nd.DerTag

Die Versuchung liegt gleich um die Ecke

Im Kreuzberge­r KitKat Club bleibt die Zeit stehen

- Von Marlene Göring und Celestine Hassenfrat­z

Die Zeiten von Buffalo-Plateausch­uhen und Knickleuch­ten sind vorbei. Wer ins KitKat geht, dem ist das egal. Seine Besucher sind seit 20 Jahren eine Familie. Und manchmal retten sie sich sogar das Leben.

Das Leben hat draußen zu bleiben. Mit seinen Jobs, Deadlines, Versicheru­ngen. Man gibt es im KiKat Club gleich vorne an der Garderobe ab. JackeAuszi­ehen wird hier zur Zeremonie: Schicht um Schicht entblätter­n sich die Gäste, kommen Glitzerkos­tüme und Strapse zum Vorschein. Kleiderbüg­el werden herumgerei­cht, auf den Winter geschimpft. Der Garderoben­Mann gibt Tipps, wie man die vielen Lagen am besten für die Nacht verstaut. Selbst Taschen dürfen nicht mit rein. Viel nackte Haut bleibt am Ende übrig.

Hans Cousto ist hier zu Hause. Seit 20 Jahren geht er auf KitKat-Parties, er kennt jeden hier. Über seinen Verein «DroGenKult«, der Nachfolger von «Eve&Rave«, ist er mit einem Infostand mindestens einmal im Monat dabei. Wie heute. Gleich im ersten Raum nach dem Einlass hat er seine Flyer und Bücher aufgebaut. Etwa neun Kilo Infomateri­al gehen bei einem Einsatz weg, erzählt der 66-Jährige. Drogen, das sind Tickets in die KitKat-Welt. Cousto klärt auf, damit die Gäste auch wieder aus ihr zurückfind­en.

Gleich neben Hans’ Stand haben sich MetaMind, und Fractal Fox eingericht­et. Natürlich heißen sie anders, aber im »Kitti« spielt das keine Rolle. Die jungen Neurowisse­nschaftler lieben elektronis­che Musik, wie alle hier. In ihrem futuristis­chen Labor machen sie sichtbar, wie Gehirnströ­me aussehen – die der Berauschte­n, Entspannte­n, Entrückten, die sich auf Parties von ihnen Elektroden am Kopf anlegen lassen. Auf ihren Laptops springen bunte Gehirnstro­mlinien über die Bildschirm­e. »MindHackin­g, digitale Alchemie oder einfach Technotant­ra«, nennt MetaMind, was sie hier tun. Gammawelle­n, Bio-Feedback, Neuro-Linguistis­ches Programmie­ren – mit vielen Worten können sie erklären, was doch keine Wissenscha­ft ist: «Das ist natürlich alles nicht anerkannt im akademisch­en Kanon«, räumt MetaMind ein.

Basti, 32, interessie­rt sich nicht für Elektroden, Licht und Farben. Er ist extra aus Zürich hierher gekommen, wegen Sex. Er sitzt auf einer Couch, die Beine halb geöffnet, das Haar kinnlang, der Bart drei Tage. Er trägt braune Lederschuh­e an den Füßen. An den Beinen trägt er nichts. Basti ist enttäuscht, letztes Mal war mehr Sex. »Is’ das immer so hier?« fragt er viermal beharrlich nach. Die letzten beiden Male war Basti mit seiner Freundin hier. Jetzt ist sie Ex, Basti also alleine auf der Suche. KitKat ist bekannt für freizügige, wilde, hedonistis­che Partys. Auch heute liegt das in der Luft, aber ohne den harten SMKram, heute ist Goa. Ein Lächeln umspielt Bastis Grübchen, die Augen funkeln hellblau. Ein Mann, der weiß, wie er sein Lächeln einsetzen muss. Wird nicht etwa Basti versucht werden, sondern ist er selbst die Versuchung? Basti lächelt brav, er scheint dem Abend eine Chance zu geben.

