Kreisverkehr für Wasser und Züge
Entdeckungen in den Südtälern des Schweizer Kantons Graubünden.
Romeos »Julia« heißt Giovanna. Und ihre Liebe musste weder irgendwelchen Widrigkeiten trotzen und schon gar nicht endete sie tragisch. Romeo ist eigentlich zweimal verheiratet – mit Giovanna und mit einem Gletschergarten. Doch Giovanna fügte sich nicht nur in ihr »Schicksal«, sie nahm es an und unterstützt ihn. Romeo Lardi, der kleine drahtige 66Jährige aus Poschiavo im Süden des Schweizer Kantons Graubünden ist seit 15 Jahren selbstständiger Wanderleiter und Bergführer, rund 200 Tage im Jahr verbringt er in den Bergen. Besonders gern führt er Besucher durch den Gletschergarten von Cavaglia in 1693 Meter Höhe. Kein Wunder, dass seine Mutter einst sagte: »Du hast fünf Kinder, der Gletschergarten ist das sechste.«
Im früheren Leben war Romeo Lardi Buchhalter. Das muss schrecklich für den Naturburschen gewesen sein. Aber bereits in der Zeit verlängerte er sein tägliches Arbeitspensum um drei Stunden. Wo? Natürlich in der Natur, im Gletschergarten. »Auf 3000 Quadratmetern gibt es hier 102 Gletschermühlen«, schwärmt er. »Töpfe der Riesen« werden sie auch genannt. Gletschermühlen sind spiralwandige Hohlformen, die von an der Oberfläche eines Gletschers oder in Gletscherspalten abfließendem Schmelzwasser geschaffen worden sind. Mahlen können diese Mühlen natürlich nicht. Die Bezeichnung wurde vom meist rotierenden Abfluss des Schmelzwassers abgeleitet. Der Ursprung geht auf die letzte Eiszeit vor rund 10 000 Jahren zurück. Es wird angenommen, dass während des Gletscherschwundes das Schmelz- wasser vom Palügletscher mit sehr hohem Druck und geschlossenem Kreislauf Steine und Sand mit sich führte und so in tausenden Jahren die »Töpfe der Riesen« und die tiefe Cavagliasco-Schlucht bildete. 28 der 102 Gletschermühlen wurden bisher freigelegt. Ein leichter Wanderweg führt an ihnen vorbei hinauf auf einen Punkt, von dem man einen weiten Blick auf das Valposchiavo (Puschlaver Tal) hat.
Das Abenteuer Gletschergarten begann für Romeo 1999. »Als Schulkind bin ich von Poschiavo nach Luzern gefahren, um Gletschermühlen zu sehen. Da wusste ich noch nicht, dass es vor der Haustür welche gibt«, sagt er. Als diese Mühlen entdeckt wurden, bat er die Gemeinde ihn beim Anlegen eines Gletschergarten zu unterstützen. »Du bist ein Träumer, wir haben kein Geld«, war die Antwort. Doch Romeo ließ nicht locker. Der Gemeinderat stellte ihm dann zwei Bedingungen: einen Verein gründen und die Bewilligung des Kantons einholen. Binnen Stunden war das erledigt. Jetzt, 15 Jahre später, ist hier immer noch eine riesige Baustelle. »Wir sind am Ende der ersten Etappe«, erzählt Romeo. »90 000 Stunden ›Fronarbeit‹ liegen hinter uns, 1,5 Millionen Franken wurden bislang investiert – durch Vereinsbeiträge und Sponsoren.« Der Eintritt für Einzelbesucher ist frei, eine Spende wird gern genommen. Ende 1999 hatte der Verein ganze 48 Mitglieder und 500 Besucher verirrten sich hierher. Inzwischen sind es weit über 1500 Mitglieder und 38 000 Menschen besuchten im vergangenen Jahr den Gletschergarten.
In Cavaglia soll in den nächsten fünf Jahren ein Informationszentrum über
Der Kreisviadukt in Brusio
Gletscher und ihre Hinterlassenschaften entstehen. Einen großen Vorteil für den erhofften Besucherstrom sieht Romeo darin, dass der Gletschergartens direkt an der Bahnlinie der Berninabahn liegt, die seit 2008 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Die größte Attraktion an der Strecke, die von St. Moritz (1775 m ü. M.) über den Berninapass (2253 m ü. M.) nach Tirano (429 m ü. M.) führt, ist das Kreisviadukt in Brusio – ein technisches Wunder. Die Bahn sollte nicht nur große Höhendifferenzen auf kurzen Distanzen überwinden, sie sollte auch, damit die Touristen die Landschaft genießen können, mit möglichst wenig Tunnels auskommen. Die schwierige Aufgabe wurde gekonnt gelöst. In Brusio überwindet die Berninabahn in einer doppelten Schlaufe von 100 Meter Durchmesser eine ganze Höhenstufe. Dank der offenen Linienführung über ein Viadukt, unter dessen vierten Brückenbogen die Bahn sich ein- oder ausfädelt, werden die Passagiere Zeugen des »Ringelreihens« auf dem Schienenstrang.
