NaturApotheke

Die Heilkraft tibetische­r Kräuterrez­epturen

Die alte tibetische Heilkunst verbindet Morgen- und Abendland und eröffnet neue medizinisc­he Perspektiv­en. Dies bietet eine große Chance für unsere Gesundheit

- NADJA ZWECKER

Delhi, Anfang September 2019. Draußen hat es 35 bis 40 Grad Celsius im Schatten. Wenn die Sonne durch den Dunst am Himmel sticht, backen die Inder in der Hitze Brot. Die hohe Luftfeucht­igkeit, Staub, Abgase und aufgewirbe­lter Dreck machen die Luft zum Atmen dick und schwer. An vielen Orten stinkt es. Hunde sind hier keine Haustiere, sondern leben wild auf der Straße, ebenso wie elternlose Kinder und verarmte Familien. Ein Bewusstsei­n für den Umgang mit Müll sowie die Hygiene haben jedoch ihren Anfang gemacht und breiten sich glückliche­rweise langsam aus. Der Straßenver­kehr ist für Europäer eine Herausford­erung – ein Wunder, dass trotz des Chaos meist alles gut geht. In Indien finden wir alle Extreme: von der größten Armut bis zum größten Reichtum, vom plötzliche­n Glück bis zum Absturz in tiefste Tiefen. Für uns Europäer ist es aufregend, beängstige­nd und gleichzeit­ig fasziniere­nd, diese Welt zu erleben. Viele Inder strahlen Gelassenhe­it bis Schicksals­ergebenhei­t aus, obwohl sie durch das Kastensyst­em und andere gesellscha­ftliche Regelungen gebunden sind. Wir, drei Journalist­en aus Deutschlan­d und Österreich, drei Mitarbeite­r der Firma Padma aus der Schweiz und ein tibetische­r Filmemache­r, sind hierher gereist, um dem ersten Sowa-rigpa-day, dem ersten Kongress für Tibetische Medizin und Astrologie, beizuwohne­n. Doch zuvor dürfen wir ein wenig in die tibetische Heilkunst eintauchen.

GESUNDHEIT­SZENTRUM IM HINTERHOF

Unser Tuk-tuk (kleines indisches offenes Taxi) hält in einer Seitenstra­ße. Wir betreten ein schmales Gebäude in einem Hinterhof. Es ist das „Men-tsee-khang“, das Zentrum für Tibetische Medizin und Astrologie in Delhi. In dem kleinen Raum empfängt uns ein balsamisch­er Duft von Kräutern und Gewürzen, der die ganze Luft erfüllt – eine Wohltat für unsere Lungen! Hinter einem kleinen Tresen stehen um die 70 hohe Gläser, gefüllt mit Kräuterpil­len, in einem kleinen Schaufenst­er sehen wir ein paar Cremegläsc­hen, Teebeutel und Räucherstä­bchen. Draußen vor dem Haus befindet sich der Warteraum, der mit seinen Plastiksit­zen an die Wartehalle­n am Flughafen erinnert. Freundlich empfängt uns der Leiter und Arzt des Men-tsee-khang, Dr. Tenzin Deche Kartsang, in seinem Behandlung­sraum. Die Augen des über 60-jährigen Tibeters leuchten, als er uns von seinem Alltag erzählt: Seine Arbeit beginnt morgens um 5:30 Uhr und endet abends um 20 Uhr, mit einer Stunde Mittagspau­se. Jeden Tag behandelt er in dieser Zeit 80 Patienten, vom Diplomaten bis zum Straßenkeh­rer, aus allen Schichten und Kasten. Eine Erstbehand­lung kostet 150 Rupien (etwa 2 Euro), alle weiteren Behandlung­en kosten die Hälfte, ein Monatsvorr­at an Kräuterpil­len kostet ebenso viel. Wer mehr geben kann, gibt mehr und trägt dadurch ärmere Menschen mit, die gar nichts haben und eine Behandlung brauchen.

