Tote Bäume
Wir lieben den Wald als Ort der Stille und um die Seele baumeln zu lassen – allerdings nur, wenn er frisch und grün ist. Selbst in Nationalparks fällt es vielen Besuchern schwer, den Anblick toter und vermodernder Bäume zu ertragen. Doch Natur braucht auc
Zum Wald gehört nicht nur Leben. Totholz schenkt zahlreichen Tieren und Pilzen einen neuen Lebensraum oder Zufluchtsort
Ein Teil der sonntäglichen Waldspaziergänger bevorzugt einen „aufgeräumten, ordentlichen, überschaubaren“Wald. Wo in Deutschland sollten sie auch ihre Vorstellungen von Wald um die Dimension „Wildnis“erweitern können? Dass allein Begriffe wie „Urwald“oder „Wildnis“bei uns immer noch einen negativen Beiklang haben, hat wohl uralte, historische Wurzeln. Dunkle Waldwildnis erschwert die Orientierung, ängstigt und bedrückt die einen, und die „Verschwendung“des Rohstoffes Holz durch Liegen- und Verrottenlassen ärgert die anderen, die der Meinung nachhängen, im Walde dürfe nichts „umkommen“. Totholz in mannigfachsten Formen und Zerfallsstadien ist das auffälligste Urwaldmerkmal. Totholzmenge und -vielfalt im Urwald stehen in auffälligem Kontrast zum „ordnungsgemäß gepflegten Nutzwald“.
Sogar im noch jungen Nationalpark Hainich begegnen uns tote Bäume häufiger als anderswo. Aufgeklärte Besucher werden sich an den bizarr geformten toten Riesen, an den prachtvollen Zunderschwämmen und an den dick bemoosten liegenden Stämmen erfreuen. In Nationalparken bilden diese Wissenden in der Regel die Mehrheit. Sie suchen Eindrücke von Wildnis, wenn sie sich für einen Nationalparkbesuch entscheiden. Welch einzigartige Fotomotive Totholz bietet, beweisen die Bilder in diesem Beitrag (siehe auch Quellenangabe auf Seite 90) wohl besser als viele Worte. Nach wie vor gibt es aber Menschen, die für Waldwildnis keine Sympathie empfinden. Für sie ist dieser Beitrag geschrieben, um mehr Verständnis für das komplizierte Ökosystem Wald zu erreichen, in dessen Kreisläufen totes Holz eine ungeheuer wichtige Rolle spielt.
ES GIBT HIERZULANDE KEINEN URWALD MEHR, DAS HEISST KEINEN WALD, IN DEM DIE BÄUME ALT WERDEN, BIS SIE STÜRZEN UND VERMODERND DEN BODEN BEREITEN FÜR EINEN NACHWUCHS, DER IN NATÜRLICHER VERJÜNGUNG ENTSTAND, GEPFLANZT VON WIND UND VÖGELN
Horst Stern 1979
Am Rand der häufig begangenen Wanderwege müssen tote Bäume aus Sicherheitsgründen gefällt werden, abseits der Wege gehören sterbende und tote Baumgestalten aber einfach zum Naturgeschehen: Werden und Vergehen liegen dicht beieinander. Zum umsichtigen, waldgerechten Verhalten gehört es, bei stärkerem Wind oder gar Sturm die totholzreichen Waldteile zu meiden, besser aber die Waldwanderung für diesen Tag zu beenden. Da der moderne Mensch manchmal die naheliegenden Gefahren im Wald – auch Gewitter – zu wenig beachtet, wird die Nationalparkverwaltung eher aufklärend wirken müssen, als jeden morschen Ast absägen zu lassen, was ohnehin nicht möglich ist. Waldtypische Gefahren muss jeder Waldbesucher selbst erkennen und beachten. Sie können laut eines aktuellen Gerichtsurteils nicht auf den Waldbesitzer oder andere Verantwortliche abgewälzt werden. Uns geht es hier aber weniger um den – äußerst geringen – Gefahrenaspekt des Totholzes, sondern vielmehr um seine enorme Bedeutung im Waldökosystem.
„TOTHOLZ“IST NUR SCHEINBAR TOT
Es gibt im Wald nichts Lebendigeres als totes Holz, wenn man die Artenzahlen betrachtet, die totes Holz bevölkern. Während im gesunden Stamm eines Baumes in aller Regel nur wenige Organismen zu leben vermögen – vielleicht ein Buntspecht, der in einer Höhle seine Jungen aufzieht –, wächst die Zahl der im absterbenden und mehr noch im gestürzten, verrottenden Baumstamm lebenden Organismen nach Artenzahl und nach Individuenmenge ungeheuer an.
