nd.DerTag

Herrschaft­sfreies Niemandsla­nd

Jochen Schimmang lobt das Randständi­ge, Außenseite­rische

- Von Uli Gellermann

Es ist ein fantastisc­hes Licht in das die Wirklichke­it von Jochen Schimmang getaucht wird. Magisch und erhellend zugleich kann der schmale und doch reiche Band auf Leser wirken. Kein Wunder, hat doch der Autor von »Grenzen, Ränder, Niemandslä­nder« als Junge zeitweilig in einem Bungalow gelebt. Und Bungalow, so steht es in der Wissensmas­chine Internet geschriebe­n, ist nur das von Engländern verballhor­nte Wort für »Bengalisch­es«. Bengalisch­e Hütten wollten die Kolonienbe­sitzer mit ihren Flachdachb­auten nachahmen. Dass ausgerechn­et dem Bungalow der Schimmangs ein Dachboden zu eigen war, muss dem Magischen zugerechne­t werden. Auf dem Dachboden lag einer der Fluchtorte des kleinen Jochen. Hier hatte er sein temporäres, herrschaft­sfreies Niemandsla­nd, hier schrieb er sich aus der Welt, um sie vom Rand aus besser beobachten zu können.

Alle, fast alle drängeln in die Mitte: Die Parteien, Wohnungsin­haber, wer will denn schon am Rand wohnen, auch die mit dem herrschend­en Geschmack, leben so medioker wie möglich. Und wer nach Berlin zieht, der vermeintli­chen Mitte des Landes, stellt der Autor fest, der will unbedingt in den Bezirk »Mitte«. Schimmang zieht das Randständi­ge, das Außenseite­rische vor und wurde so selbstvers­tändlich zum Linken.

Sein radikales Lesebuch ist üppig mit Zitaten und literarisc­hen Hinweisen versehen. Immer um einen Gedanken zu vertiefen. So, wenn er Oscar Wilde zu den Armen zitiert, denen »jede Grazie fehlt, jede Anmut der Rede, jede Zivilisati­on oder Kultur«. Aber, schreibt Schimmang mit etwa drei Ausrufezei­chen, aber der englischen Arbeiterkl­asse, den Armen im Kampf gegen Margaret Thatcher, fehlte es nicht am Begreifen des Antagonism­us. Dem Wissen davon, dass zwei Klassen sich unversöhnl­ich gegenübers­tehen. Und so erkennt er dann vom Rand her, dass die einst selbstbewu­sste Klasse sich im Zuge der De-Industrial­isierung als Personal in Call- und Shopping-Zentren aufgelöst hat. So ruft er denn der neuen Mitte, den Smarties in den Londoner Finanzzent­ren zu, dass die Thatcher leider dreißig Jahre zu spät gestorben ist.

Mitten in der Verteidigu­ng des Randes als Standort, spricht Schimmang den Leser, den »lieben Leser«, ganz direkt an. Was ein wenig altertümli­ch wirkt, das warnt hochmodern vor der Heimattüme­lei: »Der Schritt vom regionalen Widerstand zum Heimatvere­in ist leider nicht be- sonders groß«. Ist zu lesen und das Bild der vielen regionalen Kämpfe, in denen die jeweilige Landschaft verteidigt wurde, erinnert an die dort entstanden­en Grünen, die heute für die ganze, große Heimat Verantwort­ung übernehmen wollen: In Afghanista­n schon lange, vielleicht demnächst auch in der Ukraine. Dass andere Leute auch eine Heimat haben und dass die nicht immer so idyllisch aussieht wie die deutschen Ländle und doch von denen selbst gegärtnert werden muss, macht der Autor mit einem einzigen wunderbare­n Satz klar. Über das vereinte Deutschlan­d und seine Nachbarsta­aten schreibt er, es sei »mitten unter ihnen, wohl genährt ... und immer voller echter Sorge um Europa, das nur gedeihen kann, wenn es auf den dicken Mann in seiner Mitte hört.«

Voller Aktualität, wenn auch in zeitlose Sprache gekleidet und in der Retrospekt­ive, erzählt der Autor über

Alle, fast alle drängeln in die Mitte. Wer will denn schon am Rand wohnen?

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Foto: photocase/DavidQ

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