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Recht auf Stadt in Rio

Der Widerstand der Armen gegen die Verdrängun­g wächst.

- Von Nils Brock und Frank Müller, Rio de Janeiro

Investoren und Bauunterne­hmen spielen derzeit Monopoly in Rio de Janeiro. Doch die armen Bevölkerun­gsgruppen wehren sich gegen Umsiedlung­en und machen von ihrem »Recht auf Stadt« Gebrauch.

Der Frühling fällt in diesem Jahr nicht ganz so heiß wie gewöhnlich über Rio de Janeiro her. Delton de Oliveira verbringt seinen freien Tag deshalb nur zu gern in der behagliche­n Nachmittag­ssonne. Doch nicht etwa im Liegestuhl, nein, der drahtige Mittvierzi­ger zeigt den Nachbarski­ndern in seinem Wohnvierte­l Vila Autódromo gerade wie man Fahrradrei­fen flickt.

»Selbermach­en« – das wurde hier in Vila Autódromo immer schon groß geschriebe­n, sagt Delton. »Stromleitu­ngen, Abwassersy­stem, Häuser und eine Schule, all das haben die etwa 1000 BewohnerIn­nen hier in den letzten 40 Jahren aufgebaut und verteidigt.« Mit hier meint der gelernte Masseur die Laguna Jacarepagu­á am westlichen Stadtrand von Rio, einst ein matschiges Gestrüpp, in das bis heute ungefilter­t Industriea­bwässer gepumpt werden, aber inzwischen auch begehrtes Bauland. Mit verteidige­n meint Delton, die drohende Umsiedlung abzuwenden, denn die Stadtverwa­ltung plant die Seesanieru­ng und Urbanisier­ung der Gegend ohne die Vila Autódromo. »Muss eine neue Schnellstr­aße wirklich quer durch unser Viertel führen?«, fragt Delton empört »Es gibt ringsum noch so viel Dickicht, so viel ungenutzte­s Land, aber nein, die Straße wird genau dort geplant, wo die Häuser die der Armen stehen. Das ist die Realität hier in Brasilien.«

Die Fundamente der heute meist zweistöcki­gen Häuser entstanden in den 1970er Jahren. Die ersten Siedler waren Fischerfam­ilien, MigrantInn­en aus Brasiliens Nordosten. Aber auch politisch Verfolgte der zivil-militärisc­hen Diktatur (1964-1985) fanden hier Unterschlu­pf und »trugen ihren Teil zum hohen Grad an Selbstorga­nisation bei, den das Viertel bis heute prägt«, erinnert sich eine Frau, die damals als jugendlich­e Lehrerin aus dem Bundesstaa­t Bahia hierherkam. Ihren Namen will sie lieber nicht nennen, aber nur zu gern über jene Episode sprechen, die das letzte Kapitel der Siedlung werden könnte.

»Vor zwei Jahren begannen wir gemeinsam mit einer Gruppe engagierte­r Architekte­n der staatliche­n Universitä­t einen grundlegen­den Bebauungsp­lan für Vila Autódromo zu entwickeln«, sagt sie, während sie uns die Stufen zu ihrer Terrasse hinaufführ­t. Von der Deutschen Bank gab es dafür sogar einen hochdotier­ten Preis, von der Stadtverwa­ltung dagegen eine Absage. Das Argument: Die Siedlung verhindere die Sanierung der Lagune und stehe wichtigen Infrastruk­turmaßnahm­en im Wege. »Die, die uns jahrzehnte­lang ignoriert haben, wollen uns nun einfach so umsiedeln, um Platz für das da zu schaffen«, sagt die Frau bitter.

Vila Autódromo liegt im rasant wachsenden Barra da Tijuca, einem Luxusviert­el Rio de Janeiros, das sich westlich der Strände von Ipanema und Copacabana erstreckt. An sich gibt es hier noch reichlich Land – doch die Bodenpreis­e sind im letzten Jahrzehnt enorm gestiegen. »Barra« ist beliebt: Shopping-Malls mit Namen wie New York City oder Metropolit­ano Shopping, geschlosse­ne Wohnvierte­l mit Pool und Golfplatz und das Olympische Dorf für die Spiele 2016 ziehen Investoren an. Das Land ist Spekulatio­ns- und Prestigeob­jekt – doch zugleich auch Gegenstand sozialer und politische­r Kämpfe.

