Serie Frühkindliche Refl exe, Teil 4
Wie wir als Babys Bewegung lernen, formt die Basis für das lebenslange Erleben und Spüren des eigenen Körpers, für unser Fühlen und Denken
Reflexe stimulieren das frühkindliche Bewegungslernen. Es ist die Basis für das lebenslange Erleben des eigenen Körpers
Schauen wir ein wenig zurück: Evolutionär betrachtet sind wir eng verwandt mit unseren Vorfahren, den Säugetieren, vor allem den Primaten. So teilen wir mehr als 95 % unserer Gene mit den Schimpansen. Wir leben heute in einer komplexen Welt mit vielen technischen Errungenschaften. Betrachten wir jedoch die Evolution, so sehen wir, dass die Art und Weise, wie wir heute in unserer Gesellschaft leben, quasi ein Wimpernschlag in einer unvorstellbar langen Zeit ist. In der Wildnis könnte ein Menschenbaby ohne die unmittelbare, ausgiebige Fürsorge durch die Eltern nicht lange überleben. Auch in Zeiten von Auto-babysitzen, Baby phones und elektronischen Babybettchen erwarten Neugeborene heute das gleiche Getragensein, die grundsätzliche körperliche Nähe mit ihren Eltern – wie dies Säuglinge in der Steinzeit erwartet und benötigt haben, um sich gut zu entwickeln.
Viele Menschen wissen wenig über die Bewegungsentwicklung von Babys. Diese Entwicklung nennt man fachsprachlich frühkindliche Bewegungsentwicklung. Diese frühe Lebensphase ist umfassend prägend und wichtig für uns, obwohl wir uns nicht mehr an diese Zeit in unserem Leben erinnern können.
FALSCHE VORSTELLUNGEN IN UNSERER GESELLSCHAFT
Die Bewegungsentwicklung von Babys läuft in vielen kleinen Schritten fast wie nebenbei ab und findet manchmal wenig Aufmerksamkeit. Vielleicht geht es Ihnen anders, aber viele Menschen haben leider oft eine sehr ungünstige
Vorstellung über das Bewegungslernen von Babys: Sie gehen davon aus, dass ein Säugling zuerst die meiste Zeit im Bettchen liegt, dann irgendwann hingesetzt werden kann und schließlich auf seine Beine gestellt wird, um das Laufen zu üben, in dem man das Kind an den Händen führt. Die natürliche, günstige Bewegungsentwicklung von Babys sieht aber ganz anders aus.
BABYS SIND VON ANFANG AN IN BEWEGUNG
Lassen Sie uns im Folgenden gemeinsam betrachten, wie sich Babys auf natürliche Weise entwickeln. Ab dem Moment der Empfängnis und während der Embryo sich ausgestaltet, geschieht dies in Bewegung. In der gan
zen Zeit, in der der Fötus heranreift, erlebt er Bewegung im Mutterleib und wird auch durch den mütterlichen Körper bewegt. Zugleich bildet der Fötus schon etwa ab der neunten Schwangerschaftswoche (= SSW) selbst die ersten frühkindlichen Reflexe aus. Diese Reflexe sind automatische Reaktionen auf Impulse, die das werdende Baby in Bewegung bringen. Der Fötus übt im Bauch der Mutter Bewegungen, die durch diese Reflexe ausgelöst werden. So lernt der Fötus, sich im ganzen Körper plötzlich zu beugen und auszustrecken, sich zu neigen und die Körperseiten zu aktivieren. Das Greifen der Hände und Füße ebenso wie das Saugen entstehen schon im Mutterleib als Reflex und der Fötus wiederholt diese Bewegungen vielfach. So trainiert das Ungeborene seinen Körper und erfährt günstige Anregungen, um sich vielfältig und gut zu entwickeln. Denn dieses „Training“trägt auf gute Weise dazu bei, dass die Muskulatur, die Faszien, das Nervensystem und das frühe Knochensystem des Fötus in Bewegung ausreifen. Wenn die Mutter sich in der Schwangerschaft gern bewegt und bewegen kann, sammelt auch der Fötus viele weitere gute Erfahrungen, weil er durch die Bewegungen der Mutter selbst zu reflexhaften Bewegungen angeregt wird. Bereits in der Schwangerschaft formen wir damit auch die Basis unserer Bewegungsmuster, die wir später nutzen werden.
BEWEGUNG LERNEN – VOM EINFACHEN ZUM KOMPLEXEN
Mit unserer Geburt werden wir zu Trag- und Säuglingen, die in enger Bindung an ihre Mütter und ihre näherstehenden Erwachsenen reifen. Die anfangs vollständig abhängigen Neugeborenen entwickeln sich im Laufe des ersten Lebensjahres hin zu Babys, die sich eigenständig mobil durch den Raum bewegen können.
