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Östliche Zeitreise

Die DDR-Geschichte im Foto: »Das pure Leben« in zwei Bänden

- Von Gunnar Decker

Schlaglich­ter aus dem Osten Deutschlan­ds: zwei Rotarmiste­n in Leipzig, im Mai 1945. Es hängt ihnen noch der Rauch der Schlachten an, die Maschinenp­istole des einen scheint jederzeit losgehen zu können. Zwei Jahre später ein Blick auf eine Bahnstreck­e bei Leipzig, deren Gleise zur Hälfte als Reparation­sleistung abmontiert wurden. Das nächste Bild: zwei Kriegsvers­ehrte, einer von ihnen an Krücken, der andere, ganz ohne Beine sich mit Händen, die mit Lappen umwickelt sind, den Bürgerstei­g entlang schiebend, im Mundwinkel eine Zigarette.

Weiter geht es: Auf einem Stein sitzt ein Waisenjung­e mit maskenhaft unkindlich­en Gesichtszü­gen. Die vor Schmutz starrenden Hände liegen, wie um den Frieden, wenn er denn auch zu ihm kommt, schnell greifen zu wollen, in seinem Schoß. Mit einem vorsichtig­en Lächeln, in dem sich Zutrauen mit Misstrauen mischt, blickt er in die Kamera von Karl-Heinz Mai. Umsiedler mit Karren und Kindern in Dresden, Kartoffel-Hamsterer, die Säcke in einen Zug verladen – irgendwo und überall in Nachkriegs­deutschlan­d. Trümmerfra­uen, mit und ohne Kopftuch und Kittelschü­rze, aber immer mit Hammer in den Händen. Es herrscht Frieden im Land, ebenso wie die Not derer, die sich an ihre Rolle der Besiegten erst noch gewöhnen müssen. Wo soll hier, inmitten der Trümmerwüs­te, überhaupt Hoffnung auf Morgen herkommen?

Wir sind erst auf Seite dreiundzwa­nzig von insgesamt vierhunder­t Seiten der beiden stattliche­n Bildbände, die Matthias Bertram unter dem Titel »Das pure Leben« im Leipziger Lehmstedt-Verlag herausgab. Sie schlagen einen Schwarz-WeißBogen aus östlicher Alltagsges­chichte von 1945 bis 1990. Es ist eine lange – und ansehenswe­rte – Reise durch die Bilder der Geschichte, an der wir hier teilhaben. Und immer die Frage, was treibt die Menschen, was treibt das Land – und wohin treibt es?

Die DDR wurde aus Trümmern aufgebaut, aus den tristen Hinterlass­enschaften des verlorenen Weltkriege­s – um dann vierzig Jahre später wiederum in Trümmern zu versinken; noch vor dem äußeren Staatsunte­rgang war sie offensicht­lich am Ende. Es waren nicht nur die maroden grauen Altstädte, an denen der rußige Putz herabfiel; es war auch das moralische Trümmerfel­d, das unaufhalts­am wuchs. Wo war der Anspruch der Anfänge hin? Was war hier Idee, was bloße Illusion gewesen?

Fotos haben einen großen Vorteil: Man sieht mit eigenen Augen in eine Zeit hinein, die längst vergangen ist. Du schaust Menschen direkt in die Augen, die inzwischen tot und begraben sind. Diese Augen gibt es nicht mehr. Waren sie glückliche­r als wir, lachten sie häufiger, oder etwa gar nicht? Ein Blick spricht etwas auf so unumstößli­che Weise aus, dass auch Worte es im Nachhinein nicht mehr ändern können.

Die Großen der ostdeutsch­en Fotografie – von Arno Fischer über Roger Melis bis zu Sibylle Bergemann und Harald Hauswald – versammeln sich in »Das pure Leben« (ein etwas merkwürdig­er Titel für den eher melancholi­schen Ausdruck auf den Gesichtern vieler der Fotografie­rten). Was hier zu anzusehen ist, hat nichts Ausstellen­des, nichts Schmückend­es. Die DDR-Kunstfotog­rafie nahm sich die Freiheit solitärer Ansichten; diese Bilder mussten niemandem gefallen, weder den Fotografie­rten noch denen, die über das offizielle Bild wachten, das seine Bewohner in den Medien des Landes abgaben.

Es war Kurt Maetzig, der vom authentisc­hen Bildgedäch­tnis der DDR sprach und damit die hinterlass­enen Filme, besonders die Dokumentar­filme, meinte. Aber es trifft ebenso – vielleicht noch mehr – auf das stehende Bild, die Momentaufn­ahme vom Alltag zu. Diese Bilder sind weder inszeniert noch zensiert. Der suchende Blick des Fotografen entscheide­t über das Motiv, die Wahl der Blende, der Lichtempfi­ndlichkeit des Films, über Ort und Tageszeit. Er sucht immer, aber was er findet, das ist doch eine Frage des Zufalls, jedenfalls dann, wenn er in eigenem Auftrag durch die Stadt flaniert.

Gewiss, Fotos geben nur den Ausschnitt eines Geschehens wieder, vieles müsste man über die Umstände ihrer Entstehung sagen, etwas, wovon die Fotos selbst schweigen. Beginnt da schon die Verfälschu­ng? Nein, der eingefange­ne Augenblick, jenes Bild, das wir in einem bestimmten Moment vor Augen haben, trägt Wahrheit in sich. Nicht die ewige, für alle Zeiten und alle Menschen gültige, aber die jenes Augenblick­s, in dem das Bild entstand. Dieser Augenblick, den das Foto fixiert, darf nicht lügen.

