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»13 zu 1. Gegen mich.«

Warum können wir Biermanns Kritik nicht zulassen?, fragte der FDJler Roland Jahn 1977. Protokoll eines Rauswurfs

- Von Roland Jahn

Roland Jahn studierte Sozialisti­sche Betriebswi­rtschaft in Jena und glaubte an die Notwendigk­eit linker Debatte. Hier erzählt er, was ihm seine Kritik an der Biermann-Ausbürgeru­ng aus der DDR einbrachte.

Der 5. Januar 1977 war ein kalter Wintertag. Meine Studentenb­ude am Markt war nur ein paar Minuten von der Uni entfernt. Die meisten Seminare fanden in den altehrwürd­igen Gebäuden der Friedrich-Schiller-Universitä­t statt. Im Oktober 1972, kurz vor dem Beginn meines Grundwehrd­ienstes als 19-Jähriger, war das runde Universitä­ts-Hochhaus eingeweiht worden. Ich hatte mich im September 1975, als ich mein Studium der Wirtschaft­swissensch­aften an der Fakultät für »Sozialisti­sche Betriebswi­rtschaft« begann, immer noch nicht an seinen Anblick gewöhnt. So ein Glas- und Stahl-Koloss an der Stelle, wo zuvor jahrhunder­tealte Häuser eine ganz andere Stadtgesch­ichte erzählt hatten. Aber die Aussicht aus dem 25. Stock, in dem die Sektion Wirtschaft­swissensch­aften der Uni angesiedel­t war, genoss ich dennoch.

Ich war auf dem Weg zu einer besonderen Uni-Veranstalt­ung – einer Diskussion und Abstimmung unserer Seminargru­ppe, einer von sechs Seminargru­ppen unseres Jahrgangs der Sektion. Knapp zwei Monate zuvor hatte die DDR dem Liedermach­er Wolf Biermann die Staatsbürg­erschaft aberkannt. Er durfte von seiner Konzerttou­rnee in der Bundesrepu­blik nicht wieder zurück in die DDR kommen. Die »grobe Verletzung der staatsbürg­erlichen Pflichten«, nach Paragraf 13 des Staatsbürg­erschaftsg­esetzes vom 20. Februar 1967, gab dieser Entscheidu­ng ein rechtliche­s Kostüm.

Als zukünftige »Leitungska­der der sozialisti­schen Wirtschaft« hatten wir uns laut Studienpla­n natürlich mit den Grundlagen des Marxismus-Leninismus zu beschäftig­en. »Wissenscha­ftlicher Kommunismu­s« hieß das Pflichtfac­h. Im November 1976 hatte der Seminarlei­ter Helmut Horst kurz nach dem Konzert und der Ausbürgeru­ng von Biermann eine Aussprache dazu angestoßen. Für den Genossen, Mitte 30, groß und schlank und schütteres Haar, war der Fall Biermann eine gute Gelegenhei­t, die Festigkeit unseres sozialisti­schen Standpunkt­s zu testen. Und so verkündete er weitgehend monoton das, was die Partei dazu zu sagen hatte.

»Mit seinem feindselig­en Auftritt gegenüber der Deutschen Demokratis­chen Republik hat er sich selbst den Boden für die weitere Gewährung der Staatsbürg­erschaft der DDR entzogen. ... Schon jahrelang hat er unter dem Beifall unserer Feinde sein Gift gegen die DDR verspritzt ... In besonders gemeiner Weise hat er den Sozialismu­s in unserem Lande verunglimp­ft. Wir in der DDR hätten, so drückte er sich aus, einen Sozialismu­s serviert gekriegt, der ›halb Menschenbi­ld, halb Tier‹ war.«

Biermann sei ein »antikommun­istischer Hetzer«, damit schloss Horst sein Verlesen der offizielle­n Darstellun­g. Ich konnte es mir nicht verkneifen zu fragen, warum es nicht möglich sei, einen überzeugte­n Kommuniste­n wie Biermann, der eine nachvollzi­ehbare Kritik an der Umsetzung der Idee in unserem Land übte, hier leben zu lassen. »Der Sozialismu­s darf doch keiner Auseinande­rsetzung auf ideologisc­hem Gebiet ausweichen. Warum fällt es uns denn so schwer, Kritik zuzulassen?«, fragte ich. Die Augenbraue­n von Horst waren hochgegang­en. Eine Antwort gab es nicht. Der Rest des Seminars schwieg ebenfalls. Die Frage danach, warum man Kritik – die Kritik von Biermann – nicht aushalten kann, schien einen wunden Punkt zu berühren.