Bereits im stehenden, zum Teil noch lebenden Stamm beginnen Pilze und Bakterien ihre abbauende Tätigkeit. Insekten siedeln sich an, darunter viele der hoch bedrohten holzbewohnenden Käferarten. Spechte schaffen auf der Suche nach Nahrung oder beim Brutstättenbau Höhlen und Löcher, entrinden schließlich die Stämme und beschleunigen ihren Sturz, indem besonders der Schwarzspecht an der meist zuerst morsch werdenden Stammbasis riesige Löcher schlägt. Der liegende Totholzstamm dient dann einem Heer von Zersetzern, wie man diese Kleinlebewesen nennt, als Nahrung und vielen weiteren Arten als Versteck, Kinderstube und Keimbett.
In Urwäldern ist totes Holz ein wesentlicher, für die Stoffkreisläufe notwendiger und meist auch in großen Mengen vorhandener Bestandteil des Waldökosystems. Daher konnten sich viele Pflanzen- und Tierarten auf Totholz unterschiedlichster Zerfallsstadien spezialisieren. In Wirtschaftswäldern hingegen wird das Holz genutzt, meist lange bevor die Bäume altersbedingt absterben. Zufällig anfallendes totes Holz, etwa nach Stürmen oder Schneebruch, wird meist rasch aus dem Wald entfernt. Viele Tot– holzspezialisten, vor allem unter den Wirbellosen, sind daher im Wirtschaftswald sehr selten geworden, vom Aussterben bedroht oder bereits verschwunden. Die Roten Listen bedrohter Tier- und Pflanzenarten legen ein deutliches Zeugnis davon ab. Zum Beispiel kann sich keine Hirschkäferlarve ohne tote Eichen entwickeln!
Angeregt durch die Forschung an totholzbewohnenden Käfern und den Nachweis der ungeheuren Zahl von Arten, die an den Lebensraum Totholz gebunden sind, kam die Dis
kussion um totes Holz im Wirtschaftswald erst zu Beginn der 1980er Jahre in Gang. Seitdem wird der Ruf des Naturschutzes nach großflächigen Naturwaldreservaten, in denen Bäume ihr physisches Höchstalter erreichen, absterben und zerfallen dürfen, und nach mehr Totholz im Wirtschaftswald immer lauter geäußert.
WICHTIGES STRUKTURELEMENT DES WALDES
Totholz ist nicht nur ein besonders augenfälliges Merkmal von Naturwäldern, es ist auch ein ganz wesentliches Strukturelement. Die Bedeutung toter und morscher Stämme für die Höhlenbrüter unter den Vögeln ist uns noch am ehesten geläufig. Aber auch die Wurzelteller gestürzter Bäume bieten Vieles, was im aufgeräumten Forst fehlt, wie Sandbadeplätze und Magensteinchen für Raufußhühner, Verstecke für viele Wirbeltiere, aber auch für Wirbellose. Vertreter nicht weniger Säugetierarten verbergen sich in Baumhöhlen oder ziehen dort Junge auf. Je nach Stärke der Bäume und Größe der Höhlen reicht das Spektrum von Wildkatze und Marder über den eingewanderten Waschbären bis hin zu Fledermäusen und Bilchen wie Siebenschläfer und Haselmaus. All diese Arten kommen in einem Nationalpark wie Hainich nur deshalb in größerer Dichte vor, weil es eben an diesem nötigen Substrat nicht mangelt. Darüber hinaus ist Totholz Lebensraum vieler holzbewohnender Bakterien, Pilze und niederer Tiere.
Durch ein Heer von holzfressenden wirbellosen Tieren, den „Zerkleinerern“, wird die Holzmasse zerstückelt und ihre Oberfläche so vergrößert, dass Mikroorganismen den Abbau organischer Substanzen rascher bewerkstelligen können. Die im Holz gebundenen komplexen Verbindungen wie Zellulose und Lignin werden wieder in ihre Ausgangsstoffe zerlegt – Fachleute sagen „mineralisiert“. Erst dann können die dem Boden zurückgegebenen wasserlöslichen Mineralien wieder durch die Pflanzen aufgenommen werden. Fallen einzelne Glieder der Zersetzerkette aus, kann das ungeahnte Folgen haben: Die Geschwindigkeit der Abbauprozesse wird gebremst, sodass sich Holz-, Nadel- und Laubmassen am Waldboden anhäufen und die Bodenfruchtbarkeit sinkt. Daraufhin verzögern sich Keimung und Wachstum der neuen Baumgeneration oder bleiben ganz aus. Der Marburger Ökologe Hermann Remmert hat in seinem Büchlein „Naturschutz“schon 1988 diese Zusammenhänge in leicht verständlicher Form eindrücklich erläutert und ebenso die enorme Bedeutung ungenutzter Wälder als Lernflächen für die Forstwissenschaft betont.