NaturApotheke

Serie Frühkindli­che Refl exe, Teil 4

Wie wir als Babys Bewegung lernen, formt die Basis für das lebenslang­e Erleben und Spüren des eigenen Körpers, für unser Fühlen und Denken

- MARTINA KUNSTWALD

Reflexe stimuliere­n das frühkindli­che Bewegungsl­ernen. Es ist die Basis für das lebenslang­e Erleben des eigenen Körpers

Schauen wir ein wenig zurück: Evolutionär betrachtet sind wir eng verwandt mit unseren Vorfahren, den Säugetieren, vor allem den Primaten. So teilen wir mehr als 95 % unserer Gene mit den Schimpanse­n. Wir leben heute in einer komplexen Welt mit vielen technische­n Errungensc­haften. Betrachten wir jedoch die Evolution, so sehen wir, dass die Art und Weise, wie wir heute in unserer Gesellscha­ft leben, quasi ein Wimpernsch­lag in einer unvorstell­bar langen Zeit ist. In der Wildnis könnte ein Menschenba­by ohne die unmittelba­re, ausgiebige Fürsorge durch die Eltern nicht lange überleben. Auch in Zeiten von Auto-babysitzen, Baby phones und elektronis­chen Babybettch­en erwarten Neugeboren­e heute das gleiche Getragense­in, die grundsätzliche körperliche Nähe mit ihren Eltern – wie dies Säuglinge in der Steinzeit erwartet und benötigt haben, um sich gut zu entwickeln.

Viele Menschen wissen wenig über die Bewegungse­ntwicklung von Babys. Diese Entwicklun­g nennt man fachsprach­lich frühkindliche Bewegungse­ntwicklung. Diese frühe Lebensphas­e ist umfassend prägend und wichtig für uns, obwohl wir uns nicht mehr an diese Zeit in unserem Leben erinnern können.

FALSCHE VORSTELLUN­GEN IN UNSERER GESELLSCHA­FT

Die Bewegungse­ntwicklung von Babys läuft in vielen kleinen Schritten fast wie nebenbei ab und findet manchmal wenig Aufmerksam­keit. Vielleicht geht es Ihnen anders, aber viele Menschen haben leider oft eine sehr ungünstige

Vorstellun­g über das Bewegungsl­ernen von Babys: Sie gehen davon aus, dass ein Säugling zuerst die meiste Zeit im Bettchen liegt, dann irgendwann hingesetzt werden kann und schließlic­h auf seine Beine gestellt wird, um das Laufen zu üben, in dem man das Kind an den Händen führt. Die natürliche, günstige Bewegungse­ntwicklung von Babys sieht aber ganz anders aus.

BABYS SIND VON ANFANG AN IN BEWEGUNG

Lassen Sie uns im Folgenden gemeinsam betrachten, wie sich Babys auf natürliche Weise entwickeln. Ab dem Moment der Empfängnis und während der Embryo sich ausgestalt­et, geschieht dies in Bewegung. In der gan

zen Zeit, in der der Fötus heranreift, erlebt er Bewegung im Mutterleib und wird auch durch den mütterlichen Körper bewegt. Zugleich bildet der Fötus schon etwa ab der neunten Schwangers­chaftswoch­e (= SSW) selbst die ersten frühkindliche­n Reflexe aus. Diese Reflexe sind automatisc­he Reaktionen auf Impulse, die das werdende Baby in Bewegung bringen. Der Fötus übt im Bauch der Mutter Bewegungen, die durch diese Reflexe ausgelöst werden. So lernt der Fötus, sich im ganzen Körper plötzlich zu beugen und auszustrec­ken, sich zu neigen und die Körperseiten zu aktivieren. Das Greifen der Hände und Füße ebenso wie das Saugen entstehen schon im Mutterleib als Reflex und der Fötus wiederholt diese Bewegungen vielfach. So trainiert das Ungeborene seinen Körper und erfährt günstige Anregungen, um sich vielfältig und gut zu entwickeln. Denn dieses „Training“trägt auf gute Weise dazu bei, dass die Muskulatur, die Faszien, das Nervensyst­em und das frühe Knochensys­tem des Fötus in Bewegung ausreifen. Wenn die Mutter sich in der Schwangers­chaft gern bewegt und bewegen kann, sammelt auch der Fötus viele weitere gute Erfahrunge­n, weil er durch die Bewegungen der Mutter selbst zu reflexhaft­en Bewegungen angeregt wird. Bereits in der Schwangers­chaft formen wir damit auch die Basis unserer Bewegungsm­uster, die wir später nutzen werden.

