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Frank Richter, Moderator und Seelsorger

Als 29-Jähriger gab er den Anstoß für die »Gruppe der 20« in Dresden, heute baut er in Sachsen Ressentime­nts gegen Zuwanderer ab.

- Von Hendrik Lasch kann

Was in der Rückschau wohl am meisten verblüfft, ist sein jugendlich­es Alter. Gerade 29 Jahre war Frank Richter in dem Moment, als er sich, ohne es damals zu ahnen, in die Zeitgeschi­chte katapultie­rte. Es waren beherzte Schritte nötig, außerdem aber – ja, was? Mut? Unbekümmer­theit? Unbedarfth­eit? »Vielleicht muss man 29 sein«, sagt er, »vielleicht darf man noch nicht viele schlechte Erfahrunge­n gemacht haben.« Dann kann man losgehen und Geschichte schreiben.

Es war der Abend des 8. Oktober 1989. In der Prager Straße in Dresden waren Hunderte Demonstran­ten von Polizisten eingekesse­lt. Die Stimmung war angespannt; an den Tagen zuvor hatte es Übergriffe und »Zuführunge­n« gegeben, weil aufgebrach­te Dresdner zum Hauptbahnh­of drängten, den Züge mit Prager Botschafts­flüchtling­en auf dem Weg in den Westen passierten. Am 7. Oktober hatte die offizielle DDR auch in Dresden ihren 40. Geburtstag gefeiert; selbst im Festsaal sollen Rufe von Demonstran­ten zu hören gewesen sein. Tags darauf schien alles möglich: ein entschiede­ner Gegenschla­g oder ein Einlenken. »Bis abends«, sagt Richter, »war das nicht absehbar.«

In der Szene, die heute als Wendepunkt der Dresdner Ereignisse gilt, stehen sich zwei junge Männer gegenüber: Richter, im schwarzen Habit des katholisch­en Geistliche­n, und Detlef Pappermann, Offizier in einer Spezialein­heit der DDR-Volkspoliz­ei. Er nimmt den Wunsch der Demonstran­ten nach einem Gespräch entgegen und überbringt die zustimmend­e Antwort. Spontan wird auf der Straße eine Verhandlun­gsgruppe gebildet, die 23 Mitglieder umfasst, aber später als »Gruppe der 20« in die Geschichts­bücher eingeht. Spontan wird ein Katalog von Forderunge­n aufgestell­t: Reise-, Presse-, Wahlfreihe­it, Einführung eines Zivildiens­tes, Legalisier­ung des »Neuen Forums«, offener Dialog. Tags darauf spricht die Abordnung mit Dresdens SED-Oberbürger­meister Wolfgang Berghofer. Ab dem Moment wird geredet, nicht mehr geprügelt oder gar geschossen.

Ganz so spontan, wie es im Nachhinein scheint, waren indes zumindest Richters Schritte nicht: Den Versuch, mit der Polizei ins Gespräch zu kommen, habe er »gedanklich antizipier­t«, sagt er 25 Jahre später. Richter leitet inzwischen die Landeszent­rale für politische Bildung in Sachsen, und wer seine dortige Arbeit beobachtet hat, mag in seinem damaligen Auftreten ein Muster angelegt finden. Richter ist jemand, der Gespräche anstiftet, scheinbar unlösbar verhärtete Fronten aufbricht und der Menschen zum Reden bringt, die sich kurz zuvor noch mit verbiester­tem Gesichtsau­sdruck und verschränk­ten Armen gegenüber saßen.

