Regine Hildebrandt, Ministerin
Auch 13 Jahre nach ihrem Tod im kollektiven Gedächtnis der Ostdeutschen.
Natürlich ist es Schnee von gestern, darüber nachzudenken: Wäre es mit der DDR anders gelaufen, wenn ein Teil der späteren Bürgerrechtler, die sich 1989 in verschiedenen Bewegungen für eine andere Gesellschaft artikuliert hatten, von SED oder Blockparteien nicht bewusst über Jahrzehnte in Nischen gedrängt oder zurückgelassen wurden?
Freilich kann keiner sagen, ob sie sich überhaupt hätten engagieren wollen für ein Land, dessen Führung mit kritischen Geistern oft eben nicht zimperlich umgegangen ist. Und gewiss wären die meisten derer, die vor exakt 25 Jahren trotz vieler negativer Erfahrungen zunächst für eine bessere DDR gestritten haben, im real existierenden Sozialismus regelmäßig tüchtig angeeckt. Die Frage aber, warum ihre Kraft und Kreativität, die sie oft nach dem berühmten Wendeherbst unter Beweis gestellt haben, nie abgerufen wurde in der kleinen, eigentlich Zeit ihrer Existenz hilfebedürftigen deutschen Republik, muss auch ein Vierteljahrhundert nach ihrem Untergang erlaubt sein.
Denken wir an Harald Ringstorff, den Chemiker im DDR-Kombinat Schiffbau, der später zehn Jahre lang Ministerpräsident in MecklenburgVorpommern war. Oder an Reinhard Höppner, den Mathematiker und Kirchenmann, der zwischen 1994 und 2002 als Regierungschef die Geschicke des Landes Sachsen-Anhalt lenkte. Und denken wir vor allem an Regine Hildebrandt, die Frau, die auch 13 Jahre nach ihrem Tod nicht aus dem kollektiven Gedächtnis der Ostdeutschen verschwunden ist – und ebenso wie die beiden vor ihr genannten Männer über die Ost-SPD und 1990 über die anders als Jahrzehnte zuvor gewählte letzte DDRVolkskammer in die Politik kam.
Dabei hatte Regine Hildebrandt alles, um schon in der DDR eine Bilderbuchkarriere hinzulegen: berufstätig, drei Kinder, Biologiestudium, Frauenförderplan – und ausgestattet mit einer besonderen Art schnoddriger Volksverbundenheit.
All das aber ist offensichtlich erst Ende 1989 aufgefallen. Die damals fast 50-Jährige war über den kurzen Zwischenstopp bei »Demokratie Jetzt« zur Sozialdemokratie gestoßen und bekam nur Wochen nach der Wahl ins letzte DDR-Parlament von April bis August 1990 als Ministerin für Arbeit und Soziales im Kabinett von CDU-Ministerpräsident Lothar de Maizière den wohl schwierigsten Part ministerieller Verantwortung übergeholfen. De Maizière, so wird kolportiert, war in der kurzen Zeit seiner Regentschaft bisweilen allerdings genervt von Hildebrandts Temperament und ihrer Ungeduld.
Das muss seinem CDU-Parteifreund, der Hildebrandts Amtsbruder im anderen deutschen Staat war, völlig anders gegangen sein. Als die DDRMinisterin am 20. April 1990 zu ihrer ersten Visite in Bonn aufschlug, zeigte Norbert Blüm sich jedenfalls nicht nur in üblicher bundesdeutscher Jovialität, sondern war geradezu entzückt von der quicklebendigen Frau, die sich vor den für sie noch ungewohnten zahlreichen Kameras nicht scheute, ihre Sorge um die hohe Arbeitslosigkeit daheim und ihre Erwartungen an die Hilfe der großen Brüder und Schwestern zu offenbaren. Auch später hat Blüm im Unterschied zu seinem Kanzler Helmut Kohl – der sprach einmal gar verächtlich von der »Dame mit dem Geschrei einer Barrikadenkämpferin« – aus seinem Faible für ihre Authentizität nie ein Hehl gemacht und Hildebrandts Unverwechselbarkeit und Einmaligkeit gewürdigt.
