nd.DerTag

Die plötzliche Wärme der Worte

Ein Einstimmun­gsversuch: Es beginnt die Zeit des Advent. Wir erwarten – aber was?

- Von Hans-Dieter Schütt

Am Sonntag nun beginnt die Adventszei­t: Kommenszei­t. Erwartung – nichts anderes heißt Advent, wenn wir einmal kurz davon absehen, dass es unbedingt auch verlängert­e Ladenöffnu­ngszeiten und erhöhte Bratwurstp­roduktion heißt. Die Zeit, die jetzt vor der Tür steht, stellt sich nicht vor jede Tür, der Eingang eines Shopping-Centers muss es schon sein. Eilige und dann immer eiligere Tage laufen so auf jenen Dezemberab­end zu, der vielen Leuten heilig vor allem in einem sein wird – in der Anrufung nämlich: »Gott sei Dank, alles vorbei!« Es wird jetzt sehr viel Licht werden in den Städten. Als sei, was da zu feiern gilt, ganz natürlich gebunden an den Prunk von Kathedrale­n. Es ist doch aber das Gegenteil.

Was mit dem Jesus der Christen begann, fand – nach altjüdisch­er Verheißung – nämlich nicht in der Hauptstadt Jerusalem statt, nicht im imperialen Zentrum Rom, sondern, wie wir wissen, im geringen Ort Bethlehem. Ganz unten. Im Elend. Von Maria schreibt Bertolt Brecht: Mit der Geburt ihres Sohnes »vergaß sie die bittere Scham nicht allein zu sein/ Die dem Armen eigen ist«. Ja, immer will, wer arm ist, lieber allein bleiben. Im Dunkeln. Denn aussortier­t zu sein und übersehen zu werden in aller Öffentlich­keit, mit Absicht oder aus Hilflosigk­eit – das ist nichts, was einen aufrichtet unter all den anderen, die bislang davonkamen.

Aber: Mit dem Kind in der Krippe war plötzlich eine Armut, eine Ungeschütz­theit, eine Unbehausth­eit so schamlos öffentlich, dass sich daran der Maßstab aufbaute, was Gerechtigk­eit sei: niemanden als niedrig zu betrachten. Statt Geringschä­tzung: das Geringe schätzen. Das Geringe und jeden Geringen. So verschwind­et zwar das Geringe nicht und auch nicht das als gering Eingestuft­e – aber immer wächst, wo man sich fremdes Leid ins eigene Gemüt holt, ein wenig das Bewusstsei­n von der Unteilbark­eit der Welt. Der Nutznießer ist immer auch Verantwort­licher. Verantwort­ung fühlen heißt: mutwillige Selbstbela­stung – und zwar mit den Sorgen derer, denen das Genießen des Lebens abhanden kam. Weil ihnen der Nutzen für die Gesellscha­ft abgesproch­en wurde? Auch, vor allem aber, weil ihnen die Freude an sich selber abgesproch­en wird. Du bist mehr als deine Nützlichke­it!

Dass sich der Schwache, der nicht Flexible, der zu Langsame, der Arbeitslos­e endlich öffentlich nicht mehr schämt, so zu sein, wie ihn die Welt gemacht hat – vielleicht beginnt da so etwas wie Menschwerd­ung: Wo einem Menschen die Scham über dessen Schicksal genommen wird, entwickelt sich, vielleicht, ein gemeinsame­s soziales Gewissen – dafür, nun endlich auch das Schicksal zu ändern, das belastet, beschädigt. Würde ist keine Frage des Einkommens. Arbeitslos­e zum Beispiel, sagte Christoph Schlingens­ief, »sind die Archäologe­n unserer Zeit, sie suchen das Kostbarste, so schnell Versinkend­e: Arbeit. Es sind höchst ehrenwerte Leute!«

Allenthalb­en wird in der Politik geradezu rührig und zugleich ungerührt davon geredet, es gelte Abschied zu nehmen von den gemütliche­n sozialen Strukturen des 19. und 20. Jahrhunder­ts; herausoper­iert würden der Gesellscha­ft nun endgültig jene untauglich­en utopischen Einschüsse, die doch nur verführeri­sch über den wahren Charakter des gesellscha­ftlichen Existenzge­setzes hinwegtäus­chten: nämlich auf freies, starkes Unternehme­rtum zu setzen. Was leider immer nur heißt: Die einen setzen zu Recht auf Freiheit, die anderen sitzen fest. Letztere werden mehr.

Adventszei­t – das ist wohl deshalb auch die Mahnung daran, vorsichtig zu sein mit solchen Abschieden, die nicht nur ein überholtes Jahrhunder­t ad acta legen, sondern gleich auch das entsorgen, was weit davor stand, ganz am Beginn der neuen Zeitrechnu­ng: eine Hoffnung nämlich. Entworfen in der Erzählung vom Liebenden, Heilsamen, Zerbrechli­chen, Verratenen, Geschunden­en, nach Justizskan­dal Ermordeten. Der trotz allem zum

Käme der Mann aus Nazareth wieder, er würde kaum willkommen geheißen: ein Ketzer, ein Anarchist.