In ihrer Entwicklung setzen sie komplexe Bewegungen aus vielen einfachen Bewegungsmustern zusammen. Dabei nutzen sie immer die vorhergehende Erfahrung als Basis. Alle vollzogenen und auch fehlenden Entwicklungsschritte hinterlassen Spuren in unseren Mustern. Wahrnehmung, Emotion und Denken sind eng mit dem Bewegungslernen verknüpft. Babys entdecken früh die Bewegung ihrer Hände und wie sie diese willentlich zum Mund führen können. Sie lernen zunächst, sich aus der Rückenlage auf den Bauch zu drehen, sich zu stützen und wieder auf den Rücken zurückzurollen (etwa dritter bis fünfter Monat). In dieser Phase stützen Babys sich in der Bauchlage, indem sie den Kopf heben und sich auf die Unterarme stützen. Schließlich rollen Babys ausgiebig (vierter bis achter Monat). Das Rollen ist ein frühkindliches Bewegungsmuster, das mit dem Stützen einhergeht. In einem ähnlichen Zeitraum verfeinern sie die Augen-hand-koordination und greifen gezielt und immer feinkoordinierter nach allem, was sie anfassen wollen, um es meist zum Mund zu führen.
Die Bauchlage hilft, ins Schieben und Ziehen zu finden. Säuglinge lernen, sich abzudrücken und zu stützen, zu schieben und zu robben (achter bis zehnter Monat). Sie schieben sich ins Sitzen und in den Vierfüßlerstand (neunter bis zehnter Monat) und erlernen selbstständig das Krabbeln und das freie Sitzen. Nun sind Babys in der Lage, vom Liegen zum Stützen und zum Sitzen zu kommen. Sie beginnen zu krabbeln und üben dies meist begeistert. Erst dann beginnen sie, sich selbst hochzuschieben und zu ziehen und aufzurichten. Säuglinge stehen und halten sich an Gegenständen fest (zehnter bis zwölfter Monat). Sie machen allein erste Schritte (zwölfter bis vierzehnter Monat)
und lernen Laufen. Die zeitlichen Angaben sind nur ungefähr, die individuelle Entwicklung kann sehr variieren. Viele weitere wichtige emotionale und kognitive Fähigkeiten prägen Kinder in dieser Zeit aus, diese sind die Basis allen späteren Lernens und Verhaltens. Babys sind quasi symbiotisch mit den nächsten Bezugspersonen, meistens den Eltern, verbunden.
LERNEN DURCH FRÜHKINDLICHE REFLEXE
Die Evolution – oder sagen wir die Erfahrungen unserer gesamten Vorfahren – hat uns Menschen als überlebensnotwendige Basiskompetenz die frühkindlichen Reflexe ausgestalten lassen. Im Mutterleib, unter der Geburt und maßgeblich im ersten halben Lebensjahr leiten und begleiten uns die Reflexe schützend und unterstützend. Diese Reflexe sind eine Art Leitfaden für unser Bewegungslernen. Viele beständige Reflexe kennen wir aus unserem alltäglichen Leben. Diese Reflexe helfen uns zu blinzeln, zu schlucken und zu gähnen. Durch die frühkindlichen Reflexe kommen wir nach der Geburt in Bewegung, wir lernen zu greifen und uns fest zuhalten. Mithilfe von Reflexen können wir nach der Brust suchen und Milch saugen.
WIE LASSEN UNS DIE REFLEXE LERNEN UND WIE ENTSTEHEN BEWEGUNGSMUSTER?
Ein frühkindlicher Reflex wird durch einen äußeren Reiz ausgelöst und eine automatische Bewegung entsteht. Diese Bewegung nimmt das Gehirn wahr. Aus der Verbindung von Bewegung und Bewegungserfahrung bilden sich die (ersten) Bewegungsmuster. Im fließenden Prozess bildet sich das Zentrale Nervensystem aus. So können Bewegungen nun selbst aktiv gesteuert werden. Die Ausreifung des Gehirns hemmt die vom Hirnstamm gelenkten frühkindlichen Reflexe. Die Hemmung von Reflexen bedeutet, dass keine automatische Reaktion mehr entsteht, wenn der auslösende Reiz auftritt. Die Bewegung kann dann willentlich gesteuert werden. Im ersten Lebensjahr helfen die Bewegungsmuster des Drehens und Rollens, des Robbens und Krabbelns, die frühkindlichen Reflexe zu hemmen. (Weitere Infos zu den einzelnen frühkindlichen Reflexen in den vorangehenden Folgen dieser Serie).
EIN BABY BRAUCHT NÄHE UND WÄRME
Damit ein Baby sich nach der Geburt günstig entwickeln kann, braucht es zunächst einmal vor allem eines – liebevolle Fürsorge, die physische Nähe zu Mutter und Vater und auch zu den Erwachsenen, die ihm vertraut sind. Diese Nähe tut Babys gut, wenn sie schlafen und wenn sie wach sind. In den ersten Lebensmonaten erleben Babys sich in einer endlosen Gegenwart und haben noch kein Empfinden für ein „später ... wenn Mama wiederkommt“. Ein Baby fühlt sich – da es noch nicht selbst mobil ist – sicher, wenn es getragen und gehalten in Bewegung ist. (Erinnern wir uns an unsere evolutionäre Herkunft, die ich anfangs beschrieben habe.)