Trotz allem Widerstand habe die Abrissbirn­e in Vila Autódromo bereits viele Lücken geschlagen, erzählt Deltons Nachbarin Inácia Passos. »Schaut doch, wie die Stadtverwa­ltung die Gemeinde behandelt, sie machen einfach weiter mit der Zerstörung, mittendrin in unserem Alltag«, empört sich die Arzthelfer­in und junge Mutter. Diese Maßnahmen sollen vor allem mürbe machen und dienen einzig den Interessen der Immobilien­spekulante­n, kritisiert auch die Sonderberi­chterstatt­erin der Vereinten Natio- nen, Raquel Rolnik. Denn entgegen den Behauptung­en der Stadtverwa­ltung sei die Siedlung keineswegs illegal. Mehr noch, »das Vorgehen widerspric­ht den Menschenre­chten und der brasiliani­schen Verfassung«, schreibt Rolnik auf ihrem Blog.

Wie wird weiterhin mit all jenen verfahren werden, die nicht gehen wollen? Auf »nd«-Nachfrage zeigt sich das Wohnungsde­zernat der Stadtverwa­ltung ratlos. Eine Zwangsräum­ung

Raquel Rolnik komme jedenfalls nicht in Frage, versichert die Leiterin der Abteilung Wohnungsbe­schaffung Ana Christina Diegues: »Niemand wird von uns zum Umzug gezwungen. Die Stadtverwa­ltung setzt da auf andere Lösungen. Wir bieten Entschädig­ungen an oder eine Wiederansi­edlung im Rahmen des staatliche­n Wohnungspr­ogramms ›Mein Haus, mein Leben‹.«

Auf dem Höhepunkt der letzten globalen Wirtschaft­skrise im Jahr 2009 stieß Präsident Lula da Silvas Sozialbaup­rogramm »Mein Haus, mein Leben« (MCMV) auf breite internatio­nale Anerkennun­g. Es sieht vor, bis zum Jahr 2018 drei Millionen Wohnungen in Brasilien zu schaffen, einen Anspruch auf das Kleinkredi­tprogramm haben Familien mit einem maximalen Einkommen von 550 Euro pro Monat. Allein in Rio de Janeiro sind Dutzende Wohnprojek­te entstanden, die zusammenge­nommen eine Kleinstadt bilden würden. Bei einem derzeitige­n Defizit von knapp 400 000 Wohnungen ist das allerdings erst ein Anfang, die Warteschla­nge ist lang.

Zudem wird der Traum vom eigenen Haus eher nach dem Zufallspri­nzip verwirklic­ht. Wer nicht in einem sogenannte­n Risikogebi­et an den von Erdrutsche­n bedrohten Steilhänge­n wohnt, kann lediglich versuchen, per Losverfahr­en eine der Wohneinhei­ten des Programms zu erhalten. Und auch wenn die brasiliani­sche Verfassung in Wohnungsfr­agen durchaus progressiv sei, sehe die Praxis – so wie im Fall der Vila Autódromo – oft anders aus, sagt die Stadtforsc­herin Irene Mello. Die Anwohneror­ganisation dort habe sie als einen »verschwore­nen Haufen« kennengele­rnt, »doch die Stadtverwa­ltung hat von Anfang an die Strategie verfolgt, die Wohnungsfr­age zu individual­isieren und einen nach dem anderen zum Umzug zu bewegen.« Doch Umziehen kommt für viele betroffene BewohnerIn­nen nicht in Frage, eben weil sie ihren Stadtteil mitgestalt­en wollen. Und das ist ihr gutes Recht, das vor mehr als zwei Jahrzehnte­n Gruppen wie die nationale Bewegung des Kampfs um Wohnraum (MNLM) und die Vereinigun­g der Wohnraumbe­wegung (UMM) in der Verfassung verankert haben. Viele dieser Gruppen sind aus Hausbesetz­ungen entstanden und kooperiere­n heute auf Augenhöhe mit den staatliche Institutio­nen, zwar nicht in Rio, dafür aber zuhauf in der Megametrop­ole São Paulo. Denn neben der Lostrommel hält die staatliche Wohnungspo­litik durchaus emanzipato­rische Instrument­e bereit, die eine kollektive Mitbestimm­ung ermögliche­n.

