Katja Kittler, Handball-Nationalspielerin
Sie war die erste Handballerin, die zur Maueröffnung in den Westen wechselte. Bei der WM 1990 traf sie mit der BRD-Mannschaft auf die DDR.
Wann immer sich Katja Kittler in ihrem Leben entscheiden musste: Sie tat es ohne Zögern, aus dem Bauch heraus. So auch an diesem 5. November 1989. Gerade ist die 21-jährige Handballerin von einer Länderspielreise aus Dänemark zurückgekommen. Sie hat zwar einen dicken Daumen und konnte nicht mitspielen, aber als Zeichen, dass sie zum Nationalteam gehört, hatte sie mitfahren dürfen. Es sollte ihre letzte Reise mit dem DHV sein, dem Deutschen Handballverband der DDR.
Der 5. November ist ein Sonntag und das Land, für dessen HandballNationalmannschaft die 1,85 Meter große Frau fleißig Tore wirft, ist in Aufruhr. Von den Montagsdemos in Leipzig hat die wohlbehütete Sportlerin vor allem von ihrer Schwester, die in Berlin lebt, erfahren. Allzu tief gehende Gedanken über den politischen Niedergang des Landes hat sie sich zu jener Zeit noch nicht gemacht, wie sie 25 Jahre später zugibt. »Ich lebte damals doch in einer Blase, als Sportstudentin der DHfK. Zum Studium musste ich einmal die Woche, ansonsten bestand mein Tag aus zweimal Training, dazwischen Massagen und Mahlzeiten. Ein leichtes Leben.«
Doch die Ausreisewelle, die das Land DDR erfasst hat, erreicht an diesem Tag die Handballerin Katja Kittler vom SC Empor Rostock: »Du, der Olaf ist weg«, platzen ihre Mannschaftskolleginnen in der Mensa des SC Empor heraus, »der ist abgehauen in den Westen!« Olaf ist zu dieser Zeit ihr Freund. Dennoch ist die junge Frau mit dem dunklen Zopf nur kurz geschockt: »Ach Gott, ich war 21. Ein bisschen beleidigt war ich zwar«, sagt Katja Kittler heute, »aber dass er weg war, war jetzt nicht wirklich ein Drama.«
Das wahre Drama bahnt sich erst am Abend dieses Sonntags an: Als Katja Kittler nach Hause kommt, bittet ihre alleinerziehende Mutter sie und den Bruder zum Gespräch. »Katja, wir würden gerne ausreisen«, sagt Mutter Kittler ziemlich unverblümt. Ihr älterer Bruder Silvio sei schon eingeweiht, auch ihre Schwester Isabel aus Berlin solle mitkommen. »Es wird über Prag gehen. Aber nur wenn du mitkommst.« Katja Kittler überlegt. In Gedanken lässt sie ihre bisherige Laufbahn vorbeiziehen: Die ersten Jahre Handball bei der BSG FIKO Rostock. Der Wechsel von der Betriebsmannschaft des Fischkombinats zum großen SC Empor 1982. Der Einzelunterricht an der Kinder- und Jugendsportschule, ihre lustige Klasse dort: acht Empor-Handballerinnen und acht Hansa-Fußballer, darunter auch Axel Kruse, der spätere Profi. Das stundenlange Wurftraining in der Halle. Die Ehrung als Torschützenkönigin der DDR-Oberliga 1987, der Meistertitel 1989. Der Traum von einem Start bei der WM 1990 in Seoul und von Olympia 1992 in Barcelona.
Einen Moment lang schaut die jüngste Tochter ihre Mutter an, die als Erzieherin an der Kinder- und Jugendsportschule arbeitet und immer mal wieder im DDR-Bildungssystem angeeckt ist, dann sagt sie in ihrer unaufgeregten Art: »Ja, können wir machen.« Noch am Abend werden erste Vorbereitungen getroffen, Koffer ge- packt, am Dienstag schon soll es über die ČSSR gen Westen gehen. Katja Kittlers Schwester Isabel lebt in Berlin und bekommt ein Telegramm, sie solle am Dienstagfrüh zum Bahnhof Berlin-Lichtenberg kommen. »Mehr konnte man ja nicht verraten, aber meine Schwester wusste sofort, was wir vorhaben.«
Am Montag meldet sich Katja Kittler beim Verein krank, die Familie hebt vom Konto alles Geld ab und macht sich am Dienstagfrüh auf die Reise gen Berlin. Am Bahnhof Lichtenberg sorgt ihre Schwester Isabel für eine erste Änderung im Plan. Die 25-Jährige ist ohne Koffer zum Bahnhof gekommen. Sie will nicht ausreisen. Ein paar Minuten lang wird diskutiert, doch schließlich ist der Wunsch der Schwester akzeptiert: Mit Piccoloflaschen wird noch einmal angestoßen, dann steigen drei von vier Kittlers in den Zug.
