Modell mit Lücken
Wissenschaftler haben das Erbgut von Menschen und Mäusen umfassend verglichen.
Die Maus ist einer der wichtigsten Modellorganismen in der biomedizinischen Forschung. Das heißt, neue Medikamente und Therapien, die für Menschen bestimmt sind, werden zunächst an Mäusen getestet. Dabei stellt man jedoch immer wieder fest, dass Präparate, die bei Mäusen anschlagen, bei Menschen nicht dieselbe oder keine Wirkung entfalten.
Neben Ähnlichkeiten muss offenbar der Stoffwechsel der beiden Säugetierarten auch deutliche Unterschiede aufweisen. Welche das sind, haben Wissenschaftler jetzt in einem Großprojekt herauszufinden versucht. Sie konnten sich dabei auf umfassende Vorarbeiten stützen, zum Beispiel auf das vollständig entzifferte Genom der Maus (Mus musculus), das seit 2002 vorliegt. Ein Jahr zuvor war der erste Entwurf des menschlichen Genoms präsentiert worden.
Schon bei der Zahl der Gene unterscheiden sich Maus und Mensch nicht unerheblich. Neueren Untersuchungen zufolge hat die Maus ca. 20 200 Gene und damit knapp 1200 mehr als der Mensch. Dies rührt unter anderem daher, dass im Erbgut der Maus zahlreiche Gene mehrfach vorkommen. Rund 15 200 Gene sind bei beiden Arten funktional verwandt und weisen auf einen gemeinsamen Vorfahren hin, der vor etwa 75 Millionen Jahren lebte. Danach trennten sich die zur Maus bzw. zum Menschen führenden Evolutionslinien.
Die Tatsache, dass es für 75 bis 80 Prozent der Mausgene ein Pendant im Erbgut des Menschen gibt, halten viele Forscher für ausreichend, um die Maus in der Biomedizin als Modellorganismus zu verwenden. Andere sind da vorsichtiger. In beiden Genomprojekten habe man lediglich die Abfolge der einzelnen genetischen Buchstaben ermittelt, sagt Bing Ren von der University of California in San Diego: »Es gibt jedoch eine be- trächtliche Anzahl von Mausgenen, die anders reguliert sind als vergleichbare Gene beim Menschen.«
Um die Steuerung der Mausgene näher zu erforschen, wurde 2007 das Maus-ENCODE-Projekt (ENCyclopedia Of DNA Elements) gestartet. Ein Wissenschaftlerteam untersuchte 124 verschiedene Zell- und Gewebetypen von Mäusen und verglich die Daten anschließend mit jenen des humanen ENCODE-Projekts. Zum Ergebnis äußerte sich Michael Beer von der Johns Hopkins University School of Medicine in Baltimore wie folgt: »Die Evolution hat die regulatorischen Erbgutabschnitte für die grundlegenden Prozesse in Zellen zwischen Maus und Mensch erhalten, aber den Rest offen gelassen für Veränderungen, wie sie die jeweilige Art braucht.« Bei Menschen und Mäusen, so die Forscher, weist die Steuerung der Gene Unterschiede auf, wie man sie vorab nicht erwartet hatte.
Piero Carninci vom japanischen RIKEN Center for Life Science Technologies rät deshalb zu mehr Vorsicht. Wer am Mausmodell künftig die biologische Wirkung von Medikamenten studieren möchte, schreibt er in einem »Nature«-Kommentar (Bd. 515, S. 346), sollte zunächst prüfen, ob die registrierten Unterschiede dafür von Bedeutung sind.
Noch sehen die ENCODE-Forscher allerdings keinen Grund, sich vom Mausmodell zu verabschieden, obgleich sie ebenfalls davor warnen, es dort einzusetzen, wo sein Nutzen fragwürdig erscheint. Tierversuchsgegnern reicht das nicht aus. Sie setzen weiter auf alternative Methoden. Neben Computersimulationen wären das In-vitro-Versuche, bei denen die Wirkung eines potenziellen Medikaments auf menschliche Zellen im Reagenzglas getestet wird. Vermutlich nicht immer, aber sehr häufig, dürfte Letzteres tatsächlich ethisch und medizinisch besser vertretbar sein.