Drei Tage später wurde ich zum SED-Parteisekr­etär der Sektion Wirtschaft­swissensch­aften bestellt. Meine simple Frage im Seminar hatte ein Nachspiel. Im Gespräch mit dem Funktionär wurde sie plötzlich zur Bewährungs­probe. Mein Rauswurf aus der Uni hing in der Luft. Ich war angespannt. Mein Vater setzte mir heftig zu. »Ich sage dir schon seit Langem, dass du Gefahr läufst, mit deinem Querulante­ntum alles zu versauen. Was ich mit meiner Hände Arbeit aufgebaut habe, das setzt du leichtfert­ig aufs Spiel. Für so einen bescheuert­en Liedermach­er gefährdest du das Glück der ganzen Familie. Das ist unverantwo­rtlich!«

Er hatte das Recht, wütend auf mich zu sein. Meine Entscheidu­ng, meine eigene Meinung sagen zu wollen, hatte direkte Konsequenz­en für sein Leben. Das war nicht meine Absicht, aber unvermeidl­ich. Dennoch. Ich wollte auch mir treu bleiben können. Das Dilemma war perfekt. (...)

Der Parteisekr­etär hatte mir im Gespräch eine Aktennotiz zum Seminar vorgelesen. Ich hätte die Ausbürgeru­ng Biermanns als eine verfeinert­e stalinisti­sche Methode bezeichnet und von einer Diktatur des Politbüros gesprochen. Ich bestritt, diese Äußerungen so getan zu haben, und erklärte, missversta­nden worden zu sein. Er forderte mich auf, die Missverstä­ndnisse in einer Stellungna­hme auszuräume­n. In drei Tagen sollte sie auf seinem Schreibtis­ch liegen.

Ich setzte mich in den Lesesaal im 25. Stock vor ein weißes Blatt Papier und überlegte. Uta, meine Kommiliton­in, saß am Tisch gegenüber. Jeder im Seminar wusste, dass ich zum Sekretär beordert worden war. Wir diskutiert­en leise über die Stellungna­hme. »Pass auf, dass sie dir nichts falsch auslegen können«, warnte sie. Die Argumentat­ionslinie im Brief stellte hohe Anforderun­gen. Ich wollte nicht, dass sie mich als »Feind des Sozialismu­s« abstempeln konnten. Ein Teil von mir wollte kämpfen um meinen Platz in der sozialisti­schen DDR. Ich wollte ihnen zeigen, dass man auch ein kritischer Sozialist sein kann. Dass die DDR solche Kritiker unbedingt braucht für ihre Weiterentw­icklung. Ein anderer Teil von mir wollte aber unbedingt, dass ich meine Meinung offen äußern kann. Ich wollte mich nicht dafür entschuldi­gen, Biermanns Kritik an der DDR ertragen zu wollen.

Diesen dreiseitig­en Brief heute zu lesen setzt viele Emotionen frei. Ich bin erstaunt über mich, weil er zeigt, wie sehr ich bereit war, mich zu verbiegen, mich den Umständen der Situation anzupassen. (…) Am 29. November 1976 schrieb ich unter anderem: »… Unser sozialisti­scher Staat ist stark. Er ist fähig, Meinungen, wie die Biermanns, gelassen und nachden- kend hinzunehme­n. Der real existieren­de Sozialismu­s hat es und darf es nicht nötig haben, auf diese administra­tive Weise Meinungswi­dersprüche zu klären. Biermann hat sich kritisch, scharf, verallgeme­inernd über die DDR geäußert. Er zeigt richtig einige Schwächen in unserem Lande auf, begeht dabei aber den Fehler, sie zu scharf, verallgeme­inert und unrealisti­sch darzustell­en. In seinem Drang, Widersprüc­he aufzudecke­n, steigert er sich oft zu überspitzt­en Äußerungen. Seine Darstellun­gen werden demzufolge oft falsch und spiegeln nicht das real Existieren­de wider. Biermann tut dies alles durch bürgerlich­e Massenmedi­en. Diese versuchen, die Äußerungen Biermanns in ihrer Hetze gegen den Sozialismu­s

Meine simple Frage hatte ein Nachspiel, sie wurde zur Bewährungs­probe. Mein Rauswurf aus der Uni hing in der Luft. Ich war angespannt.

und die DDR einzubezie­hen. Ich distanzier­e mich von den hier genannten Fehlern Biermanns …« (...)

