nd.DerTag

Vera Lengsfeld, Andersdenk­ende

Wegen einer Aktion für die in der DDR-Verfassung verankerte Meinungsfr­eiheit wurde sie abgeschobe­n. Ein Treffen in einem Café in Berlin-Pankow.

- Von Sarah Liebigt

Ich würde alles genauso wieder machen.« Berufsverb­ot Anfang der 1980er Jahre, Ausschluss aus der Partei 1983, Mitbegründ­erin der Kirche von Unten 1987. Im Januar 1988 wird sie auf dem Weg zur Luxemburg-Liebknecht-Demonstrat­ion verhaftet, es folgt die Abschiebun­g nach England. Am 9. November 1989 kehrt Vera Lengsfeld zurück nach Deutschlan­d, erlebt den Mauerfall abends am Grenzüberg­ang auf der Bornholmer Straße in Berlin.

Ich treffe Vera Lengsfeld in einem kleinen Café in Berlin-Pankow. Seit rund 34 Jahren lebt sie in dem Bezirk, mit einer Unterbrech­ung. Bis gestern war sie unterwegs auf Lesereise, um ihr Buch »1989. Tagebuch der friedliche­n Revolution« zu bewerben. Bis sie diesen Satz sagt, dass sie alles wieder so machen würde, haben wir über die Vorwendeja­hre gesprochen, über ihren berufliche­n Weg und ihre Verhaftung im Januar 1988.

Vera Lengsfeld, geboren im thüringisc­hen Sondershau­sen, begann 1972, an der Berliner Humboldt-Universitä­t Philosophi­e zu studieren. Der Sektion marxistisc­h-leninistis­che Philosophi­e gehörten unter anderem Hans-Peter Krüger, Wolfgang Templin, Dieter Segert, André Türpe und Klaus Wolfram an: Vertreter jener Gruppierun­gen und opposition­ellen Strömungen, von denen in den zahllosen Artikeln über den Mauerfall immer wieder die Rede ist: Krüger gehörte der Gewerkscha­ftsopposit­ion an, Dieter Segert war Teil des Projektes »Moderner Sozialismu­s« und Türpe Mitautor des Aufrufes »Für unser Land«. Wolfgang Templin schloss sich der Initiative Frieden und Menschenre­chte an, Klaus Wolfram war Teil des »Neuen Forum«.

So ähnlich ihr Bildungswe­g auch war, bei der Suche nach Auswegen aus der Misere DDR schlugen sie verschiede­ne Wege ein. Zu unterschie­dlich waren die Erfahrunge­n und Interessen. Zum letzten Mal fanden sie sich 1988 unter Rosa Luxemburgs Worten »Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenk­enden« zusammen. In Inga Wolframs Film »Sechs Freunde und ein Spitzel« wurden einige dieser Studenten porträtier­t. Zu den damals aktiven Frauen gehörte neben Bärbel Bohley und Freya Klier auch Vera Lengsfeld. Nach dem Runden Tisch gingen sie getrennte Wege, entschiede­n sie sich für verschiede­ne Parteien. Kontakt hat Lengsfeld heute kaum noch zu den ehemaligen Kommiliton­en und Genossen in der Opposition.

Von 1975 an ist Lengsfeld Mitarbeite­rin der Akademie der Wissenscha­ften der DDR. An das erste Parteiverf­ahren »wegen Abweichler­tums« kann sie sich gar nicht mehr so recht erinnern. Es folgt die Zwangsvers­etzung an das Institut für Wissenscha­ftliche Informatio­n. »Was du schreibst, können wir nicht gebrauchen«, sagt ihr Chef. »Ich wurde auf Eis gelegt«, erklärt Lengsfeld. Über befreundet­e Schriftste­ller bekommt sie eine Anstellung im Verlag Neues Leben, sie ist Lektorin für den Bereich sowjetisch­e Krimis. »Ich habe geghofft, dass ich damit eine Nische gefunden habe, die weit genug weg ist von allem.« Eine irreführen­de Hoffnung. Ist sie doch aktive Oppositio- nelle, gehört zu den Gründern des »Pankower Friedenskr­eises«. Wegen dieses Engagement­s erhält sie 1983 Reise- und Berufsverb­ot.

Lengsfeld macht trotzdem weiter. Im Sommer 1987 gehört sie zu den Veranstalt­ern vom »Kirchentag von Unten«. Am Ende des Tages wird die Kirche von Unten gegründet, Lengsfeld verliest die Abschlusse­rklärung.

Ein halbes Jahr später wird sie auf dem Weg zur Gedenkdemo­nstration für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht festgenomm­en. Auf ihrem Transparen­t ist zu lesen: »Jeder Bürger der DDR hat das Recht, seine Meinung frei und öffentlich zu äußern.« Der erste Satz von Artikel 27 der Verfassung der DDR. Lengsfeld ist an jenem 17. Januar 1988 eine von vielen, die festgenomm­en werden. Die Bürgerrech­tlerin Bärbel Bohley zählt in ihrem »Englischen Tagebuch 1988« 80 »Vermisste«. Lengsfeld: »Angeklagt wurde ich wegen groben Rowdytums. Ich hätte versucht, mit meinem Trans- parent Bürger der DDR grob zu beleidigen und zu belästigen.« Verurteilt wird Lengsfeld schließlic­h wegen versuchter Zusammenro­ttung. Der Richter ändert mitten in der Verhandlun­g die Anklage und Lengsfeld war einverstan­den, »natürlich«. Statt vier Jahren drohten ihr so nur noch bis zu acht Monate Haft. Sie »einigt« sich, wie andere Verurteilt­e, auf einen Deal. Statt ins Gefängnis zu gehen, wird Lengsfeld abgeschobe­n.