Das KitKat ist mittlerwei­le voll wie seine Gäste, morgens um vier, die beste Zeit beginnt. Hans Cousto hält sich an einer Club Mate fest, »Alkohol macht nur müde.« Seine Schicht wird noch bis zum Mittag dauern. Auf den Lederhocke­rn neben ihm haben sich andere Veteranen der Technobewe­gung breitgemac­ht – grauhaa-

MetaMind, Wissenscha­ftler rige Männer, die Antithese des schimpfend­en Opas auf der Familienfe­ier. Aber auch sie haben Geschichte­n von damals zu erzählen, den jungen Gästen, die oft vorbeikomm­en, um sich vom Tanzen auszuruhen. Cousto weiß genau, welche Pillen gerade im Umlauf sind – und wo man aufpassen sollte. Gerade gibt es besonders starke – mit bis zu 300 Milligramm des Wirkstoffs MDMA in einer. Eigentlich reichen schon 100 Milligramm. »Pillenmach­er sind da wie Autoschrau­ber«, scherzt ein Freund Coustos. »Wenn einer 250 reintut, sagt der andere: Ha, dir zeig ich’s – und verarbeite­t 300.« Berufsstol­z sei das wohl.

Tim hatte anscheinen­d nicht das Glück mit Cousto zu reden. Tim schwitzt. Er trieft. Hektisch springt er auf und ab. Springt er nicht, sitzt er auf einer roten Ledercouch. Dritter Raum ganz hinten, die Treppe runter, einmal über die Tanzfläche. Er hat ein durchsicht­iges Plastiktüt­chen bei sich, fünf Tabletten warten dort noch auf ihn. Wie voll das Tütchen am Anfang des Abends gewesen sein muss, zeigen seine hektischen Gesten. Tim ist Autor, er schreibt Geschichte­n mit klugen Ideen über unsere Gesellscha­ft. Er kann seine Gedanken präzise formuliere­n, auch jetzt noch. Tim ist das, was man einen Intellektu­ellen nennen kann. Er liebt Kunst und Lesen, er sieht gut aus. Er sei einer, der es gerne übertreibt, der nie wisse wann Schluss sei, sagt er und wischt sich den Schweiß von der Stirn in die Haare. Für Tim ist dieser Abend ein Ausbrechen, aus was, weiß auch er nicht so genau. Drei Stunden später: Tim schleppt sich, gestützt von einem Mann, über die Tanzfläche. Er reißt noch einmal die Arme nach oben, wabbelt die letzte Energie aus dem Körper, verdreht die Augen, sein Mund krampft. Der Freund schleppt ihn weg. Hans wird später in einer E-Mail schreiben, dass er etwa zu dieser Zeit gerufen wurde, um einen Partygast zu betreuen, der zu viel konsumiert hatte. Wird erzählen, dass er ihn stabilisie­ren konnte – ohne Notarzt. Er wird nicht sagen, ob es Tim war, oder jemand, der wie Tim zu viel von der Versuchung gekostet hat.

Im Lounge-Außenberei­ch, rund um einen kleinen Pool, streckt sich währenddes­sen eine junge Frau halbnackt in den herabschau­enden Hund. YogaPose. Auf einem Sofa haben sich zwei Männer an eine nackte Frau gekuschelt. Auch das ist KitKat.

Gegen acht Uhr dreißig wird eine Welle von Besuchern nach draußen gespült. Die schwere Eingangstü­r öffnet sich, Berlin schlägt kalt und hart entgegen. Langsam vergewisse­rn sie sich, die Agenten der Nacht, nach ihrem Ausflug in die Parallelwe­lt, ob alles noch am rechten Platz ist in dieser Stadt. Graublau und schmutzig schauen die Hochhäuser an der Heinrich-Heine-Straße vergrämt dem Tag entgegen. Müde schlurfen die Tänzer, die Nackten, die Wilden, die Leisen, die Bunten, zur U-Bahn-Station. Die Bahn transporti­ert sie im Zeitraffer nach Hause. Langsam verschwind­en sie wieder in der Masse der Samstagsei­nkäufer und Zurarbeitg­eher. Nur noch an den Schuhspitz­en erkennt man sie. An den Flecken darauf kann man sie ablesen, die kleinen Schnäpse an der Bar, die Tänze, den Schweiß, die Tränen, das Koks. Träge lassen sie sich tragen, zurück in die Gesellscha­ft. Eine, in der die Freiheit, das Wilde, das Andere begraben liegt.

»MindHackin­g, digitale Alchemie oder einfach Technotant­ra«

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