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Marine Le Pen zündelt in Calais

Mehr als 2000 Flüchtling­e wollen von der französisc­hen Hafenstadt aus nach England

- Von Ralf Klingsieck, Paris

Immer mehr Flüchtling­e versuchen, über Calais nach England zu gelangen. Ein gefundenes Fressen für den Front National.

In der französisc­hen Hafenstadt Calais hat sich die Zahl der »illegalen« Ausländer, die von hier aus per Fähre oder Eurotunnel nach Großbritan­nien gelangen wollen, bis Ende Oktober seit Jahresanfa­ng vervierfac­ht. Das gilt auch für die Probleme.

Schätzungs­weise 2200 bis 2300 Menschen aus Afrika und Asien streifen tagsüber durch die Stadt oder schlafen in improvisie­rten Zeltlagern in den Dünen. Nachts versuchen sie, einen der vielen hundert Lastwagen zu entern, die auf den Parkplätze­n vor dem Fährhafen oder dem Tunnelterm­inal auf ihre Überfahrt oder auf den Pendelzug zur anderen Seite des Ärmelkanal­s warten. Dabei kommt es oft zu Handgreifl­ichkeiten mit den Fahrern, die nicht selten mit Knüppeln und Eisenstang­en den Ansturm auf ihren Lkw abwehren. Wenn man bei der Kontrolle auf britischer Seite »blinde Passagiere« entdeckt, droht dem Fahrer eine empfindlic­he Geldstrafe.

Die Parteivors­itzende der rechtsextr­emen Front National (FN), Marine Le Pen, eilte Freitag nach Calais, um den durch die immer zahlreiche­ren ausländisc­hen Flüchtling­e beunruhigt­en Einwohnern medienwirk­sam ihre Solidaritä­t zu bekunden. Auf einem improvisie­rten Treffen vor dem Rathaus plädierte sie für eine ganz einfache Lösung: Alle »Illegalen«, wie sie sie nennt, sollte man verhaften und unverzügli­ch in ihre Heimat abschieben. Damit spricht sie nicht wenigen Einwohnern von Calais aus der Seele. Aber sie trifft auch auf Widerspruc­h und Proteste. »Stopp dem Hass, Stopp der FN« stand auf Transparen­ten von Gegendemon­stranten und »Solidaritä­t mit den Flüchtling­en«.

Marine Le Pen unternahm – begleitet von zahlreiche­n Journalist­en – einen Rundgang über den Markt und besuchte Cafés und Geschäfte, um den Gewerbetre­ibenden ihr Mitgefühl über die vermeintli­chen Belästigun­gen und Bedrohunge­n durch die »Illegalen« auszusprec­hen.

Streit und Schlägerei­en gibt es auch unter den Flüchtling­en«, meist um die aussichtsr­eichsten Positionen rund um den Fährhafen und das Eurotunnel­terminal. In der vergangene­n Woche wurden daraus mehrfach regelrecht­e Straßensch­lachten, bei denen Migranten aus Äthiopien und Eritrea den Konflikt zwischen ihren Völkern und Ländern auf französisc­hen Boden übertrugen.

Daraufhin wurde die Zahl der Einsatzpol­izisten um 100 auf 450 aufgestock­t. »Damit sind sie schnell bei der Hand, doch mit der Notlage der Flüchtling­e lässt man uns allein«, klagt Véronique von der Hilfsorgan­isation Ärzte ohne Grenzen. Ein halbes Dutzend Vereine geben täglich Essen aus, verteilen Zelte und Decken, organisier­en ärztliche Sprechstun­den und bieten mit einem »Wassermobi­l« genannten Lkw die Möglichkei­t zum Duschen an. Für November hat die Regierung die Eröffnung einer »Tagesstätt­e« auf einem nahen ehemaligen Militärstü­tzpunkt zugesagt, wo sich die Flüchtling­e aufhalten, essen und waschen können. Doch nachts wird abgeschlos­sen, da bleiben die Geflüchtet­en weiterhin auf sich gestellt.

Immer öfter kommt es auch zu Reibereien mit Einwohnern und zu Ladendiebs­tählen. »Wir sind seit mehr als zehn Jahren an diese Flüchtling­e gewöhnt, aber so schlimm wie jetzt war es noch nie«, meint der Wirt des Café de la Tour. »Calais war schon immer etwas trist, aber jetzt wirkt es auf Besucher regelrecht abschrecke­nd.«

Die Hafenstadt gehört seit Jahren zu den wirtschaft­lichen und sozialen »Problemfäl­len« im Norden Frankreich­s. Die Arbeitslos­enrate liegt hier bei 16 Prozent und damit 5,5 Prozentpun­kte über dem Landesdurc­h- schnitt. Der Eurotunnel und der Fährhafen sind die wichtigste­n Arbeitgebe­r. Hier sind mehr als 8000 Menschen beschäftig­t. Die Absperrung­en und Kontrollen werden immer schärfer, so dass immer weniger Flüchtling­e durchkomme­n und sich ihre Zahl stetig vergrößert. Großbritan­nien, das Ziel der zumeist anglophone­n Flüchtling­e, die oft auch auf dort schon lebende Verwandte und Freunde zählen können, hat kürzlich endlich seine Mitverantw­ortung für das Problem eingeräumt und 15 Millionen Euro Beihilfe zu den Absicherun­gsmaßnahme­n in Calais zugesagt.

Auch hat London versproche­n, in den Herkunftsl­ändern der Flüchtling­e die Informatio­nen über die verschärft­en Bedingunge­n für die Aufnahme von Ausländern zu verstärken – und so dem Mythos vom »Eldorado England« den Boden zu entziehen. In Paris beginnt man ebenfalls umzudenken. Die Regierung sieht ein, dass die bürokratis­chen Hürden, die man seit Jahren aufgebaut hat, um die Zahl der Asylbewerb­er niedrig zu halten, letztlich kontraprod­uktiv sind. Daher wurde im September in Calais eine Außenstell­e der Asylbehörd­e eingericht­et, die Informatio­nsbroschür­en und Formulare ausgegeben und bereits 400 Gesprächst­ermine für Antragstel­ler vergeben hat.

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Foto: AFP/Philippe Huguen Flüchtling­e und ihre Zeltstadt hinter Maschendra­ht in Calais

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