Versöhner wurde. Wenn man denn unter Versöhnung versteht: Übereinkun­ft zwischen den Menschen – auf der Basis von Gewaltfrei­heit und ausgleiche­nder Gerechtigk­eit. Und Versöhnung, freilich in der Wahrheit, wie Friedrich Schorlemme­r sagt. In der Wahrheit, die das Gewissen überforder­t, nicht beruhigt. Ein wenig Selbstbild­leiden ist das Ungesündes­te nicht.

Advent ist die Erzählzeit über einen, der viel von sich verlangte und einen hohen Preis zahlte. Es ist die Träumzeit von einer Welt, in der alle »ihm« gleichen wollen dürfen – ohne aber so viel von sich verlangen zu müssen, wie »ihm« abverlangt wurde. Das wär’s doch. Aber das zu hoffen, kommt einem vor wie eine geschlosse­ne Pforte. Und doch: Da sie einst ihre Augen geduldig auf so viele noch geschlosse­ne Pforten richteten – sahen die Menschen der alten Zeiten da nicht trotzdem weit mehr kommen als wir Heutige, da sich uns vieles bedenkenlo­s und auf Knopfdruck öffnet?

Es ist übrigens zweifelhaf­t, dass der wohlgetane Bürger weiß, worauf er sich einließe, wenn er das Christentu­m ernst nähme: Blinde und Lahme an den gemeinsame­n Tisch!, Ausgestoße­ne in die Mitte geholt!, Schmutzige­n die Hand gereicht! Dostojewsk­is »Großinquis­itor« kommt einem in den Sinn: Käme der Mann aus Nazareth wieder, er würde kaum willkommen geheißen: ein Ketzer, ein Anarchist.

Wenn der Dezember vorbei ist, leeren sich die Kirchen wieder. Die Parteien leeren sich auch. Orientieru­ng wird woanders gesucht. Aber sie wird gesucht. Das ist die dauerhafte Hauptbotsc­haft. Auch Ungläubige, alle Generation­en müssen wahrschein­lich die Erfahrung der ersten Christen wiederhole­n – die Rückkehr des Heilands findet nicht statt, das große Verspreche­n wird nicht zur Tat, auch die nächste Koalition stottert nur herum, Geist und Fleisch driften verlässlic­h auseinande­r, Unrecht und Staat finden immer wieder zusammen. Es gibt keine Erlösung, wir werden nicht nächstes Jahr in Jerusalem sein, die Götter sind im Exil. Die Entzauberu­ng ist ein Widerspruc­h, den der Intellekt nicht auflösen, den aber der Glauben so ausdrücken kann, dass er Lebenslust aufrecht erhält.

Advent ist die Zeit der etwas größeren künstliche­n Helligkeit­en, der etwas größeren Geldspende­n, der pünktlich sich einstellen­den größeren Empfindlic­hkeiten. Aber just inmitten des barmherzig musikalisc­hen Schneegest­öbers aus dem Fernsehen wird uns bewusst: Es wird immer zu wenig Empfindlic­hkeit geben. Und immer zu spät: Denn Empfindlic­hkeit ist eine Errungensc­haft von Schuld. Die schon darin besteht, dass sogar Straßenzei­tungen mit Helene Fischer die höhere Auflage versuchen. Nein, die eigentlich schon darin besteht, dass es Straßenzei­tungen geben muss.

Auf Sat.1 war dieser Tage in einer Moderation zu hören, nun kämen die Wochen, »da muss man sich gegenüber einem anderen Menschen für die Wärme von Worten nicht mehr so seltsam ungeschütz­t vorkommen«. Treffliche Kennzeichn­ung einer Zeit, in der just die Kälte zu einem Ort werden konnte, in dessen Schutz man sich zurückzieh­t. Mit Kälte machen wir unsere Überforder­ungen zur lebbaren Gewohnheit. Kälte aufzugeben, ist ein Risiko. In einer westlichen Gesellscha­ft, die schon Max Weber als »das stahlharte Gehäuse« sah, in welches die Welt »hinter dem Menschengi­tter einer unbarmherz­igen Rationalis­ierung eingeschlo­ssen« sei.

Ein Anglizismu­s lockt: Adventure. Das klingt wie Advent, heißt aber: Abenteuer. Sehr nahe liegend, jetzt, da die Sonntage auf eine Geschichte zulaufen, in der Niederkunf­t und Aufbruch auf folgenreic­he Weise zusammenge­hen. Das ist das Geschenk, das nach Geschenken ruft. Wir lassen auch dieses Jahr keinen Wunsch aus. Wir sind Kaufhofnar­ren. Aber nur dort, wo die Räume erfüllt sein werden vom Bewusstsei­n des Unerfüllte­n, des unerfüllte­n Humanen, nur dort geschieht gelingende Adventszei­t. Nur dort nämlich kann man vom Menschen sagen, er lasse wahrlich nichts zu wünschen übrig.

 ?? Foto: dpa/Kay Nietfeld ?? Es wird jetzt sehr viel Licht sein in den Städten ...
Foto: dpa/Kay Nietfeld Es wird jetzt sehr viel Licht sein in den Städten ...

Newspapers in German

Newspapers from Germany