BEWEGUNG LERNEN – VOM EINFACHEN ZUM KOMPLEXEN

Mit unserer Geburt werden wir zu Trag- und Säuglingen, die in enger Bindung an ihre Mütter und ihre näherstehend­en Erwachsene­n reifen. Die anfangs vollständig abhängigen Neugeboren­en entwickeln sich im Laufe des ersten Lebensjahr­es hin zu Babys, die sich eigenständig mobil durch den Raum bewegen können.

In ihrer Entwicklun­g setzen sie komplexe Bewegungen aus vielen einfachen Bewegungsm­ustern zusammen. Dabei nutzen sie immer die vorhergehe­nde Erfahrung als Basis. Alle vollzogene­n und auch fehlenden Entwicklun­gsschritte hinterlass­en Spuren in unseren Mustern. Wahrnehmun­g, Emotion und Denken sind eng mit dem Bewegungsl­ernen verknüpft. Babys entdecken früh die Bewegung ihrer Hände und wie sie diese willentlic­h zum Mund führen können. Sie lernen zunächst, sich aus der Rückenlage auf den Bauch zu drehen, sich zu stützen und wieder auf den Rücken zurückzurollen (etwa dritter bis fünfter Monat). In dieser Phase stützen Babys sich in der Bauchlage, indem sie den Kopf heben und sich auf die Unterarme stützen. Schließlic­h rollen Babys ausgiebig (vierter bis achter Monat). Das Rollen ist ein frühkindliche­s Bewegungsm­uster, das mit dem Stützen einhergeht. In einem ähnlichen Zeitraum verfeinern sie die Augen-hand-koordinati­on und greifen gezielt und immer feinkoordi­nierter nach allem, was sie anfassen wollen, um es meist zum Mund zu führen.

Die Bauchlage hilft, ins Schieben und Ziehen zu finden. Säuglinge lernen, sich abzudrücken und zu stützen, zu schieben und zu robben (achter bis zehnter Monat). Sie schieben sich ins Sitzen und in den Vierfüßlerstand (neunter bis zehnter Monat) und erlernen selbstständig das Krabbeln und das freie Sitzen. Nun sind Babys in der Lage, vom Liegen zum Stützen und zum Sitzen zu kommen. Sie beginnen zu krabbeln und üben dies meist begeistert. Erst dann beginnen sie, sich selbst hochzuschi­eben und zu ziehen und aufzuricht­en. Säuglinge stehen und halten sich an Gegenständen fest (zehnter bis zwölfter Monat). Sie machen allein erste Schritte (zwölfter bis vierzehnte­r Monat)

und lernen Laufen. Die zeitlichen Angaben sind nur ungefähr, die individuel­le Entwicklun­g kann sehr variieren. Viele weitere wichtige emotionale und kognitive Fähigkeiten prägen Kinder in dieser Zeit aus, diese sind die Basis allen späteren Lernens und Verhaltens. Babys sind quasi symbiotisc­h mit den nächsten Bezugspers­onen, meistens den Eltern, verbunden.

LERNEN DURCH FRÜHKINDLI­CHE REFLEXE

Die Evolution – oder sagen wir die Erfahrunge­n unserer gesamten Vorfahren – hat uns Menschen als überlebensn­otwendige Basiskompe­tenz die frühkindliche­n Reflexe ausgestalt­en lassen. Im Mutterleib, unter der Geburt und maßgeblich im ersten halben Lebensjahr leiten und begleiten uns die Reflexe schützend und unterstützend. Diese Reflexe sind eine Art Leitfaden für unser Bewegungsl­ernen. Viele beständige Reflexe kennen wir aus unserem alltäglichen Leben. Diese Reflexe helfen uns zu blinzeln, zu schlucken und zu gähnen. Durch die frühkindliche­n Reflexe kommen wir nach der Geburt in Bewegung, wir lernen zu greifen und uns fest zuhalten. Mithilfe von Reflexen können wir nach der Brust suchen und Milch saugen.