In Prag geht’s vom Bahnhof Holesovice zum Bahnhof Libeň, wo Sonderzüge auf die Flüchtlinge aus der DDR warten. Die Leute werden aufgeteilt: Die vordere Zughälfte soll in nördliche Bundesländer fahren, die hintere Hälfte in den Süden. Die Kittlers wählen den Zugteil gen Norden, sie stammen ja auch aus dem Norden der DDR. Hannover soll der erste Heimatort im Westen heißen.
Die Reise endet in einer niedersächsischen Schulturnhalle, die zum Aufnahmelager umfunktioniert ist. Am Abend kommt Katja Kittler mit ein paar Männern von der Bundeswehr ins Gespräch, die das Aufnahmelager betreuen. »Einer von denen kannte den Handballtrainer des VfL Oldenburg, Robert Schumann. Als er hörte, dass ich Handball-Nationalspielerin bin, hat er gleich bei Schumann angerufen. Der kam am nächsten Morgen mit seinem Auto und hat uns mit- genommen, schon die zweite Nacht verbrachten wir bei ihm als seine Gäste.« Katja Kittler ist am selben Tag schon beim VfL-Training dabei. Von der Maueröffnung erfährt sie am Frühstückstisch des Trainers, sie weiß nicht, ob sie sich freuen soll.
Tags darauf treten bereits die reichen Bundesligaklubs mit ihr in Kontakt: Walle Bremen und der TV Lützellinden, beide bieten 20 000 DMark, ein Auto und Arbeitsplätze für alle Kittlers. Die ehemalige Rostockerin entscheidet sich für die hessische Provinz. Schon am Sonntag, dem 12. November wird Familie Kittler abgeholt: »Ein schmucker junger Mann chauffierte uns im Mercedes nach Lützellinden«, erinnert sie sich.
Die erste Zeit in Hessen ist schwer. Die Wohnung ist klein, das Training unerwartet hart: »Härter sogar als in Rostock.« Vor allem aber ist die Stimmung in der Mannschaft unerwartet frostig. »Das Team war schon aufgerüstet worden mit starken jugoslawischen und rumänischen Mädchen, dementsprechend kalt war die Atmosphäre, die uns die etablierten Spielerinnen entgegen brachten. Eine jede versuchte nur, den eigenen Marktwert zusteigern.«
Wegen ihres Nationenwechsels ist sie international gesperrt – zu ihrem Glück nur bis 1. November 1990. Als die BRD-Auswahl Ende November 1990 nach Seoul zur WM reist, ist Katja Kittler dabei: Der Traum von der großen weiten Welt wird wahr. »Wir wohnten in einem Hochhaus, vor unseren Fenster war ein Vergnügungspark, die Achterbahn fuhr fast durch mein Zimmer, es war großartig.«
Bei der WM spielt tatsächlich noch eine DDR-Mannschaft mit. Das Land gibt es nicht mehr, seine Auswahl aber ist qualifiziert. Im Spiel um Platz drei kommt es tatsächlich zum Duell DHV (DDR) gegen DHB (BRD). Ex-Trainer und Ex-Kolleginnen begegnen ihr reserviert. Katja Kittler sitzt auf eigenen Wunsch nur auf der Tribüne, als die DDR-Mannschaft 25:19 gewinnt. »Im Stillen hab ich mich aber für die Mädchen aus dem Osten gefreut.«
Mit Lützellinden gewinnt sie 1991 den Europapokal, 1993 den Meistertitel, doch weil ihr Verein bald pleite ist, geht sie nach Frankfurt/Oder. Katja Kittler ist erst 27, als sie dort die Karriere früh beendet. Den Entschluss dazu fällt sie auf dem Hallenparkett: »Ich war nicht im Kader für Olympia in Atlanta, der Trainer hatte nach früheren Verdiensten und nicht nach Leistungsstand nominiert. Im Verein hatte ich eine starke Kollegin auf meiner Position: Es nervte. Mitten im Spiel begriff ich, dass ich nicht mehr will. Ich ließ mich auswechseln und ging in die Kabine. Ich nahm einfach meine Sachen und fuhr nach Hause.« Es ist ihr letztes Spiel. Nach dem Karriereende studiert sie Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der HdK Berlin.
Heute lebt sie in Hamburg und arbeitet in der PR-Abteilung eines Bauunternehmens. Handball hat sie nie wieder gespielt. Vom Sport bleibt ihr nicht viel mehr als der Eintrag in die Geschichtsbücher: Sie ist die einzige Frau, die in drei Nationalmannschaften spielte: Für den DHV in der DDR, für den DHB der alten BRD und die gesamtdeutsche Auswahl.