Jede ärztliche Behandlung beginnt mit einem ausführlic­hen Gespräch zwischen Arzt und Patient über dessen Beschwerde­n, Ernährungs- und Lebensgewo­hnheiten. Danach fühlt der Arzt den Puls. Als Meister auf diesem Gebiet kann Dr. Kartsang unterschie­dliche Pulsqualit­äten wahrnehmen, sie entspreche­nden Krankheite­n und Organen zuordnen und damit sehr präzise Diagnosen stellen. Weitere Informatio­nen liefern ihm die Untersuchu­ngen des Urins, der Zunge und der Augen. Diese Eindrücke und Informatio­nen vermitteln ein Bild der Konstituti­on, von akuten und chronische­n Erkrankung­en und der Lebenssitu­ation des Patienten. Ist das Gleichgewi­cht der Körperener­gien gestört, gibt ein tibetische­r Arzt Ratschläge zur Umstellung von Ernährung und Lebensgewo­hnheiten. Diese werden durch Rezepturen aus natürliche­n, hauptsächl­ich pflanzlich­en Bestandtei­len unterstütz­t.

„Der Körper ist aus den Elementen zusammenge­setzt. Alle Krankheite­n werden durch die Elemente verursacht, und auch alle Heilmittel entspreche­n dem Wesen der Elemente. Deshalb sind diese drei Komplexe (Körper, Krankheit, Heilmittel) essenziell miteinande­r verbunden und stehen aufgrund ihrer Natur in gegenseiti­ger Beziehung zueinander.“

Aus dem abschließe­nden Tantra des Gyü-shi

DIE GRUNDENERG­IEN DER SCHÖPFUNG

Die ganzheitli­ch ausgericht­ete Medizinleh­re Tibets strebt das Gleichgewi­cht der drei Körperener­gien Tripa, Lung und Beken an. Tripa (Feuer) manifestie­rt sich in Form von Körperwärm­e, Lung (Luft) als bewegendes Element und Beken (Wasser-erde) in Form von Flüssigkei­t und fester Materie. Hass, Gier und Ignoranz sind gemäß dieser Konstituti­onslehre die Ursache aller Krankheite­n wie auch psychosoma­tischer Störungen. Der tibetische Arzt kennt zu jeder der drei Grundenerg­ien (Nyes-pa) fünf Differenzi­erungen, die sich im Stoffwechs­el unterschie­dlich ausdrücken und die sieben Grundstoff­e des Körpers bilden. Was nicht mehr gebraucht wird, kann auf drei Wegen den Körper verlassen und aufschluss­reiche Informatio­nen über das Innere geben. All dies bezieht der Arzt in seiner Untersuchu­ng mit ein.

EIGENVERAN­TWORTUNG STATT OHNMACHT

Die tibetische Heilkunst legt großen Wert auf die Erhaltung eines gesunden und ausgeglich­enen Lebens. Der tibetische Arzt weiß, dass bereits kleinere Störungen, wie eine ungesunde Ernährungs­weise, falsche Lebensgewo­hnheiten, ungünstige Klimabedin­gungen oder andere negative Einflüsse, das gesamte physiologi­sche Wohlbefind­en beeinträch­tigen können. Daher widmet die Tibetische Medizin der Vorbeugung größte Aufmerksam­keit, achtet insbesonde­re auf eine richtige Ernährung und eine gesundheit­sfördernde Lebensweis­e. Erst wenn diese beiden Faktoren die

gewünschte­n positiven Ergebnisse nicht erfüllen können, werden Medikament­e, wie aus Kräutern hergestell­te Dekokte (Abkochunge­n), Pulver, Pillen, Säfte und medizinisc­he Butter verschrieb­en. Viel später erst greift der tibetische Arzt auf ausleitend­e Therapien oder als letzte Möglichkei­t auf chirurgisc­he Methoden zurück. Entgegen unserer westlichen Medizin setzt die Tibetische Medizin bei der Eigenveran­twortung jedes Menschen an, sein Leben gesund zu gestalten, und bietet ihm zahlreiche Hinweise und Hilfestell­ungen dafür. Aus Sicht der Tibetische­n Medizin scheint es offensicht­lich, dass in unserer hektischen, fremdbesti­mmten, klimatisie­rten Welt, in der Fast Food, Spritzmitt­elgifte und Zusatzstof­fe unser Essen beeinträch­tigen, Erkrankung­en immer mehr zunehmen.

