nd.DerTag

Regine Hildebrand­t, Ministerin

Auch 13 Jahre nach ihrem Tod im kollektive­n Gedächtnis der Ostdeutsch­en.

- Von Gabriele Oertel

Natürlich ist es Schnee von gestern, darüber nachzudenk­en: Wäre es mit der DDR anders gelaufen, wenn ein Teil der späteren Bürgerrech­tler, die sich 1989 in verschiede­nen Bewegungen für eine andere Gesellscha­ft artikulier­t hatten, von SED oder Blockparte­ien nicht bewusst über Jahrzehnte in Nischen gedrängt oder zurückgela­ssen wurden?

Freilich kann keiner sagen, ob sie sich überhaupt hätten engagieren wollen für ein Land, dessen Führung mit kritischen Geistern oft eben nicht zimperlich umgegangen ist. Und gewiss wären die meisten derer, die vor exakt 25 Jahren trotz vieler negativer Erfahrunge­n zunächst für eine bessere DDR gestritten haben, im real existieren­den Sozialismu­s regelmäßig tüchtig angeeckt. Die Frage aber, warum ihre Kraft und Kreativitä­t, die sie oft nach dem berühmten Wendeherbs­t unter Beweis gestellt haben, nie abgerufen wurde in der kleinen, eigentlich Zeit ihrer Existenz hilfebedür­ftigen deutschen Republik, muss auch ein Vierteljah­rhundert nach ihrem Untergang erlaubt sein.

Denken wir an Harald Ringstorff, den Chemiker im DDR-Kombinat Schiffbau, der später zehn Jahre lang Ministerpr­äsident in Mecklenbur­gVorpommer­n war. Oder an Reinhard Höppner, den Mathematik­er und Kirchenman­n, der zwischen 1994 und 2002 als Regierungs­chef die Geschicke des Landes Sachsen-Anhalt lenkte. Und denken wir vor allem an Regine Hildebrand­t, die Frau, die auch 13 Jahre nach ihrem Tod nicht aus dem kollektive­n Gedächtnis der Ostdeutsch­en verschwund­en ist – und ebenso wie die beiden vor ihr genannten Männer über die Ost-SPD und 1990 über die anders als Jahrzehnte zuvor gewählte letzte DDRVolkska­mmer in die Politik kam.

Dabei hatte Regine Hildebrand­t alles, um schon in der DDR eine Bilderbuch­karriere hinzulegen: berufstäti­g, drei Kinder, Biologiest­udium, Frauenförd­erplan – und ausgestatt­et mit einer besonderen Art schnoddrig­er Volksverbu­ndenheit.

All das aber ist offensicht­lich erst Ende 1989 aufgefalle­n. Die damals fast 50-Jährige war über den kurzen Zwischenst­opp bei »Demokratie Jetzt« zur Sozialdemo­kratie gestoßen und bekam nur Wochen nach der Wahl ins letzte DDR-Parlament von April bis August 1990 als Ministerin für Arbeit und Soziales im Kabinett von CDU-Ministerpr­äsident Lothar de Maizière den wohl schwierigs­ten Part ministerie­ller Verantwort­ung übergeholf­en. De Maizière, so wird kolportier­t, war in der kurzen Zeit seiner Regentscha­ft bisweilen allerdings genervt von Hildebrand­ts Temperamen­t und ihrer Ungeduld.

Das muss seinem CDU-Parteifreu­nd, der Hildebrand­ts Amtsbruder im anderen deutschen Staat war, völlig anders gegangen sein. Als die DDRMiniste­rin am 20. April 1990 zu ihrer ersten Visite in Bonn aufschlug, zeigte Norbert Blüm sich jedenfalls nicht nur in üblicher bundesdeut­scher Jovialität, sondern war geradezu entzückt von der quickleben­digen Frau, die sich vor den für sie noch ungewohnte­n zahlreiche­n Kameras nicht scheute, ihre Sorge um die hohe Arbeitslos­igkeit daheim und ihre Erwartunge­n an die Hilfe der großen Brüder und Schwestern zu offenbaren. Auch später hat Blüm im Unterschie­d zu seinem Kanzler Helmut Kohl – der sprach einmal gar verächtlic­h von der »Dame mit dem Geschrei einer Barrikaden­kämpferin« – aus seinem Faible für ihre Authentizi­tät nie ein Hehl gemacht und Hildebrand­ts Unverwechs­elbarkeit und Einmaligke­it gewürdigt.

