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Maxines New Yorker Passwörter

»Bleeding Edge«: Thomas Pynchons sechster Roman in deutscher Übersetzun­g

- Von Fritz Rudolf Fries

Endlich ist sein lange erwarteter Roman »Bleeding Edge« erschienen. Aber der amerikanis­che Meistererz­ähler Thomas Pynchon ist wieder leer ausgegange­n – kein Nobelpreis 2014.

Thomas Pynchon, 1937 auf Long Island, N.Y., geboren, scheut die Öffentlich­keit. Lange gab es von ihm nur zwei verwischte Passbilder eines jungen, durchtrieb­en blickenden Marinesold­aten. Der Autor hatte Grund, sich nicht zu sehr zu zeigen. Seine ersten großen Erfolge, »V« (1963) sowie »Die Enden der Parabel« (1974), wurden wegen angebliche­r Pornograph­ie für einen Preis abgelehnt. Noch heute sind Klassiker der Moderne wie James Joyce, Henry Miller u.a. wegen Obszönität verboten, ein Schlagwort, das ebenso auf das »Kommunisti­sche Manifest« wie auf Erika Jongs »Angst vorm Fliegen« angewendet wird. Im ersten Fall zu Recht, wird doch darin das Benehmen der herrschend­en Klasse als obszöner Akt gegenüber ihren Aufgaben festgehalt­en. Zu allen Zeiten gibt es eine Literatur, die über ein unbegrenzt­es Feld ihre Spiele entfaltet, gegängelt von den Regeln der dem Tag verpflicht­eten Schiedsric­hter.

Obzwar er 1997 mit »Mason & Dixon« einen historisch­en Roman vorlegte, ist Pynchon ein Autor der Großstadt – New York, Los Angeles, Chicago, San Francisco. Eine links orientiert­e Geschichts­schreibung der nordamerik­anischen Gewerkscha­ftsund Arbeiterbe­wegung kann man nach Romanen von Upton Sinclair, Howard Fast und nicht zuletzt des geheimnisv­ollen B. Traven in seinen Büchern finden.

»Bleeding Edge«? Der Verlag und sein schlagfert­iger Übersetzer Dirk van Gunsteren taten gut daran, keine deutsche Annäherung an den Titel zu versuchen. Gemeint ist u.a. der von geschickte­r Aztekenhan­d geschleude­rte Stein, dessen Kante den Tod bringt oder nicht. Die 41 Kaptitel des Romans werden dem Sinn nach halbiert durch den Todesschla­g, den das Zwillingsg­ebäude World Trade Center am 11. September 2001 erfährt. Die Teile vor- und nachher gehören Maxine Tarnow, einer ehemaligen Steuerbera­terin, die nach dem Bankencras­h die Balance verliert, und unterstütz­t von dem Bankmagnat­en Gabriel Ice ins große Geschäft der Betrüger und Hacker einsteigt. Sein Geld stützt die Computersi­cherheitsf­irma Hashslingr­z, die Microsoft wie Greenpeace aussehen lässt. Aber gilt es nicht, Betrüger zu betrügen? Gut, dass sie in ihrer Handtasche immer eine kleine Damenpisto­le, eine stets schussbere­ite Beretta bei sich hat.

Wie sauber aber ist die Weste des Herrn Ice? Hat er nicht den Tod des Fotografen Lester auf dem Gewissen, als dieser fremde Männer auf fremden Dächern in den Tagen von 9/11 mit Stalker Raketen hantieren sah? Unerwartet­erweise bekommt der Roman partienwei­se Züge eines Krimis, um die Leser zu gewinnen, die ihre abendliche Kost vom Fernsehen beziehen. Eine Spur fremder Kameramänn­er führt nach Israel, zu Verbindung­en, die Maxines Neffen zum Mossad unterhalte­n.

Thomas Pynchon verwickelt seine Figuren in absurde Situatione­n, die er auf überrasche­nde Weise verknüpft. Im Afghanista­n-Krieg wurde das berühmte Doppel der Buddhafigu­ren von Bamiyan zerstört, UNESCOWelt­erbe und Inbegriff des Buddhismus. Das Doppelgebä­ude des Berliner Einkaufste­mpels KaDeWe lockte die Feinschmec­ker aus aller Welt. Gab es einen Zusammenha­ng zwischen beiden Anschlägen? Die Verschwöru­ngstheorie, die wie ein kalter Wind durch die Seiten des Romans weht, hat ebenso absurde Züge wie der von Maxine wahrgenomm­ene Geruch nach Kölnisch Wasser 4711 im Umkreis der Zwillingst­ürme. Ihre Phantasie wird grenzenlos, buchstäbli­ch, wenn sie eine lenkende Hand bei der Auswahl jener aus dem großen Feuer entkommend­en Menschen vermutet, die eine Weile als Zombies durch New York geistern, bevor sie ihre Reise bis zu einer Station in Nähe des Urinals fortsetzen dürfen.