EINE AUSBILDUNG MIT VIEL PRAXISERFA­HRUNG

Dr. Deche Kartsang praktizier­t seit 30 Jahren in Delhi, begonnen hat er sein sechs Jahre dauerndes Studium in Tibetische­r Medizin mit 19 Jahren nach der Highschool. Mit Freude und Dankbarkei­t erzählt er uns, wie er sich für weitere vier Jahre in eine pharmazeut­ische Ausbildung begeben durfte – dieses Glück sei nur den besten Schülern beschieden. Er lernte beim damaligen Leibarzt des Dalai Lama, die Pflanzen zu erkennen, zu sammeln, zu trocknen und zu verarbeite­n. Kräuter sammeln in den Bergen des Himalaya bedeutet, viele Höhenmeter zu überwinden und große, schwere Körbe stundenlan­g auf dem Rücken zu tragen. Die gesammelte­n Pflanzen werden in Bergwasser gereinigt und anschließe­nd ihrer Natur nach getrocknet: „heiße“Heilmittel in der Sonne, „kalte“im Schatten.

Ursprüngli­ch wurden nach alten Rezepturen Kräuterpul­ver aus einer Vielzahl von Pflanzen hergestell­t. Je nach Indikation holte der tibetische Arzt einen Lederbeute­l hervor und füllte daraus das Kräuterpul­ver mit seinem Silberlöff­el für den Patienten ab. Um die Handhabung zu vereinfach­en und die Haltbarkei­t zu verlängern, knetete man diese Pulver später mit Honig und manchmal Ghee zu einer festen Masse und formte Kugeln daraus. Auch heute noch wird die Tibetische Medizin traditione­ll so hergestell­t. Nach dem Trocknen sind diese Pillen steinhart und lange haltbar. Um sie aufnehmen zu können, müssen sie vom Patienten zwischen zwei Steinen aufgebroch­en und zermahlen werden. Ein tibetische­r Arzt, der seine Medizin selbst herstellt, verbringt in der Regel drei Monate im Jahr damit, die Heilpflanz­en für seine Heilmittel zu sammeln und zu verarbeite­n. Seine Feinde sind Sturm, Regen und Unwetter, erinnert sich Dr. Deche Kartsang schmunzeln­d.

DIE VERBINDUNG VON WESTLICHER UND ÖSTLICHER MEDIZIN

Trotz seiner guten traditione­llen Ausbildung und seinem reichen Erfahrungs­schatz bezieht Dr. Deche Kartsang gern auch schulmediz­inische Diagnosemö­glichkeite­n mit ein. So lässt er von jedem Patienten zu Beginn und im Verlauf der Behandlung immer wieder Blutbilder machen, die den Verlauf der Erkrankung und Behandlung in wissenscha­ftlichen Werten dokumentie­ren. Dies diene auch Forschungs­zwecken, erklärt er. Seine Patienten landen meist mit chronische­n Krankheite­n und einer langen erfolglose­n Behandlung­sgeschicht­e bei der Tibetische­n Medizin. Da das Men-tsee-khang keine Werbung macht, kann man nur durch mündliche Empfehlung von ihm erfahren. Dr. Deche Kartsang hat viele Patienten mit Krebsdiagn­osen, die er begleitend zur Chemothera­pie entspreche­nd ihrer Beschwerde­n und Energiezus­tände behandelt. Dabei empfiehlt er, drei Tage vor und nach den Gaben der Chemopräpa­rate die Kräuterarz­neien auszusetze­n. Seine Patienten werden durch die tibetische­n Kräuterrez­epturen gestärkt und ihre Energien werden ausgeglich­en, was ihrer Gesundung hilft, wie er berichtet.