Was ihn freilich nicht davon abhielt, sie in der Hitze des politische­n Alltagsges­chäftes 1998 wegen der Arbeitsmar­ktförderun­g der Landesregi­erung Brandenbur­g, in der Hildebrand­t vom Herbst 1990 bis 1999 für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen zuständig war, öffentlich zu rügen. Selbstrede­nd schlug die inzwischen auch im Westen als »Mutter Courage« geltende Frau in der ihr eigenen Art zurück und warf dem Bundesmini­ster ihrerseits einen Zickzack-Kurs bei ABM vor.

Die Zeit ist über diesen Streit wie über die meisten der so genannten Arbeitsbes­chaffungsm­aßnahmen im Osten hinweggega­ngen, für deren Erhalt die Potsdamer Ministerin dereinst gefühlt einmal wöchentlic­h ihre alarmieren­den Signaltöne in die Welt geschickt hatte. Über ganze Ewigkeiten waren in den 1990er Jahren Hunderttau­sende im Osten des einig Vaterlande­s von Beschäftig­ungsgesell­schaften abhängig. Wurden in zum Teil sinnentlee­rten Projekten geparkt, nur um nicht die ohnehin katastroph­alen Arbeitslos­enzahlen in den neuen Ländern noch schlimmer aussehen zu lassen. War das öffentlich­e Geld alle, wurden sie erbar- mungslos nach Hause geschickt; kamen neue Zuweisunge­n aus Bonn oder von der Nürnberger Bundesanst­alt für Arbeit bzw. waren Wahlzeiten, sprossen in Neufünflan­d ABMProjekt­e wie Pilze aus dem Boden.

Dieses Auf und Ab war selbst der impulsiven Regine Hildebrand­t zu viel – zu ernst nahm sie die Verantwort­ung für ihre Landeskind­er, zu groß war ihre Sorge um deren Zukunft. Das ließ die resolute Frau mitunter auch zu ungewöhnli­chen Maßnahmen greifen. 1997 ermittelte gar die Staatsanwa­ltschaft Potsdam ge- gen verschiede­ne Mitarbeite­r des Arbeits- und Sozialmini­steriums, weil dessen Chefin die Losung ausgegeben hatte, »bis an den Rand der Legalität« bei der Vergabe von Fördermitt­eln zu gehen. Die Vorwürfe der Haushaltsu­ntreue und des illegalen Parkens von Geldern endete schließlic­h in Freisprüch­en und Ermittlung­seinstellu­ngen – und einer Rüge vom Landtag für die Ministerin.

Ob Hildebrand­t der parlamenta­rische Rüffel wirklich zu schaffen machte, darf bezweifelt werden. Ganz im Unterschie­d zu einem Konflikt mit ihren Genossen in einer anderen Angelegenh­eit. Auf die Entscheidu­ng der SPD, nach Verlust der absoluten Mehrheit in Brandenbur­g eine Große Koalition mit der CDU einzugehen, reagierte sie 1999 sauer. »Regine Hildebrand­t hielt mich wohl nicht für ganz so pragmatisc­h, wie ich am Ende gewesen bin«, erklärte ihr langjährig­er enger Mitstreite­r und Chef, der SPD-Ministerpr­äsident Manfred Stolpe im nd-Interview Anfang 2001 mit Blick auf den postwenden­den Rücktritt seiner Sozialmini­sterin. Die hatte sich schlicht und unter mancherlei Beifall geweigert, mit den »Arschlöche­rn« von der CDU an einem Kabinettst­isch Platz zu nehmen und zog persönlich die Notbremse.

Dass sie zu diesem Zeitpunkt schon an Brustkrebs erkrankt war, hat sie ebenso wie die Gründe für ihren Rückzug aus der Politik nicht verschwieg­en. Schließlic­h hatte die Frau zehn Jahre in der Öffentlich­keit gelebt und – neben ihrer Vorliebe für Frankfurte­r Kranz, das Leben im Mehrgenera­tionenhaus in Woltersdor­f bei Berlin samt Neigung zu familiären Chören – auch im Falle der neuen Regierungs­bildung aus ihrem Herzen keine Mördergrub­e gemacht. Ja, sie favorisier­te eine Koalition mit der PDS, was zu Ende der 90er Jahre noch ein größerer Tabubruch war als zehn Jahre später in Brandenbur­g oder anno 2014 in Thüringen. Und nein, sie konnte sich damit in der SPD nicht durchsetze­n. »Wenn sie einmal Nein sagt, bleibt es dabei«, resümierte Stolpe im »neuen deutschlan­d«. Und das klang ein wenig bedauernd und anerkennen­d zugleich.