Brusio gehört zum Valposchiavo. Es ist eines der vier Täler in Graubünden, in denen italienisch gesprochen wird. Der Hauptort im Tal heißt Poschiavo, in dem etwa 4000 Menschen leben. Einer von ihnen ist Davide Bondolfi, ein echter Verwandlungskünstler. Der 72-Jährige kommt als Müller, Bäcker, Schmied und Sägereiarbeiter daher. Eigentlich ist der frühere Bergführer und Wanderleiter Rentner. »Irgendwann wollten meine Beine mich nicht mehr so tragen. Aber man muss irgendwas machen.« So fand er seine Beschäftigung in der 1801 erbauten Mühle. Mit den alten Mühlsteinen, der Schmiede und dem kleinen Sägewerk sind in San Carlo auf kleinstem Raum drei Handwerksstätten vereint, die mit der Wasserkraft desselben Bachs betrieben werden. Davide liebt diesen Job. »Ich bin jetzt sieben Jahre hier, und die Arbeit macht mich immer jünger.« Er zeigt, wie Buchweizen- und Maismehl hergestellt werden. Die Kleie ist der Abfall dabei, etwa 30 Prozent. »Die ist zum Reinigen, da musst du nicht zum Doktor gehen, kannst zu mir kommen«, scherzt er.
Vom Feld soll nun das verarbeitete Mehl auf den Tisch. Dafür geht es zurück nach Poschiavo in die Casa Tomé. Dort scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Das original erhaltene Bauernhaus, heute ein Museum, wurde 1357 erbaut. Loreta FerrariZanetti ist schon eifrig beim Kochen. Pizzoccheri soll es geben – handgemachte Bandnudeln aus Buchweizen, die mit gelben und roten Staudensellerie, Bohnen, Wirsing, Zwiebeln, Kohl, Karotten, Kartoffeln und Mangold gemischt werden. Alles geerntet im hauseigenen Garten. Das dazu gereichte Brot ist mit Anis gewürzt, da schimmelt es nicht. Loreta zeigt den Gästen die Wohnung, den Keller, die Scheune und den Gemüsegarten. Heute ist es schier unvorstellbar, dass hier bis 1992 in einem Gebäude ohne sanitäre Anlagen die Menschen mit Kühen und Schweinen unter einem Dach gewohnt haben. Das Haus gehörte der Familie des Polizisten, Gefängniswärters und Bauern Domenicus Tomé. Sie hatte vier Töchter. Die beiden Jüngsten zogen in den 1990er Jahren in ein Altersheim. Vor fünf Jahren verstarb die letzte der Schwestern fast 100-jährig.
Das Haus wurde den letzten Bewohnern abgekauft, sanft renoviert und 2007 als Museum eröffnet. Es gehört zu den ältesten und besterhaltenen Bauernhäusern des Alpenraumes. Luigia Tomé, die 1917 geborene jüngste Tochter, zog hochbetagt Bilanz: »Es war ein armseliges Leben.« Als sie das Haus verkaufte, sagte sie erstaunt: »Bis vor wenigen Jahren hieß es, unser Haus sei eine ziemliche Bruchbude. Jetzt erfahre ich, dass unser Haus wertvoll sei, so wie es ist. Wem soll ich nun glauben?«
Wertvoll ist das Anwesen als Zeugnis einer längst vergangenen Zeit. Genauso wie die Paläste in Poschiavo, die vom Reichtum damaliger Zeit zeugen. Viele Einwohner verließen im 17. und 18. Jahrhundert das Tal, um ihr Glück in der Ferne zu suchen. Einige versuchten in Spanien, England, Russland und Polen ihr Glück als Zuckerbäcker und kamen zu großem Reichtum. Als sie zurückkehrten, ließen sie prächtige Paläste bauen. In einigen sind heute Museen untergebracht. So hat Poschiavo zum Beispiel die größte Sammlung von SpitzwegGemälden in der Schweiz.