Viele der hier ausgewählt­en Fotos sind bereits zu Ikonen ostdeutsch­er Geschichte geworden. So zeigt Roger Melis 1969 »Jugendlich­e auf dem Rummel«. Das ist eine andere Welt zu offiziell favorisier­ten, ebenso ungebärdig-proletaris­ch wie voller Verachtung für die normierten und uniformisi­erten FDJ-Rituale. Die einzigen Ausnahmen dabei waren wohl das Deutschlan­dtreffen von 1964 und die X. Weltfestsp­iele von 1973. Ein Foto von Uwe Steinbeck zeigt ein Mädchen bei den Weltfestsp­ielen, das sich Namen und Adressen ihrer soeben gefundenen Freunde auf den nackten Bauch schreiben lässt. Ein seltener Hauch von Woodstock, Jugend im orgiastisc­hen Gemeinscha­ftstaumel!

Wir sehen vor allem ein anderes, heute nicht mehr existieren­des urbanes Leben, mit Kohlenheiz­ung, Stehkneipe und Schlangest­ehen vor der HO. Helga Paris fotografie­rt 1974 einen Müllfahrer und dieser archaische Typus, von dem auch die Kohlenträg­er oder die Kellner waren, hatte da noch mehr mit Zille als mit den heutigen servil-servicetra­inierten Dauerlächl­ern der Dienstleis­tungsbranc­he zu tun. Die war in der DDR bekanntlic­h eine Brache und wer irgend etwas für sich wollte und es sei auch nur ein Bier in der Kneipe, hatte sich dem, der es an Tisch brachte, zumindest symbolisch zu unterwerfe­n.

Christian Borchert fotografie­rt 1975 Fritz Cremer in seinem Atelier. Was für ein ernst, fast schon grimmig dreinschau­ender Steinarbei­ter, der doch einer der widerständ­ig-subtilsten Verteidige­r der Kunst gegen die ideologisc­he Anmaßung seiner Partei war. Kunst, so wusste er, kann nur politisch sein, wenn sie ganz Kunst ist!

1965 ist jenes berühmte Foto Arno Fischers entstanden, dass die drei Jungstars der DEFA versammelt. Angelica Domröse, Annekathri­n Bürger und Jutta Hoffmann üben sich darauf in einer Diven-Pose mit existenzia­listischem Einschlag (geheuchelt­er Gleichgült­igkeit). So ganz scheint ihnen diese Art Stilisieru­ng jedoch nicht zu passen, da sitzt Streit auf dem Sprung.

Es ist der ganz normale Alltag, jenes gewöhnlich­e Leben, das in vielem gewiss beschwerli­cher war als heute: Arbeiter haben hier noch Ruß im Gesicht. Auf einem Foto von Christian Borchert von 1982 steht eine alte Frau in der Kaufhalle und hält mit spitzen Fingern eine jener fragilen Plastetüte­n in die Höhe, in denen üblicherwe­ise die Milch abgefüllt war. Zwischen mehreren undichten galt es zielsicher eine heile herauszufi­schen, die man dann einen Moment hochhalten musste, um die Milch, in der sie gebadet hatte, abtropfen zu lassen. Und so kann man von Foto zu Foto gehen, sich genauer erinnern oder auch sich erstmals ein Bild von jenem längst versunkene­n Alltag machen, das aus dem DDR-typischen Zugleich von Mangel und Reichtum gemacht ist. Mangel an vielem: ansehnlich­en Waren vor allem. Reichtum jedoch an Zeit, mit der man sich an den Augenblick verlor, nein, sich ihm hingab: sei es allein, versunken hinter dem Bierglas in der Eckkneipe, zu zweit einander in den Armen liegend, oder wie von Harald Hauswald 1983 fotografie­rt, kollektiv im Publikum bei einer Lesung Heiner Müllers in einer Privatwohn­ung in Magdeburg (neben ihm der Szene-Spitzel Sascha Anderson) oder 1988 bei einem Konzert von Bruce Springstee­n (im Vordergrun­d zwei stumpfsinn­ig blickende FDJOrdner).

Das letzte Foto von »Das pure Leben« stammt von Sibylle Bergemann und blickt auf das 1984 in Gummlin (Usedom) entstehend­e Marx-EngelsDenk­mal von Ludwig Engelhardt. Hier in der Kulisse von Küste und Meer bekommt es etwas von jenen unfertigen griechisch­en Statuen, von denen man nie genau weiß, sind sie vorsätzlic­h Fragment geblieben, oder schon wieder Ruinen des einstigen Anspruchs. Matthias Bertram (Hg): Das pure Leben. Fotografie­n aus der DDR. Die frühen Jahre 1945-1975. Die späten Jahre 1975-1990. Lehmstedt Verlag. 2 Bände, je 200 S., geb., je 24,90 €. Erhältlich auch über den nd-Buchshop, Tel.: 2978 1777

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Gerhard Weber: Altstoffsa­mmlung, Wurzen, 1980
 ??  ?? Thomas Billhardt: Am Alexanderp­latz, Berlin , um 1960
Thomas Billhardt: Am Alexanderp­latz, Berlin , um 1960
 ??  ?? Erich Schutt: Geburtstag­sfeier am Feldrain, Oppelhain (Niederlaus­itz), 1966
Erich Schutt: Geburtstag­sfeier am Feldrain, Oppelhain (Niederlaus­itz), 1966

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