Was ihn freilich nicht davon abhielt, sie in der Hitze des politischen Alltagsgeschäftes 1998 wegen der Arbeitsmarktförderung der Landesregierung Brandenburg, in der Hildebrandt vom Herbst 1990 bis 1999 für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen zuständig war, öffentlich zu rügen. Selbstredend schlug die inzwischen auch im Westen als »Mutter Courage« geltende Frau in der ihr eigenen Art zurück und warf dem Bundesminister ihrerseits einen Zickzack-Kurs bei ABM vor.
Die Zeit ist über diesen Streit wie über die meisten der so genannten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Osten hinweggegangen, für deren Erhalt die Potsdamer Ministerin dereinst gefühlt einmal wöchentlich ihre alarmierenden Signaltöne in die Welt geschickt hatte. Über ganze Ewigkeiten waren in den 1990er Jahren Hunderttausende im Osten des einig Vaterlandes von Beschäftigungsgesellschaften abhängig. Wurden in zum Teil sinnentleerten Projekten geparkt, nur um nicht die ohnehin katastrophalen Arbeitslosenzahlen in den neuen Ländern noch schlimmer aussehen zu lassen. War das öffentliche Geld alle, wurden sie erbar- mungslos nach Hause geschickt; kamen neue Zuweisungen aus Bonn oder von der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit bzw. waren Wahlzeiten, sprossen in Neufünfland ABMProjekte wie Pilze aus dem Boden.
Dieses Auf und Ab war selbst der impulsiven Regine Hildebrandt zu viel – zu ernst nahm sie die Verantwortung für ihre Landeskinder, zu groß war ihre Sorge um deren Zukunft. Das ließ die resolute Frau mitunter auch zu ungewöhnlichen Maßnahmen greifen. 1997 ermittelte gar die Staatsanwaltschaft Potsdam ge- gen verschiedene Mitarbeiter des Arbeits- und Sozialministeriums, weil dessen Chefin die Losung ausgegeben hatte, »bis an den Rand der Legalität« bei der Vergabe von Fördermitteln zu gehen. Die Vorwürfe der Haushaltsuntreue und des illegalen Parkens von Geldern endete schließlich in Freisprüchen und Ermittlungseinstellungen – und einer Rüge vom Landtag für die Ministerin.
Ob Hildebrandt der parlamentarische Rüffel wirklich zu schaffen machte, darf bezweifelt werden. Ganz im Unterschied zu einem Konflikt mit ihren Genossen in einer anderen Angelegenheit. Auf die Entscheidung der SPD, nach Verlust der absoluten Mehrheit in Brandenburg eine Große Koalition mit der CDU einzugehen, reagierte sie 1999 sauer. »Regine Hildebrandt hielt mich wohl nicht für ganz so pragmatisch, wie ich am Ende gewesen bin«, erklärte ihr langjähriger enger Mitstreiter und Chef, der SPD-Ministerpräsident Manfred Stolpe im nd-Interview Anfang 2001 mit Blick auf den postwendenden Rücktritt seiner Sozialministerin. Die hatte sich schlicht und unter mancherlei Beifall geweigert, mit den »Arschlöchern« von der CDU an einem Kabinettstisch Platz zu nehmen und zog persönlich die Notbremse.
Dass sie zu diesem Zeitpunkt schon an Brustkrebs erkrankt war, hat sie ebenso wie die Gründe für ihren Rückzug aus der Politik nicht verschwiegen. Schließlich hatte die Frau zehn Jahre in der Öffentlichkeit gelebt und – neben ihrer Vorliebe für Frankfurter Kranz, das Leben im Mehrgenerationenhaus in Woltersdorf bei Berlin samt Neigung zu familiären Chören – auch im Falle der neuen Regierungsbildung aus ihrem Herzen keine Mördergrube gemacht. Ja, sie favorisierte eine Koalition mit der PDS, was zu Ende der 90er Jahre noch ein größerer Tabubruch war als zehn Jahre später in Brandenburg oder anno 2014 in Thüringen. Und nein, sie konnte sich damit in der SPD nicht durchsetzen. »Wenn sie einmal Nein sagt, bleibt es dabei«, resümierte Stolpe im »neuen deutschland«. Und das klang ein wenig bedauernd und anerkennend zugleich.