Getragene Babys erfahren darüber hinaus die Bewegung der Erwachsenen und lernen so, sich zu beruhigen und zu entspannen. Tragen Sie Ihr Baby und es macht viele günstige Lernerfahrungen und bildet einen fließenden Muskeltonus aus. Es gibt viele gute Tragehilfen und Tragetücher. Wenn es für die Mama oder den Papa überfordernd sein sollte, ihr Baby viel zu tragen, dann springen vielleicht Freunde oder Großeltern gern ein, um ihr Kleines zu tragen.
DIE WELT ENTDECKEN
Je mobiler das Kind in seinen eigenen Bewegungen wird, desto lieber wird es seine Umgebung entdecken wollen. Das Baby ist jetzt gut auf dem Boden aufgehoben. Es braucht liebevolle Gesellschaft und nur wenige Spielzeuge. Weiterhin wird das Baby sich gern tragen lassen, aber auch neugierig und eigenständig die Welt in Bewegung erfahren wollen.
Wenn Ihr Kind durch das Rollen und Robben im Raum immer beweglicher wird, ist es selbstverständlich, die Umgebung abzusichern: Steckdosen brauchen nun Babysicherungen, Treppenzugänge sind abzusichern. Aber auch empfindliche Bodenvasen und Grünpflanzen sind in Sicherheit zu bringen. In dieser Phase kann Ihr Baby sehr unternehmungsfreudig werden und seine Entdeckungsreisen zu Hause ausdehnen. Wenn Sie Ihrem Baby die Möglichkeit bieten, dass es selbst in Bewegung kommt, fördern Sie das wichtige und wertvolle Erfahrungsfeld der Selbstermächtigung. Die Art und Weise, wie wir als Baby den Raum erforschen, lässt uns auch den Raum (Distanzen und Abstände) verstehen. Das selbstständige Erfahren von „in Bewegung kommen können“stärkt das Baby in allen nachfolgenden Schritten: Dieses Kind wird auch in späteren Lebensphasen stabiler in seiner Bewegung, Aufrichtung und in der Koordination sein.
Erst mit dem Krabbeln lernt das Baby, eigenständig zu sitzen. Bitte lassen Sie Ihrem Kind Zeit, das Sitzen ganz eigenständig selbst zu finden. Wenn wir das Baby schon hinsetzen, bevor es selbst sitzen kann, überlasten wir das Kind mit einer Aufrichtung der Wirbelsäule, die es aus eigenem Vermögen noch nicht selbst auf günstige Weise herstellen kann. Ihr Baby findet innerhalb einer natürlichen Bewegungsentwicklung selbst ins Stehen und braucht niemanden, der ihm das Stehen zeigt. Der Säugling wird selbst aus dem Krabbeln heraus immer wieder den Weg – an Gegenständen gestützt – in den Stand suchen. Auch seine ersten Schritte sollte Ihr Kind aus sich selbst heraus machen. Lassen Sie sich und Ihrem Kind Zeit und bleiben Sie gelassen.
Bitte üben Sie mit Ihrem Kind nicht irgendwelche Schritte, die es selbst noch nicht ausführen kann. Die Bewegungsentwicklung sollte sich auf ganz natürliche Weise selbst entfalten. Die Zeiten, wann welche Phase auftaucht, variieren dabei sehr. Bitte lassen Sie sich nicht stressen, wenn Ihr Kind mit einem Jahr noch nicht läuft. Wenn das Baby der befreundeten
Familie schon „weiter“ist, besser schläft, früher isst, schon sitzen kann, bedeutet dies nicht, dass es wirklich eine günstigere Entwicklung durchläuft. Entspannen Sie sich und sorgen Sie gut für sich: Die ersten Lebensmonate und ersten Lebensjahre mit Baby und Kleinkind sind wunderschön und sehr anstrengend. Ihr Baby braucht nur wenig Spielzeug, um glücklich und froh in Bewegung zu kommen. Meist sind harmlose Alltagsgegenstände viel attraktiver für Ihr Baby als manches Babyspielzeug. Bitte nutzen Sie keine Hilfen, um Ihr Baby ins Sitzen oder Laufen zu bringen: Ihr Baby braucht keine Lauflernwägen, keine Bobbycars, solange es noch nicht ganz eigenständig Laufen gelernt hat! Nutzen Sie den Babysitz für das Auto nur zur Sicherheit im Auto und nicht als ständige Aufbewahrung im Alltag: Ihr Kind kann sich darin leider viel zu wenig bewegen. Und bitte beherzigen Sie einen weiteren wichtigen Punkt: Halten Sie alle digitalen Geräte und Smartphones ganz fern von Ihrem Baby oder Kleinkind.
Wenn Sie nicht sicher sind, ob Ihr Kind sich günstig entwickelt, wenn Sie den Eindruck haben, dass die Entwicklung stagniert oder Entwicklungsschritte fehlen, dann holen Sie sich bitte Rat bei geschulten Personen wie Hebammen, Bobath-physiotherapeuten, Päpki, Bewegungsevolution®, entsprechend geschulten Alexandertechnik-lehrern und Osteopathen oder beim INPP/RIT (siehe Folge 3 dieser Serie).