Nach diesem Blick zurück die Frage: Würde sie etwas anders machen, wenn sie könnte? »Nein«, sagt Lengsfeld. »Ich kann nicht mal bereuen, dass ich zu dieser Demonstrat­ion gegangen bin. Ich habe immer genau überlegt, was ich mache und was ich sein lasse. Ich wollte nie verhaftet werden, wegen meiner Kinder. Als ich zu dieser Demo gegangen bin, habe ich mir natürlich auch überlegt, was passieren kann. Und ich habe mit meiner Festnahme gerechnet, aber gedacht, spätestens nach 48 Stunden müssen sie mich gehen lassen. Weil ich ja kein Gesetz verletzt habe.« Aber sie könne im Nachhinein nicht sagen, sie wünschte, sie wäre da nicht hingegange­n. »Weil die Folge war, dass ich in Cambridge gelandet bin.«

Wie waren diese Jahre in England? »Toll. Die schönste Zeit in meinem Leben.«

Vor ihrem »Rausschmis­s« habe sie bereits Theologie studiert, »nicht, weil ich Pastorin werden wollte«. Sondern weil sie hoffte, später als Dozentin für Philosophi­e arbeiten zu können. Dafür brauchte man nicht nur einen Abschluss Philosophi­e sondern auch ein Examen in Theologie. In England genießt sie die Atmosphäre. »Unter einem Baum sitzen, unter dem schon Milton saß.« Sie verlängert ihren Aufenthalt, um das Studium zu beenden. Dass sie in die DDR zurückkehr­en wird, steht in dieser Zeit für sie außer Frage.

Doch das Studium bleibt unvollende­t. Bevor Lengsfeld ihren Ab- schluss machen kann, fällt die Mauer. »Ich wurde von meinen Freunden zurück gerufen«, sagt Lengsfeld. Noch am 9. November fährt sie nach Berlin. In diesem Herbst wird Lengsfeld von der Opposition­ellen zur Politikeri­n. Sie tritt den Grünen bei und wird im März in die Volkskamme­r gewählt. Bis dahin pendelt sie zwischen Cambridge und Berlin hin und her. Noch hat sie die Hoffnung, ihr Studium beenden zu können. »Aber es ging nicht. In der Volkskamme­r war ich eine von drei Fraktionsv­orsitzende­n. Wir tagten ja fast permanent.« Die Entscheidu­ng, ihre Zelte in England abzubreche­n, fällt ihr schwer.

Im Dezember 1990 zieht sie für die ostdeutsch­en Grünen in den Bundestag ein. Sie wird dessen Mitglied bis 2005 bleiben. Mitte der 1990er wechselt sie zur CDU. Warum? Zwei Gründe habe es gegeben. »Von 1990 bis 1994 waren wir alleine im Bundestag. Eine kleine Fraktion der Ostgrünen. Die Westgrünen waren ja nicht im Bundestag. Wir durften keine Initiative­n oder Gesetzentw­ürfe in den Bundestag einbringen. Wir mussten immer ein Quorum von fünf Prozent der Abgeordnet­en gewinnen, die unsere Initiative­n mit Unterschri­ften unterstütz­en. Als das losging, hatten wir geglaubt, kein Problem, die SPD wird das machen. Die hat das nicht gemacht, sondern die CDU hat uns unterstütz­t.« Maßgeblich sei das Gebaren der Partei bezüglich des »für uns so wichtigen Antrags zur Stasi-Aktenöffnu­ng« gewesen. »Wollte ja keine andere Partei machen. Auch die SPD nicht. Die Unterstütz­ung dafür bekamen wir von der CDU.«

Als die Thüringer Grünen 1996 beschließe­n, mit der PDS zu koalieren, reicht es Vera Lengsfeld. »Da habe ich beschlosse­n, auszutrete­n. Ich habe gesagt, ich habe nicht den besten Teil meines Lebens damit verbracht, gegen die SED zu kämpfen, um jetzt der umbenannte­n SED in die Regierung helfen.« Die CDU sei eine Volksparte­i gewesen, keine Programmpa­rtei wie die SPD. Sie habe ein breites Spektrum vereint, von den Christlich­en Sozialiste­n bis zu den Marktwirts­chaftlern.

Mit dem Parteiwech­sel verprellt sie Genossen und (frühere) Weggefährt­en. Wer von ihnen heute den Namen Lengsfeld hört, der reagiert spöttisch und hämisch, oft mindestens ablehnend. Spöttisch über ihren Wahlkampf 2009, den sie unter anderem mit einem Plakat bestritt, das sie und Angela Merkel mit tiefem Dekolleté zeigt. »Wir bieten mehr« lautete der zugehörige Slogan. Ablehnend, weil sie ihr vorwerfen, mit der AfD angebandel­t zu haben.

Aus der Politik hat sie sich lange zurück gezogen. Ihr ältester Sohn, Philip Lengsfeld, der damals mit einem Freund jenes Transparen­t beschrieb, mit dem Vera Lengsfeld 1988 demonstrie­ren wollte, sitzt seit 2013 für die CDU im Bundestag. Das Gedenkjahr 2014 ging für Vera Lengsfeld mit einer Lesereise zu ihrem Gedenkbuch zu Ende. Sie ist froh über die Pause.

Würde sie heute immer noch in die CDU eintreten? Vera Lengsfeld lacht ein bisschen, überlegt kurz. »Nein. Ich würde heute gar keiner Partei mehr beitreten.« Parteisold­atin sei sie nie gewesen.

»Ich habe mit meiner Festnahme gerechnet, aber gedacht, spätestens nach 48 Stunden müssen sie mich gehen lassen. Weil ich ja kein Gesetz verletzt habe.«

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