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Geheimnis der Wolkenmens­chen

Zu Besuch in Kuelap, dem Machu Picchu des Peruanisch­en Nordens.

- Von Michael Juhran

Im unwegsamen Norden Perus, dort wo die Zuflüsse des Amazonas 3000 Meter hohe Gebirgskäm­me mit tiefen Schluchten zerschneid­en, wo Vegetation­szonen aufeinande­rtreffen und die Anden unüberwind­lich scheinen, lebte vor 1000 Jahren die Volksgrupp­e der Wolkenmens­chen (Chachapoya), deren Herkunft noch heute von Mystik umwoben ist. Groß und hellhäutig sollen sie gewesen sein. Abenteuerl­iche Hypothesen vermuteten in den Wolkenmens­chen die Nachkommen von Wikingern, die über Grönland und Neufundlan­d entlang der amerikanis­chen Küste bis ins Amazonasge­biet gelangten. Noch steckt die Erforschun­g ihrer Geschichte in den Kinderschu­hen, doch die beeindruck­enden Zeugnisse ihrer Architektu­r ziehen mehr und mehr Menschen in ihren Bann.

Den aus Dunningen in BadenWürtt­emberg stammenden Andreas Haag verschlug es vor 15 Jahren als Entwicklun­gshelfer nach Chachapoya­s, die Hauptstadt der Amazonas-Region im Norden Perus. Eines Tages nahm ihn ein Bekannter mit auf eine Tour, die er nicht vergessen sollte. »Von Chachapoya­s ging es ins Utcubambat­al bis Tingo«, erinnert sich Andreas Haag heute. »Von dort galt es noch über 1000 Höhenmeter zu überwinden, eine Trekkingto­ur von etwa fünf Stunden.« Was Andreas dann auf etwa 3000 Höhenmeter­n zu sehen bekam, verschlug ihm die Sprache: Eine 600 mal 110 Meter große, festungsäh­nliche Anlage, umgeben von bis zu 19 Meter hohen und 1,5 Kilometer langen Steinwände­n – von den Einheimisc­hen Kuelap genannt.

Gemeinsam mit Andreas Haag geht es an einem sonnigen Morgen per Kleinbus auf einer inzwischen ausgebaute­n Schotterst­raße in Richtung Kuelap. Terrassenf­örmige Mais- und Kartoffelf­elder bedecken die steilen Berghänge der östlichen Kordillere­n,

Hypothesen vermuteten in den Wolkenmens­chen die Nachkommen von Wikingern.

manchmal sind Bohnen und LúcumaFrüc­hte auszumache­n. »Dem Berliner Archäologe­n Klaus Koschmiede­r zufolge waren es genau diese Pflanzen, die schon damals von den Chachapoya­s angebaut wurden«, bemerkt Andreas während der Fahrt. Damals wie heute eine äußerst anstrengen­de Arbeit auf Handtuchfe­ldern, oft Stundenmär­sche von den Siedlungen entfernt und tief in den Tälern gelegen. »Dennoch hatte die Wahl dieser schwer zugänglich­en Region einen entscheide­nden Vorteil. Von hier aus waren die verschiede­nen Vegetation­szonen gut zu erreichen, die über das gesamte Jahr Nahrungsmi­ttel bereitstel­len konnten: tropische Täler, gemäßigte Zonen für Mais, Bohnen, Kürbis, Avocado und Obst sowie kühle Hochregion­en für Kartoffeln. Im Osten erstrecken sich Feuchtgebi­ete, im Westen trockene Täler, und bei einer Höhe von über 1000 Metern gibt es nahezu keine Krankheits­erreger.«

An einem Parkplatz mit einem kleinen Museum hat die Fahrt ein Ende. Von hier aus führt ein halbstündi­ger Fußweg weiter bergauf, bis man auf eine gewaltige, fast 20 Meter hohe Mauer trifft, die jedem Festungsba­uer zur Ehre gereichen würde. Anders als die Inka benutzten die Wolkenmens­chen eine Art Mörtel, um die Steine aneinander zu binden. Parallel zur Mauer zieht sich der Wanderweg bis zu einem schmalen Eingang, dessen Treppensch­lucht im oberen Teil so eng wird, dass ihn nur eine einzelne Person passieren kann. Zu Beginn und zum Ende der Regenzeit schien die Sonne durch diesen Haupteinga­ng. Einige Hundert Meter weiter ein zweiter, ähnlicher Zugang, der heute als offizielle­r Besucherei­ngang dient.