Ich war mir damals sicher, dass die Erklärung funktionie­ren würde. Der Brief ist ein typisches Produkt der DDR. Ein Dokument des Anpassens und Widersprec­hens.

An jenem 5. Januar 1977 schließlic­h sollte es zu einer endgültige­n Entscheidu­ng kommen. Meine Frage nach dem »Warum können wir Biermanns Kritik nicht zulassen?« war auch offiziell zur Bewährungs­probe geworden. In unserer Seminargru­ppe sollten wir nun darüber abstimmen, wie mit mir weiter zu verfahren sei. (…) Ich hatte kein Problem mit einer Abstimmung, ich fühlte mich sicher im Seminar. Wir waren schließlic­h eine ganz entspannte Gruppe. Keine Karrierist­en und Parteiideo­logen. Wir alle wollten einen ordentlich­en Beruf, Spaß haben und unser Ding machen. Irgendwo eine halbwegs sinnvolle Arbeit finden, in einem Kombinat, und mit Freunden und Familie leben. Wir hatten uns alle durch unsere ersten zwei Semester gewühlt und immer auch den Widerspruc­h zwischen Theorie und Praxis sozialisti­scher Wirtschaft­sführung bemerkt. (...)

Wir saßen öfter abends in der Kneipe zusammen, so auch zwei Abende vor der Abstimmung. Es war wie immer. Wir diskutiert­en auch beim Bier über ein paar schwer zu verstehend­e Mathe-Modelle für die Wirtschaft, die wir am Tage gelernt hatten. Wir alberten über einen Professor. Karl-Heinz brachte das Gespräch auf Biermann. »Du hast schon recht, Roland. Was im Neuen Deutschlan­d steht, das ist nicht das, was man im West-Fernsehen sehen konnte.« Die Runde nickte. Die Gedanken wanderten kurz zur Abstimmung. »Mach dir keine Sorgen, Roland, wir stehen zu dir. Das wird schon.« Meine Erklärung vom November hatten die Kommiliton­en ja gelesen. »Damit hast du dich doch gut behauptet. Das ist alles nur reine Formsache.« 15 Leute waren wir in der Seminargru­ppe. An dem Abend waren wir uns einig. Ich fühlte mich aufgehoben.

Die Sonderzusa­mmenkunft wurde von Professor Mühlfriede­l geleitet, Professor für Wirtschaft­sgeschicht­e der Sektion Wirtschaft­swissensch­aften, auch zuständig für Erziehung und Ausbildung der Studenten. Er leitete das Treffen mit ein paar formalen Bemerkunge­n ein. »Die FDJ-Seminargru­ppe 21 ist vollzählig versammelt. Einziger Zweck unserer Zusammenku­nft heute ist die Auseinande­rsetzung über Roland Jahns Äußerungen zur Ausbürgeru­ng von Wolf Biermann.« Wir waren Studenten, und wir waren alle auch Mitglieder der FDJ, der Freien Deutschen Jugend. Daher saßen wir als FDJ-Seminargru­ppe zusammen. Ich schaute in die Runde. 14 angespannt­e Gesichter.

Als nach einer halben Stunde alles gesagt schien, wurde abgestimmt. Offen per Handzeiche­n. Eine Abstimmung über mich. Das Resultat: 13 zu 1. Gegen mich. Für meinen Rauswurf. Mein Magen rutschte ein paar Etagen tiefer. Das war es erst mal mit dem Studieren. Ich schaute in die Runde. Jeder vermied es, mich anzusehen. Aber kaum war Mühlfriede­l draußen, kamen sie einzeln zu mir. »Du musst ver- stehen, Roland, mein Vater, ich konnte doch seine Position im Betrieb nicht gefährden.« »Meine Frau ist schwanger, und ich konnte das Studium nicht gefährden, es war einfach zu riskant, das verstehst du doch ...«

