Im Parforceritt durch ein großes Leben und Werk
»musica reanimata« im Konzerthaus Berlin – Erinnerung an einen vergessenen Komponisten: Ernst Toch
Die Reihe »musica reanimata« ist nicht wegzudenkender Teil der Berliner Musiklebens. Relevant schon allein, weil allzu vieles, das es verdiente, festgehalten zu werden, verloren zu gehen droht, wären da nicht Leute, die dem entgegenarbeiteten, in dem sie das Vergessene ins Leben zurückführen, die schuldlos an den Rand gedrängten, in finsterer Zeit ausgegrenzten, gefangen gehaltenen oder ermordeten Musiker. Eine hehre Aufgabe. Vieles harrt noch der Aufarbeitung.
Leiter der Reihe ist der Buchautor, Musikwissenschaftler und -kritiker Albrecht Dümling. Beschlagen der Mann, einer mit langem Atem und kaum zu bremsendem Forscherdrang. Der meistvergessene Komponist des 20. Jahrhunderts sei Ernst Toch, signalisiert die Überschrift des jüngsten, 114. Gesprächskonzerts. Dümling hatte dazu den Musikwissenschaftler Habakuk Traber eingeladen, Autor dutzender Bücher und Essays, profunder Kenner nicht nur der Musik des 20. Jahrhunderts. Er hatte sich schon 1987, zum 100. Geburtstag des Ernst Toch, in Westberlin um die Wiederentdeckung des jüdisch-deutsch-amerikanischen Meisters verdient gemacht.
Von Ernst Toch erklang Klavierund Kammermusik mit Pianist Vladimir Stoupel, der Violinistin Tanja Becker-Bender, dem Bratschisten Itamar Ringel und dem Cellisten Mikayel Hakhnazaryan. Allesamt Könner ihres Fachs. Die Gesprächspartner waren bestens vorbereitet und verblüfften die Hörer zum Teil mit wenig oder unbekanntem Material. Beispiel: Die späten 1930er Jahre, Toch, in seinem Haus im Los Angeles-Exil; es läutet, er macht die Tür auf und stutzt. Vor ihm steht der blutjunge John Cage, in der Hand die »Fuge aus der Geografie« für sprechenden Chor, ein Stück für Sopran, Alt, Tenor, Bass, das Sprechweisen aus verschiedenen Weltregionen (Honolulu, Fluss Mississippi, Kanada, Mexiko etc.) integriert und verfremdet. Er, Cage, würde es gerne fortkomponieren, so sehr hätte es ihm zugesagt. »Sprechende Musik«, »Radiokomposition«, neusachliche, das Romantische eliminierende Stücke, Nähmaschinenmusik, Musik für elektrische Instrumente – in all jene Strömungen der 1920er und frühen 1930er Jahre greift Toch produktiv ein und steuert Eigenes bei. Gefeierter Mann auf den einschlägigen Festivals in Donaueschingen und Berlin. Toch hätte namentlich Schönberg bewundert und dessen »Harmonielehre« eigenwillig ergänzt durch eine »Melodielehre«, geschrieben 1914, gedruckt 1923.
Im Parforceritt geht es dialogisch durch die Lebens- und Werkgeschichte des Meisters. Privates erhält genügend Raum. Toch ist frühbegabt, lernt Klavier, probiert alle möglichen Instrumente aus und studiert in Wien und Heidelberg Medizin, Philosophie und Musikwissenschaft. Mit dem Komponieren beginnt er 1900 als Autodidakt. Kein geringerer als Mozart ist sein Vorbild. Das erste von 13 Streichquartetten entsteht 1905, desgleichen die »Stammbuchverse« für Klavier. 1933 ist das Schlüsseljahr für ihn und seine Familie. Er verlässt mit Flügel, Möbeln, Büchern, Noten Deutschland und flieht erst nach Flo- renz, dann nach Paris und London. Nirgends fasst er Fuß. Die Übersiedelung nach Los Angeles gelingt 1936 nach zweijähriger Tätigkeit an der New School for Social Research New York. Toch erlangt in Hollywood als
Die in finsterer Zeit ausgegrenzten, gefangen gehaltenen oder ermordeten Musiker wieder ins Leben zurückholen – das ist eine hehre Aufgabe.
Filmkomponist Rang und Namen. Horror- und Abenteuerfilme geben ihm reichlich Beschäftigung. Endlich hat er Geld. Doch 1945 ist mit der Filmmusik Schluss. Zwei seiner insgesamt sieben Symphonien entstehen während seines Aufenthalts in Europa zwischen 1949 und 1952. Weithin vergessen, stirbt er 1963 in Santa Monica.
Albrecht Dümling und Habakuk Traber rühmen das Können des Meisters und weisen namentlich auf seine Klavier- und Kammermusik. Die 1923 komponierten Burlesken für Klavier op. 31, das Streichtrio von 1936 und die Impromptus von 1963 kommen, eindrücklich aufgeführt, zu Gehör. Das Streichtrio, eigenwillig in Harmonik und Ausdruck, darf allemal in die Reihe der Streichtrios von Max Reger (a-moll, op. 77 b) und Arnold Schönberg op. 45 genannt werden. Solch ein Meister – vergessen? Nicht ganz. Toch erlebte zuletzt noch manche Aufführung eigener Werke. Für seine 3. Symphonie erhielt er 1955 den Pulitzerpreis.
1987 meldete sich Tochs Werk zurück. CD’s erschienen. Seine Opern kamen auf die Bühne und einiges mehr. Und es müsse ihm weiter mehr Beachtung geschenkt werden – so das Fazit des Gesprächs. Das dritte Impromptus, dem Violoncello solistisch übertragen, ist Ernst Tochs Schwanengesang. Der 3. Satz »con espressione« endet trauererfüllt.