Wo das Böse weilt
Warum wir den Osten brauchen.
Warum wir den Osten brauchen? Die Feierlichkeiten am Brandenburger Tor anlässlich des 250. Geburtstags der Republik Bundesdeutschland haben es gezeigt: Ohne den Osten geht mittlerweile nichts mehr, gar nichts! Er ist uns ans Herz gewachsen wie ein großer Klumpen Cholesterin, durchdringt uns wie eine Packung Ultraschall, rankt sich um unser Leben wie eine Schlingpflanze, die allmählich alles Leben aus uns raussagt.
Ohne den Osten hätte beispielsweise dieses glanzvolle Gedenkspektakel am 9. November nicht einmal stattfinden können, da es ja weder Pariser Platz noch singende Merkel, weder hingeschwundene Mauer noch Faschomusik gegeben hätte, und natürlich auch keinen so schönen Anlass für dieses Fest, das man sonst gänzlich der Pogromnacht hätte widmen müssen, und das wäre ja doch ein zu großer Downer gewesen. Er ist ja auch zu praktisch, der Osten! Denn mittlerweile darf man schlicht alles über ihn behaupten, niemand widerspricht, jede noch so dicke Lüge ist erlaubt. Ginge ich heute mit der Meldung heraus, dass die DDR noch in den siebziger Jahren Federkernmatratzen in Wahrheit mit den Haaren internierter Friedensaktivisten gefüllt hätte, dann stünde es morgen auf Seite 1 in der »FAZ«, auf Seite 3 der »Süddeutschen«, die Stasibehörde oder vielmehr Stasiunterlagenbehörde gäbe ihren Segen dazu, und ein allseitiges »wird schon stimmen« erhöbe sich – es ginge ja um den guten Zweck.
Nicht einmal diejenigen, die noch in der DDR aufgewachsen sind, würden groß murren – man fühlt sich ja heute insgesamt irgendwie vage besser dran und vermutet, dass die ungeheuerlichen Tartarengeschichten, die über das untergegangene Land verbreitet werden, an diesem Besserdransein irgend Anteil haben. Und rekrutiert sich nicht die ganze Elite des Landes aus dem Osten, haben wir nicht längst, wie es der Lie-
Fiese kommunistische Chemiefasern aus dem VEB Chemiefaserkombinat Schwarza »Wilhelm Pieck«
Böse:
dermacher Harald Martenstein neulich im Fieberwahn hervorspotzte, eine DDR light bei uns im Wohnzimmer? Aber natürlich, ohne diesen Osten hätten wir auch nicht diese sagenhaften Wende-Biografien, hätten wir am Ende auch Merkel nicht und ihre achterbahngleiche Laufbahn, ihre spannende biografische Bergundtalfahrt, von der farblosen Ost-Aufsteigerin zur farblosen West-Karrieristin, deren einziger Makel (Markel) es ist, durch 1989 keinerlei Bruch erfahren zu haben.
Ohne den Osten geht mittlerweile nichts mehr, gar nichts! Er ist uns ans Herz gewachsen wie ein großer Klumpen Cholesterin.
Doch wer weiß, vielleicht hat sogar die Kanzlerin noch eine Unterdrückungsgeschichte im Gepäck, die sie auspacken kann, wenn es mal hart auf hart kommt, eventuell rüttelte auch sie nächtens betrunken am Stacheldraht, verbiss sich werweiß ins Bein eines Wachhunds.
Doch auch ohne ihren Beitrag gibt es genug zu tun, ist doch die ganze politische Kultur vollständig mit Phantasie- und Traumarbeit in Sachen DDR beschäftigt, alle versuchen, diese Leerstelle aufzufüllen. Denken wir nur an unsere wunderbare deutsche Gegenwartsliteratur, die neben der DDR und ihrer Widrigkeit, ja Widerwärtigkeit, fast kein anderes Thema mehr hat, sei’s bei Wolf Tellkamp, sei’s bei Uwe Biermann. Was wären wir ohne ihre aberwitzigen Räuberpistolen vom schlimmen Leben im Osten? Ja, die gesamte Gedenkindustrie hängt am Osten, keiner kann drauf verzichten, nicht der salbadernde Scharlatan im Präsidentenamt; nicht die total verkommene Thüringer CDU, die wirklich und wahrhaftig einen Lich- tergottesdienst entzündet, weil ihr das Wahlergebnis nicht passt; und auch nicht die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«, deren politischer Teil neben der Jagd auf Kinderschänder eigentlich nur mehr ein Thema kennt, nämlich Linkspartei, SED und Wadenknechts Waden.
Ja, wenn es dieses Gedenken nicht gäbe, wir machten uns am Ende gar Gedanken! Ein Gedenken freilich, das den Mauerfall zur alleinigen Staatsräson erhebt, ein Gedenken, das sich letztlich auf einen reinen Phantasiestaat bezieht, den es nur in den heißgelaufenen Hirnen eines Joe Gauck und Nico Hoffmann gibt, ein Gedenken, dessen einzige Funktion es ist, den Faschismus in den Hintergrund zu drängen und schon die Idee des Sozialstaats als irgendwie extremistisch zu denunzieren – solange es diese Art Gedenken gibt, solange können wir froh sein, dass es den Osten und diesen Osten gibt, denn nur eine einzige Autofahrt durchs ländliche Sachsen-Anhalt, nur eine einzige Bahnfahrt von Berlin nach Leipzig, quer durch diese postapokalyptische Landschaft mit ihren Geisterstädten und Bahnhofsruinen, nur eine einzige solche Fahrt genügt, um das ganze obrigkeitliche Freiheitsgelärm als den Budenzauber zu verstehen, der er ist, die gewonnene Freiheit als die Freiheit zum freien Fall.
Auf exakt diesem Niveau soll er weiterexistieren, der Osten, dem Ausland zur Mahnung, dem Inland zum Gedenkenversenken, und jeder südamerikanische Staatschef, der glaubt, mit der Kapitalisierung seiner Staatsbetriebe könne er auch nur einen Blumentopf gewinnen, sei herzlich eingeladen, das wirtschaftliche und geistige Ödland zu besichtigen, das die Abwickler da hinterlassen haben, Helmut Kohls verbrannte, verkohlte Erde. Genau dafür ist er da, der sogenannte Osten.