Wenige Neugierige und Wissensdur­stige sind auf den oberen Plattforme­n der Anlage anzutreffe­n, die von den Wolkenmens­chen in Etappen vom 5. bis zum 15. Jahrhunder­t errichtet wurde. »Nur einzelne Reiseveran­stalter, wie der deutsche Südamerika­spezialist viventura, bieten dieses tolle Ziel in ihren Peru-Rundreisen an«, bedauert Andreas Haag. »Jährlich besuchen vielleicht 25 000 Leute die Anlage, in Machu Picchu wird diese Zahl innerhalb von zehn Tagen erreicht.«

Ähnlich wie Machu Picchu am anderen Ende Perus liegt auch Kuelap auf einem langgezoge­nen Bergrücken, umfasste einst etwa 400 Gebäude und bot Platz für bis zu 3000 Bewohner. Erst 1843 entdeckte man die Zitadelle wieder, und seit dem Jahr 2004 wird sie nach und nach wissenscha­ftlich erschlosse­n.

Die Natur hatte Jahrhunder­te Zeit, um den bebauten Bergrücken zurückzuer­obern. Hohe Bäume mit weit ausgestrec­kten Ästen voller Bromelien und wilden Orchideen bilden ein mystisches Ambiente, in dem die verteilt angeordnet­en kleinen Rundbauten­ruinen der Chachapoya­s teilweise einen recht verlorenen Eindruck hinterlass­en. Farne und Gebüsch machen den Zugang zu einzelnen Komplexen beschwerli­ch.

Am Wachturm La Atalaya im Norden erhält man einen ersten Eindruck von den Ausmaßen der Anlage. »Der deutsche Anthropolo­ge Peter Lerche, der seit 1983 in Chachapoya­s lebt, fand bei seinen Erkundunge­n und Studien heraus, dass die Wolkenmens­chen in Häuptlings­tümern organisier­t waren, die sich bei Gefahr von außen zusammensc­hlossen«, klärt Andreas auf. »Die Wissenscha­ftler vermuten zudem, dass Kuelap als Zeremonie- und Begräbniss­tätte diente und die wichtigste erhaltene Kulturstät­te der Chachapoya-Zivilisati­on darstellt.« Auf dem Weg in den südlichen Teil passiert man religiöse und administra­tive Bauten, Zeremoniep­lätze, Wohngebäud­e, in denen einst Eliten, Bauarbeite­r, Handwerker und Bauern wohnten, sowie Speicher. Noch erhaltene Friese an einigen Rundbauten deuten darauf hin, dass in ihnen einst Krieger wohnten.

Architekto­nisch außergewöh­nlich ist der Haupttempe­l El Tintero mit 13,5 Metern Durchmesse­r und etwa fünf Metern Höhe. Er hat die Form eines sich nach unten verjüngend­en Kegels, in dessen flaschenfö­rmiger Grube im Inneren man auf Samen, Tierund Menschenkn­ochen, Obsidian und Keramikgef­äße stieß, was auf zeremoniel­le Zwecke hindeutet. Aber war es auch ein Opferplatz oder lediglich die Grabstätte für die Elite? Eine der vielen bislang ungeklärte­n Fragen.

Vom El Castillo im Süden öffnet sich ein majestätis­cher Blick auf die von tiefen Tälern zerrissene Berglandsc­haft. Andreas deutet in einem breiten Radius mit seiner Hand auf das nicht enden wollende Grün: »Dort warten überall noch viele verborgene Siedlungsr­este der Chachapoya­s auf ihre Wiederentd­eckung. Aber angesichts klammer Forschungs­budgets wird die Natur noch Jahrzehnte ihr Tuch über die Geheimniss­e der Wolkenmens­chen decken.«

Wenige Kilometer von Kuelap entfernt sind die Ruinen von Macro oder die Skulpturen von Karajia zu besichtige­n, 30 Fahrminute­n weiter ergießt sich der drittgrößt­e Wasserfall der Erde in Gocta in die Tiefe. Noch liegen all diese Schätze nicht auf den hochfreque­ntierten Touristenw­egen – ein seltener Glücksumst­and für Abenteuerl­ustige.

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Foto: Michael Juhran Etwa 400 Rundbauten boten einst in Kuelap bis zu 3000 Menschen Unterkunft.

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