eine wohlwollende, verlässliche Bindung zu ihrem Kind vorausgesetzt – ihm darüber hinaus genügend Bewegungsmöglichkeiten eröffnen und das Vertrauen haben, dass ihr Kind eigenständig in Bewegung kommen kann.
WEITERE FRÜHKINDLICHE REFLEXE
1. Der Plantarreflex Der Plantarreflex entsteht schon früh in der Schwangerschaft (um die 11. Schwangerschaftswoche). Ausgelöst wird er durch die Berührung der vorderen Fußsohle, die Zehen spannen sich an, als ob sie greifen wollten. Endet die Berührung, entspannt sich der Fuß wieder und die Zehen lösen sich. Bleibt der Reflex zum Teil aktiv, so erschwert das unter Umständen das gut balancierte entspannte Stehen mit flachem Fuß oder beim Gehen auch das Abrollen des Fußes. Spätere Fehlhaltungen durch beständiges Kompensieren sind dadurch möglich. 2. Der tonische Labyrinthreflex (TLR) Den tonischen Labyrinthreflex gibt es in zwei Formen, als TLR vorwärts und als TLR rückwärts. Sie sind dem Bereich des Gleichgewichts zugeordnet und haben eine große Auswirkung auf den Streck- und Beugetonus. Beide entstehen etwa am Ende des ersten Schwangerschaftsdrittels und sind bei der Geburt vorhanden. Während der TLR vorwärts bereits im dritten bis vierten Lebensmonat gehemmt wird, wandelt sich der TLR allmählich und wird erst im Alter bis zu drei Jahren gehemmt. Ausgelöst werden beide Reflexe durch Bewegungen des Kopfes. Beim TLR vorwärts wird das Köpfchen des Kindes
über die Mittellinie nach vorne gebracht, es reagiert mit einer Ganzkörperbewegung, die nach vorne hin der fötalen Beugestellung entspricht. Beim TLR rückwärts fällt der Kopf in Rückenlage nach hinten, was zu einer Streckung von Armen und Beinen führt und so die Aufrichtung gegen die Schwerkraft einleitet. Auch hilft der TLR dem Kind, erste Sinneswahrnehmungen für Gleichgewicht und Raum zu erleben. Durch Beugen oder Strecken des Körpers wirkt er auf den gesamten Muskeltonus. Mit der Zeit lernt das Kind, seine Bewegungen zu verfeinern, sodass es den Reflex nicht mehr braucht, der dann von Halte- und Stellreaktionen integriert wird. Diese unterstützen das Kind beim Aufbauen eines kontrollierten Muskeltonus. Mit etwa sechs Monaten sollte das Kind seine Kopfbewegungen selbst steuern können. Nun kann es leichter sein Gleichgewicht entwickeln, sich leichter drehen und bewegen, was die Voraussetzung für das spätere eigenständige Sitzen ist. Bei Problemen mit der Integration des TLR kann es zu Gleichgewichtsirritationen kommen, weil die Bewegung des Kopfes den Muskeltonus ständig verändert. Als Folge ist das Kind in der Tendenz eher zusammengesackt oder überstreckt. Das erschwert es ihm generell, sich zu bewegen, was zu einer anderen räumlichen Erfahrung führt, als wenn das Kind den Raum selbst spielerisch durch seine Bewegung kennen lernen kann. So fällt es ihm schwer, Raum, Entfernung und Geschwindigkeit richtig einzuschätzen. Ist der TLR teilweise noch aktiv, wirkt sich das auch auf die Kopfstellreaktionen aus und beeinträchtigt ebenfalls die Augen, die von dem gleichen Regelkreis im Gehirn gesteuert werden. Dann kann es beispielsweise Probleme mit dem Krabbeln geben: Bewegt das Kind den Kopf in Nackenlage, streckt es automatisch die Beine. Dies erschwert die Bewegungsentwicklung des Kindes. Bleiben Restreaktionen des TLR bestehen, kann das auch Folgen auf die Körperhaltung des Kindes haben. Diese Kinder haben unter Umständen Schwierigkeiten, Ordnung zu halten, Buchstaben in der richtigen Reihenfolge zu schreiben, Zahlenreihen zu ergänzen, logische Reihenfolgen einzuhalten. Wegen ihrer mangelnden Orientierung im Raum kann es Links-rechts-probleme geben. Sie haben ein schlechtes Zeitgefühl.