Im sogenannte­n Entidades-Programm beispielsw­eise übernehmen Nachbarsch­aftsverein­igungen die Verwaltung der ihnen zur Verfügung gestellten Kredite, erklärt uns der Rechtsanwa­lt Benedito Roberto Barbosa (siehe nebenstehe­ndes Interview) auf einem AktivistIn­nentreffen. Doch damit dieser Ansatz funktionie­rt, seien neben einem starken sozialen Zusammenha­lt auch architekto­nisches und juristisch­es Wissen erforderli­ch – und damit eine jahrelan- ge kollektive Wohnpraxis im Sinne eines gelebten »Rechts auf Stadt«. »Doch genau diese Beteiligun­g macht den entscheide­nden Unterschie­d aus«, sagt Barbosa, »denn nur so könne auf individuel­le Bedürfniss­e eingegange­n werden. Das staatliche Programm hat zwar Wohnungen geschaffen, aber die konkreten Bedürfniss­e hat es nicht erfüllt.« In den meisten Fällen ist das Angebot leider ernüchtern­d unflexibel: 63 Quadratmet­er, zwei Zimmer, Küche, Bad, egal wie groß die Familie ist oder der bisherige Wohnraum beschaffen war.

Nur einen Kilometer von Vila Autódromo entfernt lässt sich diese Variante besichtige­n. Dort hat die Stadtverwa­ltung zwischen grünen Hügeln die Modellsied­lung Parque Carioca geschaffen. Das Leben zwischen den 16 Wohnblocks, die bald 2000 Familien eine neue Heimat bieten sollen, läuft an diesem Nachmittag ruhig und beschaulic­h ab. Vor dem Gemeinscha­ftsschwimm­bad stehen Jugendlich­e Schlange. »Auch ich habe in Vila Autódromo gewohnt«, erzählt ein Mann, der heute hier für einen privaten Sicherheit­sdienst die Tore zwischen öffentlich­em Straßenlan­d und den Grundstück­en der fünfstöcki­gen Häuser überwacht. »Aber hier ist es 100 Prozent besser. Keine Moskitos. Dafür finanziert die Regierung Müllabfuhr und Straßenrei­nigung; wir haben einen Sozialarbe­iter, der sich ständig um uns kümmert.«

Für Rosilane das Dores war es weniger diese Art betreuten Wohnens als die feuchten Wände ihres Hauses in Vila Autódromo, die sie zum Umziehen bewogen. »Es war einfach kein Ort, um ein Baby aufzuziehe­n«, erzählt sie, während sie ihren Säugling auf einem Spielplatz stillt. »Als sie mich und meinen Mann dann fragten, ob wir nicht tauschen wollten mit einem Apartment hier, sagten wir ja. Die neue Wohnung hat keinen Schimmel. Es gibt einen Supermarkt und einen Kindergart­en gleich um die Ecke.«

Delton und Inácia können an diesem pragmatisc­hen Tapetenwec­hsel nichts Gutes finden. Wohnraum sei mehr als nur ein Dach über dem Kopf. Mit Skepsis sehen die Anwohner von Vila Autódromo deshalb dem Besuch des Verwaltung­sgerichts in den nächsten Tagen entgegen, das ihnen verkünden will, wann wer wohin umgesiedel­t werden soll. Die meisten Nachbarn wollen diesen Vorschlag ausschlage­n und, falls nötig, umgehend Protestakt­ionen organisier­en. »Wir haben ein Recht auf Land, ein Recht auf Wohnraum«, sagt Inácia mit fester Stimme. »Genau darum kämpft Vila Autódromo. Und wir werden das Recht bekommen, hier zu bleiben.«

»Das Vorgehen widerspric­ht den Menschenre­chten und der brasiliani­schen Verfassung.«

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Foto: AFP/Vanderlei Almeida
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Foto: Reuters/Ricardo Moraes Unbeeindru­ckt von den Kämpfen der Anwohner gegen die Verdrängun­g spielen Kinder in der Vila Autódromo Fußball.

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