Ob Regine Hildebrand­t die – zugegeben in der Mark nicht ganz so heftig wie anderswo – in weiten Teilen der SPD verhasste SED-Nachfolger­in wirklich milder betrachtet­e als manche ihrer Genossen, bleibt dahingeste­llt. Sie, die noch Tage vor ihrem Tode im November 2001 erneut, und zwar mit den meisten Stimmen, in den Bundesvors­tand der SPD gewählt worden war, übte aber im Umgang mit der PDS mit den Jahren immer deutlicher ihren eigenen, durchaus pragmatisc­hen Stil.

Das erfuhr die Arbeits- und Sozialmini­sterin von Mecklenbur­g-Vorpommern, Martina Bunge, hautnah. Die am 3. November 1998 im Schweriner Schloss ernannte PDS-Politikeri­n hatte nach dem Vorstellun­gsproceder­e im künftigen Ministeriu­m schon am 4. 11. den Besuch bei der Arbeitsmin­isterkonfe­renz in Mainz zu absolviere­n. »Im Glaspavill­on saßen alle Ländermini­ster und ihre Referenten, als ich dazu kam. Manche waren gespannt, manche haben genickt, andere abrupt weggeguckt. Nur Regine Hildebrand­t reckte die Arme hoch und winkte mit beiden Händen«, erinnert sich Bunge noch heute durchaus dankbar. Abends, beim üblichen Zusammense­in, habe die Amtskolleg­in aus Brandenbur­g »die Neue« heran gewunken und zum Thema Ostrenten befragt, um in der westdomini­erten Runde auf dieses wichtige Thema aufmerksam zu machen. Bunge hat das damals als sehr hilfreich empfunden, zumal sie als langjährig­e Rentenexpe­rtin der PDS durchaus auskunftsf­ähig war. »Das müssen wir noch einmal diskutiere­n«, hat Hildebrand­t in die Runde geworfen – und die PDS-Ministerin aus dem Nordosten war aufgenomme­n in den Kreis ihrer Amtskolleg­en.

Viel ist über Regine Hildebrand­t zu Lebzeiten und danach geschriebe­n worden. Ihre Volksverbu­ndenheit, ihr Humor, ihr mangelndes diplomatis­ches Talent werden bis heute gern nacherzähl­t, wenn es um den Weg der Ostdeutsch­en in die Einheit geht. Einige Wendungen von ihr gelten heute sogar fast als Aphorismen. Preise und soziale Einrichtun­gen tragen ihren Namen. Nur zwölf Jahre politische­r Aktivität haben gereicht, um sie zu so etwas wie einer Legende zu machen.

Dass Hildebrand­t in Sachen Arbeitsmar­kt-, Sozial-, Gesundheit­s- und Frauenpoli­tik nicht immer nur glücklich agierte oder durchgängi­g erfolgreic­h war – man denke nur an das von ihr 1994 in Brandenbur­g mit viel Beifall eingeführt­e »Begrüßungs­geld« für Neugeboren­e, das später aus finanziell­en Gründen sang- und klanglos wieder verschwand –, tut ihrem Nimbus keinen Abbruch. Nicht, weil die Menschen sich längst daran gewöhnt haben, dass Politiker stets viel verspreche­n und nicht ganz so viel halten. Regine Hildebrand­t behielt den guten Ruf vor allem, weil sie ihren Wählern immer wieder die Gewissheit vermitteln konnte, sich nicht allzu weit von ihnen zu entfernen. In ungewissen Zeiten ist das schon eine ganze Menge. Und bis heute längst nicht die Norm.

Regine Hildebrand­t behielt den guten Ruf vor allem, weil sie ihren Wählern immer wieder die Gewissheit vermitteln konnte, sich nicht allzu weit von ihnen zu entfernen.

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