3. Der asymmetrisch tonische Nackenreflex (ATNR) Der ATNR entsteht etwa in der 18. Schwangerschaftswoche. Ausgelöst wird er, wenn das Köpfchen des Babys zu einer Seite hin gedreht wird, als Reflexantwort streckt das Kind Arm und Bein in die Richtung des Gesichts, während es Arm und Bein auf der anderen Seite beugt. Wie viele andere Reflexe ermöglicht der ATNR es dem Kind, im Mutterleib Bewegungen zu machen, die seinen Muskeltonus entwickeln und den Gleichgewichtssinn stimulieren. Der Reflex sollte bis zur Geburt entwickelt sein, denn nur dann kann das Baby während des Geburtsvorgangs aktiv mitarbeiten. Umgekehrt verstärken die Wehen die Aktivierung des ATNR, was ihn wiederum auf seine Aufgabe während der ersten Lebensmonate vorbereitet. Mithilfe des ATNR übt das Baby den Tonus für spätere Greif- und Streckbewegungen, zudem entwickelt sich hier eine erste Auge-hand-koordination. Im Alter von vier bis sechs Monaten wird der Reflex gehemmt und integriert in den Amphibienreflex und den Rollreflex. Es folgt die Phase des Robbens und Krabbelns, in der das Kind lernt, die Mittellinie zu überkreuzen und die dominante Hand zu finden. Der Reflex ist aktiv in der Zeit, in der sich die visuelle Fixierung auf nahegelegene Objekte entwickelt. Somit ist der ATNR für die visuelle Bewegungsentwicklung wichtig. Bleibt der Reflex über seine normale Wirkzeit hinaus aktiv, kann es für das Kind schwierig sein, einem Gegenstand, der sich bewegt, mit dem Blick zu folgen, insbesondere über die Körpermittellinie hinaus. Neben grobmotorischen Problemen kann es unter anderem zu Problemen mit dem Gleichgewicht, in der Koordination von Bewegungsabläu
fen, bei der Entwicklung der Seitigkeit, bei der Auge-hand-Koordination sowie bei der vollständigen Ausbildung einer Ohrpräferenz kommen, was zu Sprachentwicklungsverzögerungen führen kann.
4. Der spinale Galantreflex
Der spinale Galantreflex oder auch Rückgratreflex entsteht etwa in der 20. Schwangerschaftswoche und soll bei der Geburt aktiv vorhanden sein. Er ist für den Geburtsprozess wichtig. Indem sich die Muskulatur in der Gebärmutter zusammenzieht, wird der Lendenwirbelbereich des Säuglings stimuliert. Dadurch wird der Reflex aktiviert, was zu einer Hüftbeugung und damit einhergehend zu einer Drehung in Richtung der Stimulation führt. So unterstützt der spinale Galantreflex das Baby dabei, sich leichter durch den Geburtskanal zu bewegen. Streicht man bei einem Säugling in Bauchlage mit dem Finger etwa 3 cm neben der Wirbelsäule entlang, beugt das Baby sich zur Seite des Reizes hin. Wenn der Reflex aktiv ist, kann es zu abrupten Reaktionen kommen. Ab etwa drei Monaten nach der Geburt sollte der Reflex erlöschen. Wenn der spinale Galantreflex nicht gehemmt ist, kann das Kind möglicherweise Probleme bei längerem Stillsitzen haben, leichter ablenkbar, motorisch unruhig und hyperaktiv sein und sich schlechter konzentrieren. Ist der Reflex noch in hohem Maße aktiv, führt das unter Umständen zu verminderter Blasenkontrolle nach dem fünften Lebensjahr, ausgelöst etwa mittels unbewusster Stimulation wie durch die Bettdecke, eine Stuhllehne oder den Hosenbund. Ist der Reflex noch einseitig aktiv, kann sich das auf Körperhaltung und Gang auswirken. Dann fehlen flüssige Bewegungsabläufe, es bildet sich möglicherweise eine Skoliose aus.
5. Der Such- und Saugreflex
Der Suchreflex entsteht erst im letzten Drittel der Schwangerschaft und soll bei der Geburt vollständig vorhanden
sein. Ausgelöst wird er durch das leichte Berühren von Wange oder Mundwinkel. Daraufhin dreht das Baby den Kopf in die Richtung der Bewegung. Sein Mund öffnet sich und es streckt die Zunge zum Saugen heraus. Der Saugreflex lässt das Kind saugen. Ausgelöst wird er unmittelbar an den Lippen und an der Zunge. Dass das Kind saugen kann, war in früheren Zeiten überlebenswichtig. Das Kind integriert diese Reflexe dann schrittweise, während es lernt, seine Nahrungsquelle, die Brust der Mutter, selbstständig zu ergreifen. Die Intensität des Reflexablaufes wird dabei insbesondere vom Sättigungsgrad des Babys bestimmt. Für den Fall, dass Such- und Saugreflex nicht vollständig gehemmt werden, führt dies möglicherweise zu Schluck- und Kaubeschwerden. Unter anderem kann dies auch verstärkte Empfindlichkeit um Lippen und Mund, Sprach- und Artikulationsschwierigkeiten oder manuelle Ungeschicklichkeit bewirken. 6. Der Landaureflex Der Landaureflex oder die Landaureaktion wirkt in der Zeit ab etwa dem dritten Lebensmonat bis zum zweiten Geburtstag. Wird das Kind in Bauchlage in der Luft gehalten, so hebt es den Kopf (ab etwa drittem Monat). Ab etwa siebtem Monat streckt es dabei zudem die Wirbelsäule und Beine (sieht aus, als ob das Kind eine Fliegerposition einnimmt). Wird das Köpfchen nach unten bewegt, tritt stattdessen vor allem im Hüftbereich eine Beugungsreaktion ein. Nach zwei bis zweieinhalb Jahren sollte der Landaureflex integriert sein. Bei aktivem Landaureflex sind oft auch andere frühkindliche Reflexe noch aktiv. Die Folgen sind etwa, dass die Beine dieser Kinder angespannt, nach hinten gestreckt sind und steif wirken. Durch ihre schlechte Haltung ist ihr Blick eher gesenkt. So atmen sie nicht gut, was wiederum zu Problemen mit Aufmerksamkeit und Konzentration führen kann. Diese Kinder haben Schwierigkeiten beim Hüpfen und Springen und dabei, das Brustschwimmen zu erlernen.
