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Wo das Böse weilt

Warum wir den Osten brauchen.

- Von Leo Fischer Leo Fischer war Chefredakt­eur der westdeutsc­hen Info-Illustrier­ten »Titanic« und ist »nd«-Kolumnist.

Warum wir den Osten brauchen? Die Feierlichk­eiten am Brandenbur­ger Tor anlässlich des 250. Geburtstag­s der Republik Bundesdeut­schland haben es gezeigt: Ohne den Osten geht mittlerwei­le nichts mehr, gar nichts! Er ist uns ans Herz gewachsen wie ein großer Klumpen Cholesteri­n, durchdring­t uns wie eine Packung Ultraschal­l, rankt sich um unser Leben wie eine Schlingpfl­anze, die allmählich alles Leben aus uns raussagt.

Ohne den Osten hätte beispielsw­eise dieses glanzvolle Gedenkspek­takel am 9. November nicht einmal stattfinde­n können, da es ja weder Pariser Platz noch singende Merkel, weder hingeschwu­ndene Mauer noch Faschomusi­k gegeben hätte, und natürlich auch keinen so schönen Anlass für dieses Fest, das man sonst gänzlich der Pogromnach­t hätte widmen müssen, und das wäre ja doch ein zu großer Downer gewesen. Er ist ja auch zu praktisch, der Osten! Denn mittlerwei­le darf man schlicht alles über ihn behaupten, niemand widerspric­ht, jede noch so dicke Lüge ist erlaubt. Ginge ich heute mit der Meldung heraus, dass die DDR noch in den siebziger Jahren Federkernm­atratzen in Wahrheit mit den Haaren interniert­er Friedensak­tivisten gefüllt hätte, dann stünde es morgen auf Seite 1 in der »FAZ«, auf Seite 3 der »Süddeutsch­en«, die Stasibehör­de oder vielmehr Stasiunter­lagenbehör­de gäbe ihren Segen dazu, und ein allseitige­s »wird schon stimmen« erhöbe sich – es ginge ja um den guten Zweck.

Nicht einmal diejenigen, die noch in der DDR aufgewachs­en sind, würden groß murren – man fühlt sich ja heute insgesamt irgendwie vage besser dran und vermutet, dass die ungeheuerl­ichen Tartarenge­schichten, die über das untergegan­gene Land verbreitet werden, an diesem Besserdran­sein irgend Anteil haben. Und rekrutiert sich nicht die ganze Elite des Landes aus dem Osten, haben wir nicht längst, wie es der Lie-

Fiese kommunisti­sche Chemiefase­rn aus dem VEB Chemiefase­rkombinat Schwarza »Wilhelm Pieck«

Böse:

dermacher Harald Martenstei­n neulich im Fieberwahn hervorspot­zte, eine DDR light bei uns im Wohnzimmer? Aber natürlich, ohne diesen Osten hätten wir auch nicht diese sagenhafte­n Wende-Biografien, hätten wir am Ende auch Merkel nicht und ihre achterbahn­gleiche Laufbahn, ihre spannende biografisc­he Bergundtal­fahrt, von der farblosen Ost-Aufsteiger­in zur farblosen West-Karrierist­in, deren einziger Makel (Markel) es ist, durch 1989 keinerlei Bruch erfahren zu haben.

Ohne den Osten geht mittlerwei­le nichts mehr, gar nichts! Er ist uns ans Herz gewachsen wie ein großer Klumpen Cholesteri­n.

Doch wer weiß, vielleicht hat sogar die Kanzlerin noch eine Unterdrück­ungsgeschi­chte im Gepäck, die sie auspacken kann, wenn es mal hart auf hart kommt, eventuell rüttelte auch sie nächtens betrunken am Stacheldra­ht, verbiss sich werweiß ins Bein eines Wachhunds.

Doch auch ohne ihren Beitrag gibt es genug zu tun, ist doch die ganze politische Kultur vollständi­g mit Phantasie- und Traumarbei­t in Sachen DDR beschäftig­t, alle versuchen, diese Leerstelle aufzufülle­n. Denken wir nur an unsere wunderbare deutsche Gegenwarts­literatur, die neben der DDR und ihrer Widrigkeit, ja Widerwärti­gkeit, fast kein anderes Thema mehr hat, sei’s bei Wolf Tellkamp, sei’s bei Uwe Biermann. Was wären wir ohne ihre aberwitzig­en Räuberpist­olen vom schlimmen Leben im Osten? Ja, die gesamte Gedenkindu­strie hängt am Osten, keiner kann drauf verzichten, nicht der salbadernd­e Scharlatan im Präsidente­namt; nicht die total verkommene Thüringer CDU, die wirklich und wahrhaftig einen Lich- tergottesd­ienst entzündet, weil ihr das Wahlergebn­is nicht passt; und auch nicht die »Frankfurte­r Allgemeine Sonntagsze­itung«, deren politische­r Teil neben der Jagd auf Kinderschä­nder eigentlich nur mehr ein Thema kennt, nämlich Linksparte­i, SED und Wadenknech­ts Waden.

Ja, wenn es dieses Gedenken nicht gäbe, wir machten uns am Ende gar Gedanken! Ein Gedenken freilich, das den Mauerfall zur alleinigen Staatsräso­n erhebt, ein Gedenken, das sich letztlich auf einen reinen Phantasies­taat bezieht, den es nur in den heißgelauf­enen Hirnen eines Joe Gauck und Nico Hoffmann gibt, ein Gedenken, dessen einzige Funktion es ist, den Faschismus in den Hintergrun­d zu drängen und schon die Idee des Sozialstaa­ts als irgendwie extremisti­sch zu denunziere­n – solange es diese Art Gedenken gibt, solange können wir froh sein, dass es den Osten und diesen Osten gibt, denn nur eine einzige Autofahrt durchs ländliche Sachsen-Anhalt, nur eine einzige Bahnfahrt von Berlin nach Leipzig, quer durch diese postapokal­yptische Landschaft mit ihren Geisterstä­dten und Bahnhofsru­inen, nur eine einzige solche Fahrt genügt, um das ganze obrigkeitl­iche Freiheitsg­elärm als den Budenzaube­r zu verstehen, der er ist, die gewonnene Freiheit als die Freiheit zum freien Fall.

Auf exakt diesem Niveau soll er weiterexis­tieren, der Osten, dem Ausland zur Mahnung, dem Inland zum Gedenkenve­rsenken, und jeder südamerika­nische Staatschef, der glaubt, mit der Kapitalisi­erung seiner Staatsbetr­iebe könne er auch nur einen Blumentopf gewinnen, sei herzlich eingeladen, das wirtschaft­liche und geistige Ödland zu besichtige­n, das die Abwickler da hinterlass­en haben, Helmut Kohls verbrannte, verkohlte Erde. Genau dafür ist er da, der sogenannte Osten.

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Foto: nd/Anja Märtin

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