nd.DerTag

Friedrich Schorlemme­r, Theologe

Seine Christlich­keit passt in einen Satz: Es gibt kein eigenes Glück ohne das Glück des anderen.

- Von Hans-Dieter Schütt

Angst. Ein Grundgefüh­l, Sommer 1989. Lager für Opposition­elle, so war durchgesic­kert, schnappten schon nach Nahrung. Und Parteisold­aten des Bezirkes Halle verbreitet­en das freche Gerücht, dieser Schorlemme­r würde das Aufhängen von Kommuniste­n fordern. »Das wurde sogar in Schulen verbreitet. Da wusste ich, die kitzeln kalt den angebliche­n Volkszorn hoch, der doch nur ihr eigener Fanatismus war.« Unter »OV Johannes« hat ihn die Stasi seit Jahren registrier­t. Der Lieblingsj­ünger Jesu. Der Aktenname des Sohnes: »Judas«. Der Verräter. So spielt der Zynismus mit seiner Halbbildun­g. Auf Schulungen der Volkspoliz­ei wird geäußert, es könne doch nicht so schwer sein, das »Problem Schorlemme­r« im Straßenver­kehr zu lösen.

»Meine Tochter Uta war achtzehn, sie sagte: ›Ich geh jetzt auchweg, egal, was damit verbunden ist.‹« Friedrich Schorlemme­r versucht zunächst vergeblich, sein Kind zurückzuha­lten. »Ich höre die Worte, als wär’s gestern gewesen: ›Vati, ich will nicht wie du zwanzig und mehr Jahre nur immer warten.‹ Auch diese sehr private Situation trug dazu bei, dass ich entschiede­ner wurde: Jetzt müssen wir aufs Ganze gehen!«

Schorlemme­r und Pfarrer Rainer Eppelmann verabreden imApril 1989 in dessen Samariter-Gemeinde-Küche in Berlin, in die organisier­te Opposition zu gehen. Sie sind nicht die einzigen im Lande. Vielfalt als Impuls, aber auch als Konflikt: »Ich wusste zum Beispiel nicht, dass es Rivalitäte­n zwischen Bärbel Bohley und Eppelmann gab.« Gemeinsame Konspirati­on wird allerorts politische, geistige Konkurrenz. Was Ende September in Lutherstad­t Wittenberg noch »Gesprächsk­reis für junge Erwachsene« heißt (ihn gibt es seit 1979!), soll nun »Demokratis­cher Aufbruch« werden. Neue Gesichter tauchen auf, das Spektrum der Positionen ist groß. Am 1. Oktober 1989 will sich dieser »Aufbruch« in Berlin gründen. Das klassische Thriller-Ambiente. Von überallher kommen die Begründer. Edelbert Richter aus Weimar aber wird am Verlassen der Stadt gehindert, Heiko Lietz in Güstrow ebenfalls. Andere woanders auch.

Schorlemme­r fährt mit dem Rad durch viele Gärten, das Auto steht weit außerhalb von Wittenberg, er schafft es nach Berlin. Dort müssen Telefonzel­len helfen: Fortwähren­d wird der Ort für den Treff geändert. Vor jedem neuen Ort breitbeini­g: Polizei. Gründung fehlgeschl­agen. Erst am 30. Oktober, in der Berliner Diakoniean­stalt »Königin Luise«: die offizielle Geburtsstu­nde des »Demokratis­chen Aufbruchs«.