Ob Regine Hildebrandt die – zugegeben in der Mark nicht ganz so heftig wie anderswo – in weiten Teilen der SPD verhasste SED-Nachfolgerin wirklich milder betrachtete als manche ihrer Genossen, bleibt dahingestellt. Sie, die noch Tage vor ihrem Tode im November 2001 erneut, und zwar mit den meisten Stimmen, in den Bundesvorstand der SPD gewählt worden war, übte aber im Umgang mit der PDS mit den Jahren immer deutlicher ihren eigenen, durchaus pragmatischen Stil.
Das erfuhr die Arbeits- und Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern, Martina Bunge, hautnah. Die am 3. November 1998 im Schweriner Schloss ernannte PDS-Politikerin hatte nach dem Vorstellungsprocedere im künftigen Ministerium schon am 4. 11. den Besuch bei der Arbeitsministerkonferenz in Mainz zu absolvieren. »Im Glaspavillon saßen alle Länderminister und ihre Referenten, als ich dazu kam. Manche waren gespannt, manche haben genickt, andere abrupt weggeguckt. Nur Regine Hildebrandt reckte die Arme hoch und winkte mit beiden Händen«, erinnert sich Bunge noch heute durchaus dankbar. Abends, beim üblichen Zusammensein, habe die Amtskollegin aus Brandenburg »die Neue« heran gewunken und zum Thema Ostrenten befragt, um in der westdominierten Runde auf dieses wichtige Thema aufmerksam zu machen. Bunge hat das damals als sehr hilfreich empfunden, zumal sie als langjährige Rentenexpertin der PDS durchaus auskunftsfähig war. »Das müssen wir noch einmal diskutieren«, hat Hildebrandt in die Runde geworfen – und die PDS-Ministerin aus dem Nordosten war aufgenommen in den Kreis ihrer Amtskollegen.
Viel ist über Regine Hildebrandt zu Lebzeiten und danach geschrieben worden. Ihre Volksverbundenheit, ihr Humor, ihr mangelndes diplomatisches Talent werden bis heute gern nacherzählt, wenn es um den Weg der Ostdeutschen in die Einheit geht. Einige Wendungen von ihr gelten heute sogar fast als Aphorismen. Preise und soziale Einrichtungen tragen ihren Namen. Nur zwölf Jahre politischer Aktivität haben gereicht, um sie zu so etwas wie einer Legende zu machen.
Dass Hildebrandt in Sachen Arbeitsmarkt-, Sozial-, Gesundheits- und Frauenpolitik nicht immer nur glücklich agierte oder durchgängig erfolgreich war – man denke nur an das von ihr 1994 in Brandenburg mit viel Beifall eingeführte »Begrüßungsgeld« für Neugeborene, das später aus finanziellen Gründen sang- und klanglos wieder verschwand –, tut ihrem Nimbus keinen Abbruch. Nicht, weil die Menschen sich längst daran gewöhnt haben, dass Politiker stets viel versprechen und nicht ganz so viel halten. Regine Hildebrandt behielt den guten Ruf vor allem, weil sie ihren Wählern immer wieder die Gewissheit vermitteln konnte, sich nicht allzu weit von ihnen zu entfernen. In ungewissen Zeiten ist das schon eine ganze Menge. Und bis heute längst nicht die Norm.
Regine Hildebrandt behielt den guten Ruf vor allem, weil sie ihren Wählern immer wieder die Gewissheit vermitteln konnte, sich nicht allzu weit von ihnen zu entfernen.