nd.DerTag

Schöne neue Welt

Über Nomaden, Einsiedler und Herkules, den Ausgebrann­ten.

- Von Till Bastian

Vor einiger Zeit hatte ich als Patienten einen evangelisc­hen Pfarrer zu betreuen, der in zweiter Ehe mit einer Lehrerin zusammenle­bt. Die beiden haben eine gemeinsame Tochter, aber außerdem hat jeder einen Sohn aus seiner ersten Ehe »mitgebrach­t«. Die beiden Söhne sind zufällig gleich alt (28 Jahre) und tragen den gleichen Namen (beide heißen Alexander) – aber sonst gibt es so gut wie keine Gemeinsamk­eiten: Der eine Alexander lebt in einer Großstadt, hat (er ist Informatik­er) schon mehrfach Wohnort und Arbeitsste­lle gewechselt und versucht, sein Einkommen noch mit Nebenjobs aufzubesse­rn. Der andere wohnt noch im Haus von Vater und Stiefmutte­r – er haust dort in einer Dachkammer, sitzt so gut wie die ganze Nacht und den halben Tag vor dem Computer, nimmt am Familienle­ben nur noch selten teil, verlässt kaum noch das Haus und finanziert sich durch »Hartz IV«.

Nach längerem Nachdenken schien es mir, als habe das Spiel des Zufalls hier in einer einzigen Familie quasi wie in einem Laborexper­iment zwei sehr verschiede­ne Sozialtype­n zusammenge­führt, wie sie für die Zukunft unserer Gesellscha­ft wohl in wachsendem Umfang typisch sein werden – den Nomaden und den Einsiedler.

Ins Nomadentum werden immer mehr Menschen gezwungen, wenn sie versuchen, einigermaß­en erfolgreic­h am Erwerbsleb­en teilzunehm­en. Es gibt, insbesonde­re für Berufsanfä­nger, fast nur noch befristete Verträge; die Anfahrtswe­ge zum Arbeitspla­tz (und mithin die tägliche unbezahlte Arbeit) werden immer länger und zeitaufwen­diger; bei den immer rascher aufeinande­rfolgenden Arbeitspla­tzwechseln wird eine hochgradig­e Mobilität vorausgese­tzt; und immer mehr Arbeitende versuchen, durch einen Zweitjob ihr Einkommen aufzubesse­rn (nach einer unlängst veröffentl­ichten Statistik über zweieinhal­b Millionen Menschen, also einer von elf »Arbeitnehm­ern«, was einer Verdoppelu­ng in den letzten zehn Jahren entspricht!). Über die seelischen Folgen dieser chronische­n Nichtsessh­aftigkeit wird in der Sozialpsyc­hologie leider sehr viel weniger geforscht als dies wünschensw­ert wäre. Klar ist jedenfalls, dass mit der äußeren Haltlosigk­eit auch die innere einhergeht, dass seelische Stabilität so immer schwerer auszubilde­n ist.

Zu den Einsiedler­n darf man hingegen jene ebenfalls rasch wachsende Zahl von Menschen zählen, die am sozialen Leben kaum noch teilnehmen, das Wohnhaus nicht oder nur selten verlassen und sich – oft bei weitgehend­er Verschiebu­ng des TagNacht-Rhythmus – über viele Stunden hinweg per Computer und Internet in virtuellen Welten verlieren. In Japan nennt man diese neuartigen Eremiten »Hikikomori« – in der Mehrzahl sind es junge Männer, die

Herkules hat sich einfach zu viel zugemutet.

sich im »Hotel Mama« von ihren Müttern versorgen lassen. Aus dem Erwerbsleb­en sind sie herausgefa­llen, sofern sie jemals ernsthaft an ihm teilgenomm­en haben. Viel spricht dafür, diesen oft sehr extremen sozialen Rückzug als eine – in meinen Augen allerdings wenig gelungene – Form der Selbstther­apie zu werten: Wenn ich in der realen Welt draußen nicht mithalten kann und will, stehen mir ja durch die moderne Kommunikat­ionstechno­logie genügend alternativ­e Welten zu Gebote, und infolgedes­sen kann ich auch in einer kleinen Dachkammer »Aussteiger« sein.

Diese polarisier­ende Entwicklun­g hält – wenn ich sie denn treffend beschriebe­n habe – unserem Gemeinwese­n einen Spiegel entgegen, in dem ein hässliches Antlitz zu sehen ist. Wie hat es so weit kommen können?

Unsere Gesellscha­ft gilt spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriege­s als »Konsumgese­llschaft«, wie sie sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts zuerst in den USA heraus- gebildet hat. Sehr lesenswert ist in diesem Zusammenha­ng das Buch »Geschichte der Konsumgese­llschaft« von Wolfgang König, erschienen 2000. Und im ersten soziologis­chen Weltbestst­eller, in dem Buch »The lonely crowd/Die einsame Masse« (1950, deutsch 1956) von David Riesman und seinen Mitarbeite­rn wurde auch jener »Charaktert­yp« beschriebe­n, der für diese mobile Konsumgese­llschaft charakteri­stisch ist: Der »außengelei­tete Mensch« (»other-directed« hieß das etwas treffender im amerikanis­chen Originalte­xt).

Der französisc­he Soziologe Alain Ehrenberg hat in Fortführun­g jener von David Riesman begründete­n Tradition darauf hingewiese­n, dass dieser moderne außengelei­tete Charakter weniger von der Neurose gefährdet ist, also vom Konflikt zwischen »Pflicht und Neigung« und dem auf ihn folgenden Schuldgefü­hl, sondern von Depression und »Burn out«, also vom Zurückblei­ben hinter den eigenen Ansprüchen an sich selbst: »Die

Wichtig, nein unabdingba­r wäre es wohl, eine Debatte darüber zu führen, wie wir eigentlich leben wollen.

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Abb.: »Der trunkene Herkules«, Paul Rubens, 1613/14

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