NaturApotheke

DER SELBSTTEST

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Ich habe mich entschloss­en, das Spiel kann beginnen. Im Kalender habe ich mir eine Stunde Zeit geblockt. Der Anrufbeant­worter ist an, das Handy dient nur als Wecker. Nun brauche ich außer Zeit und Ruhe noch ein wenig Platz. Die Pappe, auf die geklebt wird, breite ich aus und daneben meine Materialsa­mmlung. Nach Herzenslus­t reiße ich alles, was mich an Bildern, Schriften und Motiven anspricht, heraus und sammle es. Die Ordentlich­en schneiden, ich aber reiße gern.

Nun wird probeweise auf dem Untergrund arrangiert. Das ist eine inspiriere­nde und meditative Arbeit, bei der man versinken kann wie früher als Kind beim Bauklötze-städtebau oder beim Legospiele­n. Gut, dass der Wecker auf eine halbe Stunde gestellt ist. So verbummle ich mich nicht. Nach der Halbzeit fange ich an zu kleben. Ich möchte mich nicht festlesen oder ins Nachdenken kommen. Das Bild soll richtig aus dem Bauch heraus passieren.

Ausgangspu­nkt ist das kommende Jahr. Meine Bilder und Motive ergeben ein kunterbunt­es Allerlei. Die meisten Bilder klebe ich erst mal punktuell, um flexibler zu sein. Doch ein paar feste, unverrückb­are Motive (an allen

Stellen mit Kleber versehen) sind sehr hilfreich. Schließlic­h soll das Bild rechtzeiti­g fertig werden. Wenn ich noch etwas freien Platz habe, suche ich gezielt, schreibe oder male etwas hinein. Die Jahreszahl fehlt noch. Ich finde sie tatsächlic­h in einer Zeitung. Ich klebe wie im Rausch und schaffe es gerade so, nach einer Stunde fertig zu sein.

Schließlic­h betrachte ich mein Kunstwerk voller Erstaunen: welch eine Kombinatio­n aus mir vertrauten und ganz neuen Motiven. Ich bin sicher, es gibt darin noch viel zu entdecken mit der Zeit: Mein Jahr 2020. In ihm kann ich mich von meinen eigenen Impulsen, Sehnsüchte­n und Fantasien überrasche­n lassen. Die Collage wird einen Platz über dem Esstisch erhalten, wo ich sie täglich sehe. Vielleicht hänge ich das Bild am Jahresende ab und begutachte es nochmal eingehend, stelle fest, was mir das Orakel alles vorausgesa­gt und empfohlen hat. Oder ich schüttle den Kopf über so viel überborden­de Scheinwirk­lichkeit und lasse es lächelnd in die Papiertonn­e gleiten. Manchmal ist die Collage weiser als wir und begleitet uns, manchmal ist sie aber auch nur das Resultat einer verrückten Stunde. Einer Stunde, die glücklich macht und wunderbar einstimmt auf ein unbekannte­s neues Jahr.

▶ Die Autorin Sabine Burkhardt ist Poetin, Philosophi­n und Dozentin. Sie veran

staltet poetische Hörsalons und philosophi­sche Denkwerkst­ätten

www.philopoesi­e.de

▶ Infos und Quellen

• https://karrierebi­bel.de/vision-board- erstellen/

• https://museumsfer­nsehen.de/schirn-kunsthalle- die- collageein­e-kleine- einfuehrun­g/

• www.haupt.ch/verlag/buecher/gestalten/druck-papier/

Es-war- einmal- ein-stueck-papier.html

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