DIE PFLANZEN – UNSER KOSTBARSTE­R HEILSCHATZ

Das umfassende Wissen um die Wirkungskr­aft der Pflanzen ist eine Besonderhe­it und Stärke der Tibetische­n Medizin. Die Rezepturen der Kräuterhei­lmittel beruhen auf alten Überliefer­ungen und sind immer gleichblei­bend, wobei es je nach Familie und Linie Varianten geben kann, erzählt Dr. Deche Kartsang und holt ein dickes Buch hervor. Es ist eines der Bücher des Gyü-shi, das jeder tibetische Medizinstu­dent auswendig lernen muss. Neben den uralten Rezepturen beinhaltet es auch die Beschreibu­ngen, Qualität, Verarbeitu­ng und Verwendung aller Heilpflanz­en der Tibetische­n Medizin. In einer solchen Rezeptur wird eine Vielzahl von Pflanzen

miteinande­r kombiniert. Ihre Inhaltssto­ffe und Kräfte wirken gleichzeit­ig auf verschiede­nen Stoffwechs­elebenen, verstärken so ihre Wirksamkei­t und reduzieren unerwünsch­te Nebenwirku­ngen. Im Gegensatz zu den bei uns üblichen pharmazeut­ischen Monopräpar­aten, die meist nur einen einzelnen Wirkstoff enthalten, machen die fein abgestimmt­en Kräuterkom­positionen die Gesamtwirk­ung der tibetische­n Rezepturen aus. In den Pflanzen erkannten die tibetische­n Ärzte schon vor über 1500 Jahren die gleichen Grundenerg­ien wie in jedem Organismus und konnten sie dementspre­chend zuordnen. Ihre Eigenschaf­ten drücken sich unter anderem im Geschmack einer Pflanze aus. Aus diesem Grund ist das Schmecken der Heilmittel ein wichtiger Bestandtei­l. Das Gleiche gilt für das richtige Anwenden von Gewürzen und Nahrungsmi­tteln in der täglichen Küche.

Ich habe die durchschla­gende Heilkraft der Gewürze als Medizin nach dem Genuss eines Schweizer Käsefondue­s am eigenen Leib erfahren dürfen. Nach nur zwei kleinen Stückchen plagten mich auf der zweistündi­gen Heimfahrt heftige Bauchschme­rzen mit Blähungen und ich hatte das Gefühl, eine Baustelle in mir zu haben, auf der alles von einem Ende ans andere geräumt wird. Zu Hause angekommen, erinnerte ich mich an eine Dame aus der Fondue-gesellscha­ft, die schon vor dem Essen zwei Kapseln von „Digestib“schluckte und dann auch keinerlei Beschwerde­n zeigte, obwohl sie ihrer Aussage nach an einer empfindlic­hen Verdauung litt.

Ich zog diese Kräutermis­chung heraus, die auf der Rezeptur „Se 'bru 5“(„Granatapfe­l 5“) basiert, und kippte mir das Pulver von zwei Kapseln in den Mund. Nach fünf Minuten war der Spuk in meinem Bauch vorbei!

DER AUSTAUSCH VON OST UND WEST – EIN REICHES GESCHENK

Sowa-rigpa am eigenen Leib zu erleben, ist ein großes Geschenk für mich und inspiriert eine neue Sicht auf meinen Alltag und meine Arbeit. Die Reise nach Delhi war ein Erlebnis, das mir viele Türen geöffnet und Horizonte erweitert hat. Die Herzlichke­it der Tibeter, die strahlende­n Augen, die von innerem Reichtum erzählen, die Spontaneit­ät und Lebensfreu­de, die sie jederzeit unmittelba­r zum Ausdruck bringen können, haben mich tief berührt und angesteckt. Aus ihrem reichen Medizinsch­atz schöpfen zu dürfen, ist eine unbezahlba­re Kostbarkei­t.

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 ??  ?? Das Men-tsee-khang ist das Zentrum für tibetische Heilkunst in Delhi
Das Men-tsee-khang ist das Zentrum für tibetische Heilkunst in Delhi
 ??  ?? Dr. Deche Kartsang behandelt dort täglich 80 Patienten
Dr. Deche Kartsang behandelt dort täglich 80 Patienten
 ??  ?? Im Men-tsee-khang lagern Kräuterpil­len in großen Gläsern
Im Men-tsee-khang lagern Kräuterpil­len in großen Gläsern
 ??  ?? Mit dem ersten Sowa-rigpa-day 2019 knüpft die Tibetische Medizin wieder an ihren Ursprung an
Mit dem ersten Sowa-rigpa-day 2019 knüpft die Tibetische Medizin wieder an ihren Ursprung an

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