Die plötzliche Wärme der Worte
Ein Einstimmungsversuch: Es beginnt die Zeit des Advent. Wir erwarten – aber was?
Am Sonntag nun beginnt die Adventszeit: Kommenszeit. Erwartung – nichts anderes heißt Advent, wenn wir einmal kurz davon absehen, dass es unbedingt auch verlängerte Ladenöffnungszeiten und erhöhte Bratwurstproduktion heißt. Die Zeit, die jetzt vor der Tür steht, stellt sich nicht vor jede Tür, der Eingang eines Shopping-Centers muss es schon sein. Eilige und dann immer eiligere Tage laufen so auf jenen Dezemberabend zu, der vielen Leuten heilig vor allem in einem sein wird – in der Anrufung nämlich: »Gott sei Dank, alles vorbei!« Es wird jetzt sehr viel Licht werden in den Städten. Als sei, was da zu feiern gilt, ganz natürlich gebunden an den Prunk von Kathedralen. Es ist doch aber das Gegenteil.
Was mit dem Jesus der Christen begann, fand – nach altjüdischer Verheißung – nämlich nicht in der Hauptstadt Jerusalem statt, nicht im imperialen Zentrum Rom, sondern, wie wir wissen, im geringen Ort Bethlehem. Ganz unten. Im Elend. Von Maria schreibt Bertolt Brecht: Mit der Geburt ihres Sohnes »vergaß sie die bittere Scham nicht allein zu sein/ Die dem Armen eigen ist«. Ja, immer will, wer arm ist, lieber allein bleiben. Im Dunkeln. Denn aussortiert zu sein und übersehen zu werden in aller Öffentlichkeit, mit Absicht oder aus Hilflosigkeit – das ist nichts, was einen aufrichtet unter all den anderen, die bislang davonkamen.
Aber: Mit dem Kind in der Krippe war plötzlich eine Armut, eine Ungeschütztheit, eine Unbehaustheit so schamlos öffentlich, dass sich daran der Maßstab aufbaute, was Gerechtigkeit sei: niemanden als niedrig zu betrachten. Statt Geringschätzung: das Geringe schätzen. Das Geringe und jeden Geringen. So verschwindet zwar das Geringe nicht und auch nicht das als gering Eingestufte – aber immer wächst, wo man sich fremdes Leid ins eigene Gemüt holt, ein wenig das Bewusstsein von der Unteilbarkeit der Welt. Der Nutznießer ist immer auch Verantwortlicher. Verantwortung fühlen heißt: mutwillige Selbstbelastung – und zwar mit den Sorgen derer, denen das Genießen des Lebens abhanden kam. Weil ihnen der Nutzen für die Gesellschaft abgesprochen wurde? Auch, vor allem aber, weil ihnen die Freude an sich selber abgesprochen wird. Du bist mehr als deine Nützlichkeit!
Dass sich der Schwache, der nicht Flexible, der zu Langsame, der Arbeitslose endlich öffentlich nicht mehr schämt, so zu sein, wie ihn die Welt gemacht hat – vielleicht beginnt da so etwas wie Menschwerdung: Wo einem Menschen die Scham über dessen Schicksal genommen wird, entwickelt sich, vielleicht, ein gemeinsames soziales Gewissen – dafür, nun endlich auch das Schicksal zu ändern, das belastet, beschädigt. Würde ist keine Frage des Einkommens. Arbeitslose zum Beispiel, sagte Christoph Schlingensief, »sind die Archäologen unserer Zeit, sie suchen das Kostbarste, so schnell Versinkende: Arbeit. Es sind höchst ehrenwerte Leute!«
Allenthalben wird in der Politik geradezu rührig und zugleich ungerührt davon geredet, es gelte Abschied zu nehmen von den gemütlichen sozialen Strukturen des 19. und 20. Jahrhunderts; herausoperiert würden der Gesellschaft nun endgültig jene untauglichen utopischen Einschüsse, die doch nur verführerisch über den wahren Charakter des gesellschaftlichen Existenzgesetzes hinwegtäuschten: nämlich auf freies, starkes Unternehmertum zu setzen. Was leider immer nur heißt: Die einen setzen zu Recht auf Freiheit, die anderen sitzen fest. Letztere werden mehr.
Adventszeit – das ist wohl deshalb auch die Mahnung daran, vorsichtig zu sein mit solchen Abschieden, die nicht nur ein überholtes Jahrhundert ad acta legen, sondern gleich auch das entsorgen, was weit davor stand, ganz am Beginn der neuen Zeitrechnung: eine Hoffnung nämlich. Entworfen in der Erzählung vom Liebenden, Heilsamen, Zerbrechlichen, Verratenen, Geschundenen, nach Justizskandal Ermordeten. Der trotz allem zum
Käme der Mann aus Nazareth wieder, er würde kaum willkommen geheißen: ein Ketzer, ein Anarchist.
