Jegor Ligatschow, Gegenspieler
Er galt als zweiter Mann der Perestroika. Bis er zum konservativen Schreckbild wurde.
Aus der Sicht Jegor Ligatschows ist neben ihm wohl nur der sowjetische Langzeit-Außenminister Andrej Gromyko in einer Personalfrage übler dran. Der hatte 1985 im damals noch allmächtigen Politbüro nach dem Tode des schon bei Amtsantritt siechen Andrej Tschernenko den dynamischen Michail Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU vorgeschlagen. 1989 schwor er jedoch laut Erinnerungen seines Sohnes mit den Worten ab: »Die Generalsmütze passt nicht für den Mischka.« Der frühere Vertraute des Parteichefs zeigte Mitgefühl und nannte es » bitter, sich in der Person Gorbatschows so getäuscht zu haben«.
Der Sibirjak aus Tomsk begann selbst als Umgestalter, und er bekennt bitter und betroffen eine eigene Schuld. Ligatschow war es, der einst Boris Jelzin für das ZK-Sekretariat und das Politbüro vorgeschlagen hatte. Legendär und zum geflügelten Wort wurde später sein Ausruf auf der XIX. Parteikonferenz 1988: »Boris, du hast nicht recht!« Er verfüge über keine schöpferische, sondern eine zerstörerische Energie. »Diese Worte erwiesen sich als zutreffende Prophezeiung. Ich wäre sehr froh, wenn ich mich hier geirrt hätte«, schrieb er später.
Seine eigenen Verdienste als säubernder und verjüngender Kaderchef sind vergessen. Unter »Trotzkismus«Verdacht und laut Selbstzeugnis noch tätig unter Stalin, gefördert durch Leonid Breshnew und Juri Andropow, war Ligatschow unter dem frühen Gorbatschow dessen zweiter Mann der Perestroika. Er wurde wie sein Dienstherr zuvor Landwirtschaftssekretär, galt als Reformer, asketisch, unbestechlich, konsequent.
Das Michail Gorbatschow mit viel Spott und Häme angelastete »Trockene Gesetz« und der einmal mehr in Russlands Geschichte erfolglose Kampf gegen den Alkohol, bei dem vor allem alte Weinberge erfolgreich umgepflügt wurden, geht allerdings auf ihn zurück. Hier könnte einmal mehr das geflügelte Wort des späteren Premiers Viktor Tschernomyrdin gelten: »Wir wollten es besser machen, aber es kam wie immer.«
Der Mut zu unpopulären Standpunkten hat Jegor Kusmitsch aber nie verlassen. So setzt er bis heute auf den Sieg des Sozialismus. Er zeigt auch als inzwischen 94-Jähriger, der 1944 und damit genau vor 50 Jahren in die Kommunistische Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) eintrat, nicht die landläufig von seinesgleichen stets noch eingeforderte und nicht selten bekannte Reue.
Wie einst Nina Andrejewa, Hochschullehrerin aus Leningrad mit ihrem »Leserbrief« 1988 in der »Sowjetskaja Rossija«, mag auch Jegor Ligatschow bis heute »seine Prinzipien nicht preisgeben«. Als Ideologiesekretär im Politbüro hatte er im März 1988 einer Runde von Chefredakteuren diesen Beitrag absichtsvoll »empfohlen«. Das war ein Hinweis, der bis Berlin reichte und dort ebenfalls für Aufregung sorgte. Schließlich ging es um ein politisches Manifest. Nicht nur der Westen machte sich nach dem Lesen Sorgen um Gorbatschow und seine Perestroika.
Schreiberin und Förderer galten spätestens seitdem als die »Konservativen« und »Bremser«, als die »Rechten«. Das politische Links-Mitte-Rechts-Schema hatte da schon eine verblüffende Veränderung durchgemacht. Entschiedene Befürworter der Marktwirtschaft und des Parlamentarismus gerieten zu Linken, die ihren Kritikern zu sacht reformierende oder zu weit vorprellende integrierende Mitte blieb am Ort, während sich die Wahrer der marxis- tisch-leninistischen Lehre und der Avantgarderolle der Partei auf den rechten Flügel verpflanzt sahen. So geriet Gorbatschow ins Zentrum, seine einst zuverlässigen und tatkräftigen Mitstreiter Boris Jelzin und Jegor Ligatschow landeten auf zutiefst verfeindeten Flügeln und betrieben jeder erbittert den Sturz des anderen.