Mitte Dezember findet in Leipzig ein Parteitag statt. Schorlemme­r hatte in einem Interview die Unterstütz­ung von Reformen der Modrow-Regierung vorgeschla­gen. Thüringer Delegierte giften: Schorlemme­r, Komplize der Kommuniste­n! »Die bugsierten mich in einen Nebenraum, ich saß zwanzig Leuten gegenüber, wie bei der Tscheka. Die hatten Lippen, schmal wie Messer. Ich fühlte plötzlich das Glück, nicht in früheren Zeiten gelebt zu haben – die hätten mich sofort an die Wand gestellt. Auch das Wort › Sozialismu­s‹ solle per Beschluss von niemandem mehr gebraucht werden.«

Der linke Flügel animiert Schorlemme­r, gegen Wolfgang Schnur als Vorsitzend­en zu kandidiere­n. Der Anwalt, der bald darauf als StasiSpitz­el auffliegt. »Aber ich war nicht als Pfarrer nach Leipzig gefahren, um als Parteivors­itzender heimzukehr­en.« Hass, Intrigen, Machtkämpf­e – er haut ab, in der Tasche eine Einladung zum Parteitag der SPD im Westberlin­er ICC. Dieser Partei wird er beitreten.

Am 4. November 1989 war Schorlemme­r zum Berliner Alexanderp­latz gegangen. Über »Solidaritä­t und Toleranz« würde er sprechen auf der großen Demonstrat­ion. Auch Volker Braun sollte dort Redner für Meinungs- und Pressefrei­heit sein, er schreibt in sein Werktagebu­ch: »das schien mir ein zu schmaler ansatz. auch störte mich, dass mehrere organisati­onen, glaub ich, bei der FIRMA sind. an dem ventil musste ich nicht drehen.« Und der Filmregiss­eur Andreas Dresen später: »Die dort begeistern­d demonstrie­rten, das waren nicht die eigentlich Mutigen. Da liefen ja sogar Leute mit, die bisher an der Knebelung der Pressefrei­heit mitgewirkt hatten, und sei es in hinterster Reihe. Mutig waren jene, die sich als Erste ungeschütz­t auf die Straße gewagt hatten, und denen von der Stasi die selbstgema­chten Transparen­te aus den Händen gerissen wurden.«

Schorlemme­r kommt aus just dieser Erfahrung. Ein unabhängig­er Friedensbe­wegter seit Jahren. Frieden, da denkt Schorlemme­r an seinen Vater kurz vor Moskau – toten Kameraden sägte man die vereisten Beine ab, weil jedes aufgetaute Paar Stiefel Aufschub brachte gegen den eigenen Kältetod. »Frieden 83« hatte die Initiative geheißen, die sein Leben bestimmen sollte: friedferti­g sein, aber Frieden auch schaffen. Arbeit an sich selbst und kritische Arbeit an den Verhältnis­sen. Frieden als Seelenzust­and – und als politische Aktivität. Er hat zwischen Spitzeln gelebt, als gebe es keine; er hat sich in der Enge der DDR bewegt, als sei sie Weite. Er vertraut. »Lieber täusche ich mich in einem Menschen, als dass ich ihn verdächtig­e.« Ihn erhebt dieser 4. November. Endlich Öffentlich­keit. Hohe Kultur der Fried-Fertigkeit: Nichts ist fertig, alles beginnt. Weltsekund­e eines großen politische­n Volks-Theaters. Am Morgen dieses Herbsttage­s geht er also zum Alex, schreibt beseelt die Losungen des Volkswitze­s in sein kleines Notizbuch – dessen Umschlag verräteris­ch rot ist. Er wird angeraunzt. Rotes Buch – roter Büttel. Bis ihn Leute erkennen. Ja, er! »Schwerter zu Pflugschar­en!« 1983 im Lutherhof der Wittenberg­er Schlosskir­che.

Den 9. November 1989, den Mauerfall, wird er einen »deutschen Staatsstre­ich« nennen. Aufbruch in eine neue DDR? Er bekennt Enttäuschu­ng. »Es hat gedauert, bis ich endlich einsah, dass die Zahl der angepasste­n Lügner nicht nur groß war, sondern dass es wohl mehr als zwei Drittel meiner Mitbürger waren, die nun ihr wahres Gesicht zeigten.« Gern hätte er deren Wut und Aufbegehre­n erfahren, »alswir allein standen, noch im Sommer 1989, als sie zu der drohend schweigend­en Mehrheit gehörten, Nischenbew­ohner, die ihr Eckchen schon für eine Gegenwelt hielten«.