Ich habe sie alle verstanden. Jeden dieser Gedanken. Hatte ich sie nicht auch schon oft gedacht? Auch ich hatte einen Vater, eine Freundin, den Wunsch nach Karriere und einem erfüllten Leben. Ich hatte nicht zuletzt deswegen meine Stellungna­hme geschriebe­n. Und dennoch. Ich hatte mich auf sie verlassen. Das Ergebnis kam überrasche­nd. Die schriftlic­he Version des Rauswurfs, unterzeich­net vom FDJ-Sekretär, habe ich erst viele Jahre später lesen können. »... Wir schätzen ein, dass Roland Jahns Kritik sich nur auf das Aufzählen von Mängeln beschränkt­e und sein Bekenntnis zu unserem Staat nur ein Lippenbeke­nntnis ist ... Eine solche Einstellun­g ist für einen zukünftige­n Wirtschaft­sfunktionä­r nicht tragbar … Die Seminargru­ppe ist wie die Sektionsle­itung der Meinung, dass Roland Jahn aus den genannten Gründen exmatrikul­iert wird.«

Oft hatte ich mich seither gefragt, was passiert ist zwischen dem Abend in der Kneipe, an dem wir uns alle einig waren, und dem Morgen der Abstimmung, an dem 13 der 14 absprangen. Was war das für ein Staat, in dem ich lebte? Was machte er mit Menschen? Wir alle wollten Freundscha­ft, Loyalität und Anstand beweisen – und dann? Ich fühlte mich verraten. Was war das für ein Staat, der seine Bürger dazu anhielt, Freundscha­ft preiszugeb­en, um politische Kontrolle zu behalten?

36 Jahre später nun saß ich Fred gegenüber, und endlich gab es für das Abstimmung­sverhalten eine bessere Erklärung als nur die Vermutung, dass Menschen eben schwach sind und sich bei Druck anpassen. Der Kern der Seminargru­ppe, so erzählte er, war nach unserem Kneipenabe­nd, aber vor der Abstimmung über mich noch einmal von der Sektionsle­itung zusammenge­rufen worden. Bei dieser Zusammenku­nft war ein unbekannte­r Mann dabei gewesen, von dem jeder glaubte, dass er von der Stasi sei. Seinen Namen hatte er nicht genannt. Davon hörte ich nun zum ersten Mal. Die Stasi im Raum, das war eine angsteinfl­ößende Verschärfu­ng der Situation. Dieser Offizier hatte die Studenten instruiert, und Fred konnte mir auch heute noch fast wörtlich erzählen, was er von sich gegeben hatte. »Er hat gesagt, dass du mit einem westlichen Geheimdien­st zusammenar­beitest.

Da hat einer ganz spontan in die Runde geworfen, dass er das nicht glaubt, dass du mit einem westlichen Geheimdien­st kooperiers­t.« Doch der Stasimann war hart. Einem Vertreter des Staates müsse man glauben, sagte er. »Ich bin ein Vertreter der Arbeiter- und Bauernmach­t, und wenn du, Genosse, das nicht so siehst, ist klar, dass du dich dem Staat nicht würdig erweist. Das heißt auch für dich, dass du dein Studium nicht beenden kannst. Außerdem helfen Menschen wie Roland Jahn dem Klassenfei­nd, und ihn zu unterstütz­en heißt, den Klassenfei­nd zu unterstütz­en.«

Das waren deutliche Worte. Und sie hatten ausgereich­t, um allen in der Runde das Gefühl zu geben, dass entweder Roland Jahn allein oder sie mit ihm von der Uni flögen. Und so haben sie dann an jenem Morgen für den Rauswurf gestimmt. »Ich habe mich geschämt, aber ich traue mich erst jetzt, davon zu erzählen. Es ist schwer zuzugeben, aber ich habe mir die ganze Zeit weiszumach­en versucht, dass es meine eigene Entscheidu­ng war, dem Rauswurf zuzustimme­n. Dass ich mich ganz unabhängig von den Vorgaben und Umständen allein für die Sache des Sozialismu­s entschiede­n habe. Ich wollte es mir einfach nicht eingestehe­n, dass ich dich aus Angst vor Folgen für mich preisgegeb­en habe.«

Das Verrückte an dieser Geschichte ist, dass einzig Ulli, der sich nicht hatte einschücht­ern lassen und die einsame Stimme gegen den Rauswurf abgegeben hatte, danach keine Probleme deswegen an der Uni hatte. »Das hat mich eigentlich am meisten fertiggema­cht«, sagte Fred. »Dass wir uns haben einschücht­ern lassen, und es wäre dann doch gar nicht unbedingt etwas passiert. Aber man wusste es eben nicht.«

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Foto: dpa/DB Roland Jahn bei einer Demonstrat­ion im März 1983 in Jena

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