Versöhner wurde. Wenn man denn unter Versöhnung versteht: Übereinkunft zwischen den Menschen – auf der Basis von Gewaltfreiheit und ausgleichender Gerechtigkeit. Und Versöhnung, freilich in der Wahrheit, wie Friedrich Schorlemmer sagt. In der Wahrheit, die das Gewissen überfordert, nicht beruhigt. Ein wenig Selbstbildleiden ist das Ungesündeste nicht.
Advent ist die Erzählzeit über einen, der viel von sich verlangte und einen hohen Preis zahlte. Es ist die Träumzeit von einer Welt, in der alle »ihm« gleichen wollen dürfen – ohne aber so viel von sich verlangen zu müssen, wie »ihm« abverlangt wurde. Das wär’s doch. Aber das zu hoffen, kommt einem vor wie eine geschlossene Pforte. Und doch: Da sie einst ihre Augen geduldig auf so viele noch geschlossene Pforten richteten – sahen die Menschen der alten Zeiten da nicht trotzdem weit mehr kommen als wir Heutige, da sich uns vieles bedenkenlos und auf Knopfdruck öffnet?
Es ist übrigens zweifelhaft, dass der wohlgetane Bürger weiß, worauf er sich einließe, wenn er das Christentum ernst nähme: Blinde und Lahme an den gemeinsamen Tisch!, Ausgestoßene in die Mitte geholt!, Schmutzigen die Hand gereicht! Dostojewskis »Großinquisitor« kommt einem in den Sinn: Käme der Mann aus Nazareth wieder, er würde kaum willkommen geheißen: ein Ketzer, ein Anarchist.
Wenn der Dezember vorbei ist, leeren sich die Kirchen wieder. Die Parteien leeren sich auch. Orientierung wird woanders gesucht. Aber sie wird gesucht. Das ist die dauerhafte Hauptbotschaft. Auch Ungläubige, alle Generationen müssen wahrscheinlich die Erfahrung der ersten Christen wiederholen – die Rückkehr des Heilands findet nicht statt, das große Versprechen wird nicht zur Tat, auch die nächste Koalition stottert nur herum, Geist und Fleisch driften verlässlich auseinander, Unrecht und Staat finden immer wieder zusammen. Es gibt keine Erlösung, wir werden nicht nächstes Jahr in Jerusalem sein, die Götter sind im Exil. Die Entzauberung ist ein Widerspruch, den der Intellekt nicht auflösen, den aber der Glauben so ausdrücken kann, dass er Lebenslust aufrecht erhält.
Advent ist die Zeit der etwas größeren künstlichen Helligkeiten, der etwas größeren Geldspenden, der pünktlich sich einstellenden größeren Empfindlichkeiten. Aber just inmitten des barmherzig musikalischen Schneegestöbers aus dem Fernsehen wird uns bewusst: Es wird immer zu wenig Empfindlichkeit geben. Und immer zu spät: Denn Empfindlichkeit ist eine Errungenschaft von Schuld. Die schon darin besteht, dass sogar Straßenzeitungen mit Helene Fischer die höhere Auflage versuchen. Nein, die eigentlich schon darin besteht, dass es Straßenzeitungen geben muss.
Auf Sat.1 war dieser Tage in einer Moderation zu hören, nun kämen die Wochen, »da muss man sich gegenüber einem anderen Menschen für die Wärme von Worten nicht mehr so seltsam ungeschützt vorkommen«. Treffliche Kennzeichnung einer Zeit, in der just die Kälte zu einem Ort werden konnte, in dessen Schutz man sich zurückzieht. Mit Kälte machen wir unsere Überforderungen zur lebbaren Gewohnheit. Kälte aufzugeben, ist ein Risiko. In einer westlichen Gesellschaft, die schon Max Weber als »das stahlharte Gehäuse« sah, in welches die Welt »hinter dem Menschengitter einer unbarmherzigen Rationalisierung eingeschlossen« sei.
Ein Anglizismus lockt: Adventure. Das klingt wie Advent, heißt aber: Abenteuer. Sehr nahe liegend, jetzt, da die Sonntage auf eine Geschichte zulaufen, in der Niederkunft und Aufbruch auf folgenreiche Weise zusammengehen. Das ist das Geschenk, das nach Geschenken ruft. Wir lassen auch dieses Jahr keinen Wunsch aus. Wir sind Kaufhofnarren. Aber nur dort, wo die Räume erfüllt sein werden vom Bewusstsein des Unerfüllten, des unerfüllten Humanen, nur dort geschieht gelingende Adventszeit. Nur dort nämlich kann man vom Menschen sagen, er lasse wahrlich nichts zu wünschen übrig.