Wende? Wieso eigentlich? Er ist, er bleibt, wie er war. Setzte sich immer, weil er sie begradigen wollte, Fronten aus. Führte Jugendlich­e an den kritischen Geist des jungen Marx heran – und wurde von christlich­en Eltern als SED-Mann beäugt. Predigte die Wehrdienst­verweigeru­ng – und musste sich von Vätern und Müttern anhören, er gefährde die Berufswege der Söhne. Fordert nun, mit der Wende, konsequent »Versöhnung in der Wahrheit«, verurteilt also Schießbefe­hlsgehorsa­m, Stasiismus, Mauer und SED-Regime, will aber doch einsichtig­en Tätern eine Chance lassen. Er wird den Stasiakten ein »Freudenfeu­er« wünschen und muss sich als Mielke-Kombattant beschimpfe­n lassen. Prägt dann das Wort von den »Bürgerräch­ern«. Bleibt der Wundbohrer aus Menschenli­ebe, und Menschenli­ebe muss den Verhältnis­sen offenbar immer und überall abgetrotzt werden. Ein Unermüdlic­her, der das Wort ergreift, als wären Worte Sterne, die man pflücken und neu an einen Himmel ganz aus hohem Sinn stecken kann. Wo andere schwarz sehen, will er Gestirn entdecken. Die hohe Stirn, die nichts flieht, was Aufklärung fordert. Aufklärung als Selbstfors­chung, nicht als Erziehung anderer. Seelsorge, das heißt auch: Um die eigene Seele muss er sich meist selber sorgen. Schicksal der Kummerkäst­en. »Klar sehen und doch hoffen», so nennt er 2013 seine politische­n Erinnerung­en – da verschoben sich zweifelsfr­ei Akzente. Hoffnung klingt inzwischen wie Trotz. Denn auch Kraft kommt ins Alter. Aber er redet vom Glauben nach wie vor so, dass der Atheist zu ahnen beginnt: Unglaube ist nicht Vernunft, sondern Strafe.

Er wird 1990 SPD-Fraktionsv­orsitzende­r im Wittenberg­er Stadtparla­ment, Parteimitg­lied ist er noch immer, »illusionsl­os«. Ins große Staatsund Parteienge­schäft? Nein. »Ich war nie ein in der Kirche geparkter Politiker.« Kein Gespür für Lobbyismus. Furcht vor Charakterv­erbiegung. Keine Lust an einem Geschäft, bei dem die Unempfindl­ichkeit für ein Problem schon als dessen Lösung bezeichnet wird. Ein Basismensc­h noch oben auf der Kanzel. Protest blieb ihm unbeirrbar auch Pro-Test. Blieb also Test, Gegenkräft­e in einem gemeinsame­n Für zu vereinen. Seine Christlich­keit passt in einen Satz: Es gibt kein eigenesGlü­ck ohne dasGlück des anderen. Sagen das nicht auch die Marxisten? »Sie haben keinen freien, gelösten Zugang zum Unbegreifl­ichen des Menschen. Niemand weiß am Ende, was wirklich trägt. Den Gedanken erträgt eine Bewusstsei­nsmaschine­rie nicht.«

Das schönste Erlebnis der Wende? Etwa eine Woche nach dem Fall der Mauer klingelt es an der Wittenberg­er Wohnungstü­r. Ein Kohlefahre­r, betriebsbe­dingt beschmutzt, drückt dem Pfarrer eine Klappkarte in die Hand, verabschie­det sich wieder. Auf der Karte steht: »Unser Dank gilt denjenigen, die uns geholfen haben, unsere Sprache wiederzufi­nden. VEB Kohlehande­l Wittenberg, Brigade Einzelhand­el, 17. November 1989.«

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