Der Moskauer Parteichef Jelzin verlor 1987 mit Schimpf dieses und weitere Ämter, erholte sich aber als Reformer und parteiloser Antikommunist. 1990 kam es zu dem, was heute so gern als Showdown bezeichnet wird. Die Entscheidung im Machtkampf beider Lager fand im Juli standesgemäß im Großen Kongresspalast des Kreml auf dem 28. KPdSU-Parteitag statt. Politbüromitglied und Landwirtschaftssekretär Li- gatschow erntete einigen Beifall für sein Plädoyer für den sozialistischen Aufbau und die KPdSU, wollte nicht als Konservativer und Feind der Perestroika abgestempelt werden, wehrte sich ausdrücklich gegen »schmutzige Verleumdungen« und »Intrigen«. Weder habe er eine Bindung zu Konservativen noch zu Radikalen, er sei »einfach Realist«.
Doch der 70-jährige Jegor Ligatschow war raus. Er fiel bei der Wahl zum Stellvertretenden Generalsekretär mit 776 Ja- und 3642 Neinstimmen durch und flog aus Politbüro und Sekretariat. Wenn er auch von 1999 bis 2003 noch einmal als Abgeordneter der russischen KP in die Staatsduma und die Politik zurückkehrte, war der gelernte Flugzeugingenieur doch schon eine Figur der Geschichte.
Die Sowjetunion stehe am Rande des Chaos, warnte Ligatschow. Derweil kündete Jelzin als Kassandra das Ende der Perestroika an. Beide sollten Recht behalten. Die Perestroika, so Ligatschow »verlor ihre demokratische Ausrichtung und fand ihr Ende in einem konterrevolutionären Staatsstreich, in der Zerstörung der Sowjetmacht und der Zerstückelung der Sowjetunion«. Nach 1991 habe dann schon ein anderer Abschnitt der Geschichte Russlands begonnen: die Restaurierung des Kapitalismus.
Zeit genug für Analyse und Abrechnung. Wer am ersten Maisonntag des Jahres 1992 den Moskauer Gorkipark besuchte, konnte dort schon von Ferne die Stimme des kämpferischen Altkaders Ligatschow hören. Dort machte er vor Besuchern des Festivals zum 80. Jahrestag der noch von Lenin gegründeten Parteizeitung »Prawda« mobil. Die Veränderungen in der einstigen Sowjetunion nannte er eine »wirkliche Konterrevolution« und rief Arbeiter, Bauern und Angehörige der Intelligenz auf, sich dagegen im Kampf zu vereinen.
Die Bezeichnung Revolutionär hätte er sicher gelten lassen. Ein Putschist gewesen zu sein, wies er ein paar Monate später aber zurück. »Dokumente« sollten belegen, dass Ligatschow im August 1990 an den Platz Gorbatschows hätte treten sollen. Das Dementi ist glaubhaft. Schon wegen des Hinweises, dass er »in den vergangenen Monaten keinerlei Kontakt« zu den zeitweiligen Machthabern gehabt habe. Der »Skandal« versickert, und warum auch hätte ein potentieller Nutznießer zwangsläufig beteiligt gewesen sein müssen?
Es hätte sich natürlich politisch gut gemacht, den Altkader in der Schusslinie zu haben. Zum Schreckbild taugt er freilich weiter, und sei es für die literarische Fiktion »Die Mauer steht am Rhein«. Da putscht sich »der Stalinist« an die Macht und die deutsche Wiedervereinigung läuft genau anders herum. »Gott sei Dank nur ein Albtraum«, stöhnte Pfarrer Rainer Eppelmann. »Aber was für einer!«
Ligatschow beantwortet in seinem Buch »Wer verriet die Sowjetunion?« die Frage, wer die Schuld an all dem Übel trage, das mit der Zerrüttung der Sowjetunion über das Volk hereingebrochen sei: »Gorbatschow.« Knapp zehn Jahre zuvor hatte er dem »RotFuchs.Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland« anvertraut: »In der Person Gorbatschows und der Mehrheit seiner Helfershelfer haben wir es mit typischer politischer Entartung zu tun. Sie haben die Sache verraten, der zu dienen sie berufen waren, und sind letzten Endes auf die Positionen des Antikommunismus, des Antisowjetismus, des Antipatriotismus übergelaufen.« Als Motiv sah er »Drang nach Privateigentum« und meinte Geldgier: »Jetzt sind sie doch alle Dollarmillionäre, und viele sogar Dollarmilliardäre.«