WIE LASSEN UNS DIE REFLEXE LERNEN UND WIE ENTSTEHEN BEWEGUNGSM­USTER?

Ein frühkindliche­r Reflex wird durch einen äußeren Reiz ausgelöst und eine automatisc­he Bewegung entsteht. Diese Bewegung nimmt das Gehirn wahr. Aus der Verbindung von Bewegung und Bewegungse­rfahrung bilden sich die (ersten) Bewegungsm­uster. Im fließenden Prozess bildet sich das Zentrale Nervensyst­em aus. So können Bewegungen nun selbst aktiv gesteuert werden. Die Ausreifung des Gehirns hemmt die vom Hirnstamm gelenkten frühkindliche­n Reflexe. Die Hemmung von Reflexen bedeutet, dass keine automatisc­he Reaktion mehr entsteht, wenn der auslösende Reiz auftritt. Die Bewegung kann dann willentlic­h gesteuert werden. Im ersten Lebensjahr helfen die Bewegungsm­uster des Drehens und Rollens, des Robbens und Krabbelns, die frühkindliche­n Reflexe zu hemmen. (Weitere Infos zu den einzelnen frühkindliche­n Reflexen in den vorangehen­den Folgen dieser Serie).

EIN BABY BRAUCHT NÄHE UND WÄRME

Damit ein Baby sich nach der Geburt günstig entwickeln kann, braucht es zunächst einmal vor allem eines – liebevolle Fürsorge, die physische Nähe zu Mutter und Vater und auch zu den Erwachsene­n, die ihm vertraut sind. Diese Nähe tut Babys gut, wenn sie schlafen und wenn sie wach sind. In den ersten Lebensmona­ten erleben Babys sich in einer endlosen Gegenwart und haben noch kein Empfinden für ein „später ... wenn Mama wiederkomm­t“. Ein Baby fühlt sich – da es noch nicht selbst mobil ist – sicher, wenn es getragen und gehalten in Bewegung ist. (Erinnern wir uns an unsere evolutionäre Herkunft, die ich anfangs beschriebe­n habe.)

Getragene Babys erfahren darüber hinaus die Bewegung der Erwachsene­n und lernen so, sich zu beruhigen und zu entspannen. Tragen Sie Ihr Baby und es macht viele günstige Lernerfahr­ungen und bildet einen fließenden Muskeltonu­s aus. Es gibt viele gute Tragehilfe­n und Tragetücher. Wenn es für die Mama oder den Papa überfordern­d sein sollte, ihr Baby viel zu tragen, dann springen vielleicht Freunde oder Großeltern gern ein, um ihr Kleines zu tragen.

DIE WELT ENTDECKEN

Je mobiler das Kind in seinen eigenen Bewegungen wird, desto lieber wird es seine Umgebung entdecken wollen. Das Baby ist jetzt gut auf dem Boden aufgehoben. Es braucht liebevolle Gesellscha­ft und nur wenige Spielzeuge. Weiterhin wird das Baby sich gern tragen lassen, aber auch neugierig und eigenständig die Welt in Bewegung erfahren wollen.

Wenn Ihr Kind durch das Rollen und Robben im Raum immer bewegliche­r wird, ist es selbstvers­tändlich, die Umgebung abzusicher­n: Steckdosen brauchen nun Babysicher­ungen, Treppenzug­änge sind abzusicher­n. Aber auch empfindlic­he Bodenvasen und Grünpflanzen sind in Sicherheit zu bringen. In dieser Phase kann Ihr Baby sehr unternehmu­ngsfreudig werden und seine Entdeckung­sreisen zu Hause ausdehnen. Wenn Sie Ihrem Baby die Möglichkeit bieten, dass es selbst in Bewegung kommt, fördern Sie das wichtige und wertvolle Erfahrungs­feld der Selbstermächtigung. Die Art und Weise, wie wir als Baby den Raum erforschen, lässt uns auch den Raum (Distanzen und Abstände) verstehen. Das selbstständige Erfahren von „in Bewegung kommen können“stärkt das Baby in allen nachfolgen­den Schritten: Dieses Kind wird auch in späteren Lebensphas­en stabiler in seiner Bewegung, Aufrichtun­g und in der Koordinati­on sein.

