Recht auf Stadt in Rio
Der Widerstand der Armen gegen die Verdrängung wächst.
Investoren und Bauunternehmen spielen derzeit Monopoly in Rio de Janeiro. Doch die armen Bevölkerungsgruppen wehren sich gegen Umsiedlungen und machen von ihrem »Recht auf Stadt« Gebrauch.
Der Frühling fällt in diesem Jahr nicht ganz so heiß wie gewöhnlich über Rio de Janeiro her. Delton de Oliveira verbringt seinen freien Tag deshalb nur zu gern in der behaglichen Nachmittagssonne. Doch nicht etwa im Liegestuhl, nein, der drahtige Mittvierziger zeigt den Nachbarskindern in seinem Wohnviertel Vila Autódromo gerade wie man Fahrradreifen flickt.
»Selbermachen« – das wurde hier in Vila Autódromo immer schon groß geschrieben, sagt Delton. »Stromleitungen, Abwassersystem, Häuser und eine Schule, all das haben die etwa 1000 BewohnerInnen hier in den letzten 40 Jahren aufgebaut und verteidigt.« Mit hier meint der gelernte Masseur die Laguna Jacarepaguá am westlichen Stadtrand von Rio, einst ein matschiges Gestrüpp, in das bis heute ungefiltert Industrieabwässer gepumpt werden, aber inzwischen auch begehrtes Bauland. Mit verteidigen meint Delton, die drohende Umsiedlung abzuwenden, denn die Stadtverwaltung plant die Seesanierung und Urbanisierung der Gegend ohne die Vila Autódromo. »Muss eine neue Schnellstraße wirklich quer durch unser Viertel führen?«, fragt Delton empört »Es gibt ringsum noch so viel Dickicht, so viel ungenutztes Land, aber nein, die Straße wird genau dort geplant, wo die Häuser die der Armen stehen. Das ist die Realität hier in Brasilien.«
Die Fundamente der heute meist zweistöckigen Häuser entstanden in den 1970er Jahren. Die ersten Siedler waren Fischerfamilien, MigrantInnen aus Brasiliens Nordosten. Aber auch politisch Verfolgte der zivil-militärischen Diktatur (1964-1985) fanden hier Unterschlupf und »trugen ihren Teil zum hohen Grad an Selbstorganisation bei, den das Viertel bis heute prägt«, erinnert sich eine Frau, die damals als jugendliche Lehrerin aus dem Bundesstaat Bahia hierherkam. Ihren Namen will sie lieber nicht nennen, aber nur zu gern über jene Episode sprechen, die das letzte Kapitel der Siedlung werden könnte.
»Vor zwei Jahren begannen wir gemeinsam mit einer Gruppe engagierter Architekten der staatlichen Universität einen grundlegenden Bebauungsplan für Vila Autódromo zu entwickeln«, sagt sie, während sie uns die Stufen zu ihrer Terrasse hinaufführt. Von der Deutschen Bank gab es dafür sogar einen hochdotierten Preis, von der Stadtverwaltung dagegen eine Absage. Das Argument: Die Siedlung verhindere die Sanierung der Lagune und stehe wichtigen Infrastrukturmaßnahmen im Wege. »Die, die uns jahrzehntelang ignoriert haben, wollen uns nun einfach so umsiedeln, um Platz für das da zu schaffen«, sagt die Frau bitter.
Vila Autódromo liegt im rasant wachsenden Barra da Tijuca, einem Luxusviertel Rio de Janeiros, das sich westlich der Strände von Ipanema und Copacabana erstreckt. An sich gibt es hier noch reichlich Land – doch die Bodenpreise sind im letzten Jahrzehnt enorm gestiegen. »Barra« ist beliebt: Shopping-Malls mit Namen wie New York City oder Metropolitano Shopping, geschlossene Wohnviertel mit Pool und Golfplatz und das Olympische Dorf für die Spiele 2016 ziehen Investoren an. Das Land ist Spekulations- und Prestigeobjekt – doch zugleich auch Gegenstand sozialer und politischer Kämpfe.
Trotz allem Widerstand habe die Abrissbirne in Vila Autódromo bereits viele Lücken geschlagen, erzählt Deltons Nachbarin Inácia Passos. »Schaut doch, wie die Stadtverwaltung die Gemeinde behandelt, sie machen einfach weiter mit der Zerstörung, mittendrin in unserem Alltag«, empört sich die Arzthelferin und junge Mutter. Diese Maßnahmen sollen vor allem mürbe machen und dienen einzig den Interessen der Immobilienspekulanten, kritisiert auch die Sonderberichterstatterin der Vereinten Natio- nen, Raquel Rolnik. Denn entgegen den Behauptungen der Stadtverwaltung sei die Siedlung keineswegs illegal. Mehr noch, »das Vorgehen widerspricht den Menschenrechten und der brasilianischen Verfassung«, schreibt Rolnik auf ihrem Blog.
Wie wird weiterhin mit all jenen verfahren werden, die nicht gehen wollen? Auf »nd«-Nachfrage zeigt sich das Wohnungsdezernat der Stadtverwaltung ratlos. Eine Zwangsräumung
Raquel Rolnik komme jedenfalls nicht in Frage, versichert die Leiterin der Abteilung Wohnungsbeschaffung Ana Christina Diegues: »Niemand wird von uns zum Umzug gezwungen. Die Stadtverwaltung setzt da auf andere Lösungen. Wir bieten Entschädigungen an oder eine Wiederansiedlung im Rahmen des staatlichen Wohnungsprogramms ›Mein Haus, mein Leben‹.«
Auf dem Höhepunkt der letzten globalen Wirtschaftskrise im Jahr 2009 stieß Präsident Lula da Silvas Sozialbauprogramm »Mein Haus, mein Leben« (MCMV) auf breite internationale Anerkennung. Es sieht vor, bis zum Jahr 2018 drei Millionen Wohnungen in Brasilien zu schaffen, einen Anspruch auf das Kleinkreditprogramm haben Familien mit einem maximalen Einkommen von 550 Euro pro Monat. Allein in Rio de Janeiro sind Dutzende Wohnprojekte entstanden, die zusammengenommen eine Kleinstadt bilden würden. Bei einem derzeitigen Defizit von knapp 400 000 Wohnungen ist das allerdings erst ein Anfang, die Warteschlange ist lang.
