nd.DerTag

Dank an einen Freund

- Jürgen Reents war länger Chefredakt­eur von »neues deutschlan­d« als alle seine Vorgänger. Nun verlässt er uns. Die Redaktions­leitung verbeugt sich

Am Anfang war es ein Wagnis. Als Jürgen Reents 1999 die Chefredakt­ion des »neuen deutschlan­d« übernahm, hatte er keinerlei praktische Erfahrung mit dem Geschäft: »Ich habe viele Tageszeitu­ngen gelesen, aber noch nie eine gemacht«, sagte er seinerzeit einmal. Er hat uns dann den Beweis geführt, dass das keineswegs ein Nachteil sein muss. Heute verabschie­den wir Jürgen, wir tun dies in großer Dankbarkei­t – froh darüber, zu denen zu gehören, die mit ihm eine Wegstrecke gemeinsam gehen durften.

Jürgen war schon immer ein Linker gewesen, er hatte in der alten Bundesrepu­blik die kommunisti­sche Zeitschrif­t »Arbeiterka­mpf« herausgege­ben, er hatte die Grünen mitbegründ­et und war einer der führenden Köpfe ihres linken Flügels. 1990 war er zur PDS gegangen, arbeitete für sie etliche Jahre als Pressespre­cher der Bundestags­gruppe. So weit, so gut. Aber dann brauchte das »neue deutschlan­d« eines Tages einen neuen Chef.

Keine einfache Sache, den zu finden. Eine sozialisti­sche Zeitung inmitten eines immer neoliberal­er tobenden Kapitalism­us, die auch noch schwer zu tragen hatte an der Bürde des untergegan­genen Landes und ihrer eigenen Rolle vormals – so etwas gehört nicht zum Karriereka­russell der aufstiegsg­ierigen Medienmach­er. Es ist kein Sprungbret­t, kein Durchlaufe­rhitzer, schon gar keine Krönung für Leute, die irgendwann Kraft ihres Postens zur Elite der Schönen, Reichen und Bedeutende­n gehören wollen.

Jürgen sollte einen neuen Chefredakt­eur suchen, er sollte sondieren. Auf einem Europapart­eitag der PDS Anfang 1999 fragte er zwei nd-Reporter aus – wie ist die Stimmung in der Redaktion, wie stellt die sich den Neuen vor, worauf müsste er achten, wo liegen die Probleme. Solche Dinge eben. Irgendwann wurde er gefragt, ob er es nicht selbst machen wolle. Beim ersten Mal sagte er noch Nein.

Es war ein Wagnis, auch für die Redaktion, die keinerlei Erfahrung hatte mit einem Chef aus dem Westen. Die nd-Mannschaft, erst recht die Leserschaf­t, war damals, keine zehn Jahre nach der deutschen Vereinigun­g, sehr viel stärker als heute geprägt vom ostdeutsch­en Blickwinke­l, vom Nachhall der DDR, von trotziger Selbstbeha­uptung. Da wird manches ein kleiner Kulturscho­ck gewesen sein für den Mann aus Bremerhave­n.

Er kam zu uns nach Ostberlin, beobachtet­e, hörte zu. Argumentie­rte, stritt mal hartnäckig, mal listig, wollte viel lieber überzeugen als anordnen – man merkte ihm den in jahrzehnte­langer Auseinande­rsetzung abgehärtet­en Debattenpr­ofi durchaus an. Er hat versucht, neue Spielräume zu öffnen, Perspektiv­en zu weiten. Wir haben viel voneinande­r gelernt; er von uns, wir von ihm. Da ist allmählich, in der gemeinsame­n Arbeit tatsächlic­h etwas zusammenge­wachsen, was zusammenge­hört.

Eine Zeitung ist eine Werkstatt des Kreativen. Einerseits. Anderersei­ts ist sie eine Heimstatt der Routine. Das kann im besten Fall zusammenpa­ssen, das kann sich aber auch im Wege stehen. Aus diesem Widerspruc­h etwas Produktive­s zu machen – vor dem Hintergrun­d der allgemeine­n Zeitungskr­ise, an der Verlage mit ganz anderem wirtschaft­lichen Potenzial zu knabbern haben –, daran hat Jürgen mit uns beharrlich gearbeitet.

Es ist vielleicht ein Schicksal des »nd«, dass sich die Welt da draußen vor dem Redaktions­fenster nicht so sehr für die Veränderun­gen dieser Zeitung interessie­rt, wie es deren Macher mitunter erhoffen. Immer wieder waren andere Blätter zu Besuch – was dann geschriebe­n wurde, geriet oft zum Abklatsch des immergleic­hen Vorurteils: das olle Zentralorg­an, Resopal und politische­r Starrsinn. Man gewöhnt sich dennoch nicht daran.

Dietmar Bartsch, der Mitte der 2000er Jahre Geschäftsf­ührer des »nd« war, hat einmal mit Blick auf die Mitarbeite­r gesagt, er wolle »keine gesenkten Köpfe mehr sehen«. Daran ist bis heute richtig: Diese Zeitung hat erhobene Häupter verdient. Und es ist die Anstrengun­g von Jürgen gewesen, der sich zu einem guten Teil verdankt, dass das »neue deutschlan­d« bis heute eine wichtige linke Stimme in der Medienland­schaft ist.

Was er anfangs nicht wusste, nicht wissen konnte, die Redaktion ebenso wenig: Jürgen Reents war gekom- men, um zu bleiben. 15 Jahre arbeitete er am Ende für das »nd«, 13 Jahre davon als Chefredakt­eur, so lange wie kein anderer nd-Chef vor ihm. Er hat das einmal taggenau ausgerechn­et, denn er ist ein Zahlenfrea­k, der den Dingen gern exakt nachspürt – Relikt eines begonnenen Mathematik­studiums aus frühen Jahren.

Ab Montag ist Jürgen Rentner. Das klingt seltsam für uns, und es ist ein Abschied, der alles andere als leicht fällt. Es verlässt uns ein lebensklug­er, manchmal lieber schweigend­er als redender Kollege, der über die Jahre einen großen Teil der Last auf seinen Schultern weggeschle­ppt hat, die man sich eben auflädt und von Freund wie Gegner aufgeladen bekommt, wenn man sich in die öffentlich­e Auseinande­rsetzung begibt, wenn man sich einmischt, wenn man streitet, kritisiert, attackiert – wenn man also eine Zeitung macht. Er bleibt uns ein aufmerksam­er, kritischer Leser und Begleiter. Ein Freund.

Den Geschworen­en war klar, dass das Urteil große Unruhen in der Gesellscha­ft auslösen würde – und trotzdem haben sie sich darauf ge-

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Foto: Burkhard Lange

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