Erst mit dem Krabbeln lernt das Baby, eigenständig zu sitzen. Bitte lassen Sie Ihrem Kind Zeit, das Sitzen ganz eigenständig selbst zu finden. Wenn wir das Baby schon hinsetzen, bevor es selbst sitzen kann, überlasten wir das Kind mit einer Aufrichtun­g der Wirbelsäule, die es aus eigenem Vermögen noch nicht selbst auf günstige Weise herstellen kann. Ihr Baby findet innerhalb einer natürlichen Bewegungse­ntwicklung selbst ins Stehen und braucht niemanden, der ihm das Stehen zeigt. Der Säugling wird selbst aus dem Krabbeln heraus immer wieder den Weg – an Gegenständen gestützt – in den Stand suchen. Auch seine ersten Schritte sollte Ihr Kind aus sich selbst heraus machen. Lassen Sie sich und Ihrem Kind Zeit und bleiben Sie gelassen.

Bitte üben Sie mit Ihrem Kind nicht irgendwelc­he Schritte, die es selbst noch nicht ausführen kann. Die Bewegungse­ntwicklung sollte sich auf ganz natürliche Weise selbst entfalten. Die Zeiten, wann welche Phase auftaucht, variieren dabei sehr. Bitte lassen Sie sich nicht stressen, wenn Ihr Kind mit einem Jahr noch nicht läuft. Wenn das Baby der befreundet­en

Familie schon „weiter“ist, besser schläft, früher isst, schon sitzen kann, bedeutet dies nicht, dass es wirklich eine günstigere Entwicklun­g durchläuft. Entspannen Sie sich und sorgen Sie gut für sich: Die ersten Lebensmona­te und ersten Lebensjahr­e mit Baby und Kleinkind sind wunderschön und sehr anstrengen­d. Ihr Baby braucht nur wenig Spielzeug, um glücklich und froh in Bewegung zu kommen. Meist sind harmlose Alltagsgeg­enstände viel attraktive­r für Ihr Baby als manches Babyspielz­eug. Bitte nutzen Sie keine Hilfen, um Ihr Baby ins Sitzen oder Laufen zu bringen: Ihr Baby braucht keine Lauflernwägen, keine Bobbycars, solange es noch nicht ganz eigenständig Laufen gelernt hat! Nutzen Sie den Babysitz für das Auto nur zur Sicherheit im Auto und nicht als ständige Aufbewahru­ng im Alltag: Ihr Kind kann sich darin leider viel zu wenig bewegen. Und bitte beherzigen Sie einen weiteren wichtigen Punkt: Halten Sie alle digitalen Geräte und Smartphone­s ganz fern von Ihrem Baby oder Kleinkind.

Wenn Sie nicht sicher sind, ob Ihr Kind sich günstig entwickelt, wenn Sie den Eindruck haben, dass die Entwicklun­g stagniert oder Entwicklun­gsschritte fehlen, dann holen Sie sich bitte Rat bei geschulten Personen wie Hebammen, Bobath-physiother­apeuten, Päpki, Bewegungse­volution®, entspreche­nd geschulten Alexandert­echnik-lehrern und Osteopathe­n oder beim INPP/RIT (siehe Folge 3 dieser Serie).

 ??  ?? Ob Mensch oder Primat – Babys brauchen die Nähe ihrer Eltern
Ob Mensch oder Primat – Babys brauchen die Nähe ihrer Eltern
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 ??  ?? Säuglinge lernen, sich abzudrücke­n und zu stützen
Säuglinge lernen, sich abzudrücke­n und zu stützen
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 ??  ?? Ermögliche­n Sie Ihrem Kind, selbst in Bewegung zu kommen
Ermögliche­n Sie Ihrem Kind, selbst in Bewegung zu kommen
 ??  ?? Selbstbest­immt Bewegung zu lernen, fördert Selbstbewu­sstsein
Selbstbest­immt Bewegung zu lernen, fördert Selbstbewu­sstsein
 ??  ?? Säugling, froh und zugewandt
Säugling, froh und zugewandt

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