Zudem wird der Traum vom eigenen Haus eher nach dem Zufallsprinzip verwirklicht. Wer nicht in einem sogenannten Risikogebiet an den von Erdrutschen bedrohten Steilhängen wohnt, kann lediglich versuchen, per Losverfahren eine der Wohneinheiten des Programms zu erhalten. Und auch wenn die brasilianische Verfassung in Wohnungsfragen durchaus progressiv sei, sehe die Praxis – so wie im Fall der Vila Autódromo – oft anders aus, sagt die Stadtforscherin Irene Mello. Die Anwohnerorganisation dort habe sie als einen »verschworenen Haufen« kennengelernt, »doch die Stadtverwaltung hat von Anfang an die Strategie verfolgt, die Wohnungsfrage zu individualisieren und einen nach dem anderen zum Umzug zu bewegen.« Doch Umziehen kommt für viele betroffene BewohnerInnen nicht in Frage, eben weil sie ihren Stadtteil mitgestalten wollen. Und das ist ihr gutes Recht, das vor mehr als zwei Jahrzehnten Gruppen wie die nationale Bewegung des Kampfs um Wohnraum (MNLM) und die Vereinigung der Wohnraumbewegung (UMM) in der Verfassung verankert haben. Viele dieser Gruppen sind aus Hausbesetzungen entstanden und kooperieren heute auf Augenhöhe mit den staatliche Institutionen, zwar nicht in Rio, dafür aber zuhauf in der Megametropole São Paulo. Denn neben der Lostrommel hält die staatliche Wohnungspolitik durchaus emanzipatorische Instrumente bereit, die eine kollektive Mitbestimmung ermöglichen.
Im sogenannten Entidades-Programm beispielsweise übernehmen Nachbarschaftsvereinigungen die Verwaltung der ihnen zur Verfügung gestellten Kredite, erklärt uns der Rechtsanwalt Benedito Roberto Barbosa (siehe nebenstehendes Interview) auf einem AktivistInnentreffen. Doch damit dieser Ansatz funktioniert, seien neben einem starken sozialen Zusammenhalt auch architektonisches und juristisches Wissen erforderlich – und damit eine jahrelan- ge kollektive Wohnpraxis im Sinne eines gelebten »Rechts auf Stadt«. »Doch genau diese Beteiligung macht den entscheidenden Unterschied aus«, sagt Barbosa, »denn nur so könne auf individuelle Bedürfnisse eingegangen werden. Das staatliche Programm hat zwar Wohnungen geschaffen, aber die konkreten Bedürfnisse hat es nicht erfüllt.« In den meisten Fällen ist das Angebot leider ernüchternd unflexibel: 63 Quadratmeter, zwei Zimmer, Küche, Bad, egal wie groß die Familie ist oder der bisherige Wohnraum beschaffen war.
Nur einen Kilometer von Vila Autódromo entfernt lässt sich diese Variante besichtigen. Dort hat die Stadtverwaltung zwischen grünen Hügeln die Modellsiedlung Parque Carioca geschaffen. Das Leben zwischen den 16 Wohnblocks, die bald 2000 Familien eine neue Heimat bieten sollen, läuft an diesem Nachmittag ruhig und beschaulich ab. Vor dem Gemeinschaftsschwimmbad stehen Jugendliche Schlange. »Auch ich habe in Vila Autódromo gewohnt«, erzählt ein Mann, der heute hier für einen privaten Sicherheitsdienst die Tore zwischen öffentlichem Straßenland und den Grundstücken der fünfstöckigen Häuser überwacht. »Aber hier ist es 100 Prozent besser. Keine Moskitos. Dafür finanziert die Regierung Müllabfuhr und Straßenreinigung; wir haben einen Sozialarbeiter, der sich ständig um uns kümmert.«
Für Rosilane das Dores war es weniger diese Art betreuten Wohnens als die feuchten Wände ihres Hauses in Vila Autódromo, die sie zum Umziehen bewogen. »Es war einfach kein Ort, um ein Baby aufzuziehen«, erzählt sie, während sie ihren Säugling auf einem Spielplatz stillt. »Als sie mich und meinen Mann dann fragten, ob wir nicht tauschen wollten mit einem Apartment hier, sagten wir ja. Die neue Wohnung hat keinen Schimmel. Es gibt einen Supermarkt und einen Kindergarten gleich um die Ecke.«
Delton und Inácia können an diesem pragmatischen Tapetenwechsel nichts Gutes finden. Wohnraum sei mehr als nur ein Dach über dem Kopf. Mit Skepsis sehen die Anwohner von Vila Autódromo deshalb dem Besuch des Verwaltungsgerichts in den nächsten Tagen entgegen, das ihnen verkünden will, wann wer wohin umgesiedelt werden soll. Die meisten Nachbarn wollen diesen Vorschlag ausschlagen und, falls nötig, umgehend Protestaktionen organisieren. »Wir haben ein Recht auf Land, ein Recht auf Wohnraum«, sagt Inácia mit fester Stimme. »Genau darum kämpft Vila Autódromo. Und wir werden das Recht bekommen, hier zu bleiben.«
»Das Vorgehen widerspricht den Menschenrechten und der brasilianischen Verfassung.«