7. Der symmetrisch tonische Nackenreflex (STNR) Dieser Reflex ist bei der Geburt vorhanden und hilft dem Baby unmittelbar nach der Geburt, sich über den Bauch der Mutter hoch zur Brust zu bewegen. Erneut tritt er dann in
Abhängigkeit von der Bewegungsentwicklung des Kindes etwa in der Zeit vom achten bis zum elften Lebensmonat auf, um das Kind dabei zu unterstützen, sich von der Bauchlage aus auf Hände und Knie aufzurichten. Auslöser für den STNR ist eine Beugung des Kopfes nach vorne oder hinten. Das Senken des Kopfes bewirkt eine Beugung der Arme und eine Streckung der Beine. Umgekehrt führt das Anheben des Kopfes zum Strecken der oberen Körperhälfte und der Arme sowie zum Beugen der Beine. Dieser Reflex hilft dem Kind, aus der Bauchlage das Becken zu heben und auf den Fersensitz zu kommen, um dann später in die Vier-füßler-haltung und wieder zurück auf den Bauch zu gelangen. Da in dieser Entwicklungsphase die Kopfhaltung die Haltung der Arme und Beine bestimmt, kann das Baby sich aus dieser Position noch nicht vorwärts bewegen. Um die Integration des STNR sowie generell der frühkindlichen Reflexe zu fördern, brauchen Kinder in den ersten Lebensmonaten das wohlwollende Getragensein mit Körperkontakt. Zugleich braucht das Kind die Möglichkeit, ausgiebig am Boden zu spielen, seine motorischen Fähigkeiten in der Bauchlage und im Drehen und Rollen zu üben. So kann es das Robben entwickeln und ist vorbereitet auf das nachfolgende Krabbeln, wenn der STNR wirksam wird. Der STNR ist auch für eine gute Augenmotorik wichtig: Beim Heben des Kopfes lernt das Kind, in größere Ferne zu sehen, beim Senken des Kopfes kehrt der Blick zur Nahdistanz zurück. Viele Kinder, die tollpatschig wirken oder Lese/ Schreib-schwierigkeiten zeigen, hatten möglicherweise nicht ausreichend lange Phasen des Robbens und Krabbelns in ihrer Babyzeit. Das Vor- und Zurückschaukeln auf Händen und Knien hilft den Kindern, den STNR zu hemmen. Wirkt der Reflex weiter, kann die folgende Krabbelphase ausbleiben. Unter Umständen bereiten dann Purzelbaum oder Brustschwimmen und Fahrradfahren in der späteren Kinderzeit Schwierigkeiten. Bei Kindern mit einem aktiven STNR finden sich in der Regel auch andere aktive Reflexe. Das kann zu einer ungünstigen Bewegungsentwicklung führen, die sich in der Folge etwa in einer schlechten Körperhaltung und einem schlurfenden Gang zeigt. Die Kinder sitzen dann oft mit unterschlagenen Beinen da oder liegen beim Schreiben nach längerer Zeit beinahe auf dem Schreibtisch. Ein noch aktiver STNR kann außerdem die Aufmerksamkeit beeinträchtigen, da es dem Kind schwerfällt, über längere Zeit eine Sitzposition beizubehalten. Können sie die Sitzposition wechseln oder stehen, fällt es diesen Kindern leichter, sich zu konzentrieren.
AUSBLICK
In Folge 3 und 4 unserer Reihe berichten wir darüber, wie sich noch bestehende Restreaktionen früher Reflexe feststellen und integrieren lassen, damit die Entwicklung des Kindes gefördert wird. Von der Reflexintegration bis hin zur komplexen Arbeit mit frühen Bewegungsmustern gibt es verschiedene Möglichkeiten, Hilfe für Ihr Kind zu bekommen oder auch selbst mehr darüber zu lernen, wenn Sie zum Beispiel mit Kindern arbeiten. Erwachsene können bei Bewegungsproblemen ebenfalls Unterstützung erhalten.
▶ Quellenangaben:
• Sally Goddard Blythe: Greifen und Begreifen, VAK Verlag, 2016
• Dorothea Beigel: Flügel und Wurzeln, Vml-verlag, 2017
• www.bewegungsevolution.com
• Institut für Neuro-physio logische Psychologie, INPP, www.inpp.de
• www.rit-reflexintegration.de Zeichnungen: Dan Chen, aus „Greifen und Begreifen“von Sally Goddard Blythe, mit freundlicher Genehmigung der VAK Verlags Gmbh, D-79199 Kirchzarten, www.vakverlag.de