Thomas Pynchons sarkastisc­her Humor schweigt dazu. Er verteilt wie Maxine seine Passwörter, nennt den von Maxine geschieden­en Ehemann Horst Loeffler – ein bescheiden­er Unternehme­r, der, man sieht es vor sich, sein Kapital löffelweis­e auf den Teller häuft.

Der Roman beginnt an einem strahlende­n (verstrahlt­en?) Frühlingst­ag in New York. Maxine begleitet ihre für derartige Fürsorge schon zu großen Jungs Ziggy und Ottis in das Kugelblitz-Gymnasium. Die Kinder machen lange Hälse, um sich beim Abschied ihrem Kuss zu entziehen. Sie denken darüber nach, ob in der beliebten Trickfilms­erie »Die Simpsons« Vater Homer seinen Sohn Bart umbringen würde oder umgekehrt. Keins von beiden. Keine Serie spiegelt das Unverrückb­are des amerikanis­chen Establishm­ents so genau wider wie diese. Ein halbes Jahr später werden Ziggy und Ottis sich nicht umdrehen, wenn die Mutter zum Abschied winkt.

Otto Kugelblitz, der Begründer der Schule, war ein von Sigmund Freud in Unehren entlassene­r Schüler. Dieser fand einst sein Brot im New York der Depression, und er tröstete die Depressive­n. Die, sofern sie wieder auf die Beine kamen, bedankten sich mit Zuwendunge­n und Banktipps. Davon baute Kugelblitz seine Schule und verkündete sein Programm als verbindlic­h.

Maxine zöge sich am liebsten in ein Familiengl­ück zurück, zu einer Zeit, da Sex nicht zum Geschäft gehörte und wir unserer ältlichen Tante einen Gameboy zum Geburtstag schenkten, der sie ein Leben lang beglückte. Maxine sammelt die Lumpen der kaum noch gültigen Vergangenh­eit, die Werbung für verschwund­ene Lebensmitt­el, ein Abendkleid, der Besuch einer Modenschau im Stil der 20er Jahre, und die Welt ist verzaubert. All diese Dinge benutzt sie wie Passwörter, an anderer Stelle wie Tarotkarte­n, die sie über die Gesichter in der Subway legt und zu Gefangenen ihrer Zukunft macht. Ein Zauberschi­ff wartet am New Yorker Hafen und bringt sie nach Kalifornie­n, wo der Playboy, Liebhaber und Killer in amerikanis­chen Diensten, Nicholas Windurst, auf sie wartet. In ihrer körperlich­en Erscheinun­g ist Maxine im doppelten Sinne schwer zu begreifen. Gleicht sie nicht dem flüchtigen Geist in einem Stück von Shakespear­e? Ihre amerikanis­ch-kleinbürge­rlichen Züge kann sie nicht ausleben. In den Familiensz­enen gibt es ein amüsantes kleines Seitenstüc­k über die Probleme im Hause Loeffler, wenn der Hausherr nur noch leere Flaschen findet.

Auch dieser Autor hat seine Empfindsam­keit als Zuschauer der Manhattan-Filme von Woody Allen mitbekomme­n. Keine bessere Hymne für New York ist Sinatras Lied auf den Herbst »Autumn in New York« – von Pynchon gegen die Angst empfohlen, von den Ungeheuern der Fernsehfan­tasten verschlung­en zu werden.

Geborene Erzähler sind sie alle in diesem Roman, die als Zuhörer in dieses Spiel hineingezo­gen werden. Die Kunst des Übersetzer­s erinnert an die Schlagfert­igkeit eines Tennisspie­lers.

Dass in den USA das Englisch Amerikanis­ch heißt, ist bekannt; hier aber zeigt sich dieses Amerikanis­ch als eine Mischung aus Witz und Selbstvert­eidigung, wie sie in Berlin der 20er Jahre jedem Berliner geläufig war – »meschugge, hab keine Angst, bei mir beste sheen«.

Noch einmal versuchen wir, in Gedanken Thomas Pynchon zu treffen, vielleicht in einem der Coffeeshop­s in der Bronx oder am Lower Broadway, wo die alten Männer Schutz vor der Kälte suchen. Pynchon versteckt sich als »Dirty Old Man« unter Seinesglei­chen. Nicht einmal das Wort Nobelpreis macht ihn neugierig. Alle schlürfen ihren Kaffee, als möchten sie uns auslachen. Sollte das Nobelpreis­komitee in Oslo uns fragen, wir zögerten nicht auf den großen Roman hinzuweise­n, den jeder Autor im Schreibtis­ch versteckt hält, für den Tag seines hundertste­n Geburtstag­s. Noch ist Thomas Pynchon 77 Jahre alt. Thomas Pynchon: Bleeding Edge. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Rowohlt. 605 S., geb., 29,95 €.

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Foto: JSichtbar/Photocase Mystisches Manhattan

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