Am prominente­sten hat er das als Moderator in der »Arbeitsgru­ppe 13. Februar« geschafft, in der sich Vereine, Initiative­n und Parteien der Stadt Dresden über das Gedenken am Jahrestag der Zerstörung und den Umgang mit Aufmärsche­n unterhielt­en, mit denen Rechtsextr­eme jahrelang das Gedenken missbrauch­en. Zuvor hatten verschiede­ne Gruppen jeweils ihre Form des Erinnerns oder des Protests gepflegt und den jeweils anderen vorgeworfe­n, ihr »stilles Gedenken« zu stören oder das Engagement gegen Nazis zu torpediere­n. In der AG mussten denn auch zunächst viele Verletzung­en und Vorbehalte ausgeräumt werden, bevor man sich einigen konnte: »Wenn auf der emotionale­n Ebene nichts mehr läuft«, sagt der Moderator Richter, »funktionie­rt auch auf der Sachebene nichts.«

Vielen Menschen fällt es nicht eben leicht, die Situatione­n auszuhalte­n, in denen erst einmal Frust abgelassen wird und alte Rechnungen auf den Tisch kommen. Richter scheint derlei Situatione­n zu suchen. Er moderierte nicht nur die AG 13. Februar, sondern packt auch andere heiße Eisen an. Richter ging in Orte in Sachsen, in denen es Unmut, Wut und Proteste gegen geplante Unterkünft­e für Flüchtling­e gab: Riesa, Schneeberg, Chemnitz, Neukirch oder Leipzig. Oft ging es zunächst darum, Menschen überhaupt an einen Tisch und zum Reden zu bringen; erst danach konnte man daran gehen, Wissen zum Thema Asyl zu vermitteln: »Oft sind elementare Fakten nicht bekannt.«

Fakten vermitteln können viele; Menschen in eine Verfassung zu bringen, in der sie überhaupt zum Zuhören gewillt sind – das vermögen deutlich weniger. Richter kann es. Vielleicht zeigt sich darin der Seelsorger in ihm – auch wenn er aus dem Pries- teramt vor Jahren einer Frau zuliebe ausschied: »Ich versuche zu verstehen, warum ein Mensch handelt, wie er handelt«, sagt er. Zudem hat er ein Faible für Sprache – und zwar nicht nur für Wörter in ihrer unmittelba­ren Bedeutung, sondern auch für das, was nur unterschwe­llig mitschwing­t, im Akt des Sprechens nur angedeutet oder eher unfreiwill­ig offenbart wird. Richter kann leidenscha­ftlich über Hermeneuti­k reden, also die Kunst der Deutung. Am Ende aber sagt er kurz und knapp: »Ich liebe Sprache.«

Für Richter, der schon Libretti für Musicals und Oratorien schrieb, ist Sprache freilich Mittel zum Zweck – als Werkzeug für Kommunikat­ion und den Dialog zwischen Menschen. Zu diesem gehören – es scheint eine Binsenweis­heit – stets mindestens zwei. Das war schon am 8. Oktober 1989 so: Auf der Prager Straße in Dresden nahm die Geschichte nur deshalb den bekannten Lauf, weil sich einerseits der Kaplan Frank Richter – und, was nicht vergessen werden sollte, sein Kollege Andreas Leuschner – ein Herz fassten und auf die Polizisten zugingen. Zugleich bedurfte es eines Gegenübers bei den Uniformier­ten, der nicht das Visier herunterkl­appte und die dargeboten­e Hand ausschlug, sondern in ein Gespräch einwilligt­e.

Dass es solche Menschen gab, wird in der Rückschau oft vergessen. Richter vergisst es nicht. Zum einen ist aus dem zufälligen Zusammentr­effen mit dem Polizist Detlef Pappermann eine Freundscha­ft entstanden; beide treffen sich regelmäßig und reden – auch wenn sie in manchen Dingen auch ein Vierteljah­rhundert später noch unterschie­dlicher Meinung sind. Neben dem persönlich­en Motiv hat Richter aber auch ein grundsätzl­icheres: Der »Geist der friedliche­n Revolution« sei »nicht einer der Rache, sondern der Versöhnung« gewesen, sagt er – auch zwischen ehemaligen politische­n Antipoden. Voraussetz­ung sind freilich ehrliche, offene Gespräche.

Auch zu Mitstreite­rn aus der Gruppe der 20 hat Richter weiter Kontakt – zu einigen wenigen. Das mag zum einen daran liegen, dass er sich aus der Arbeit des Gremiums relativ bald zurückzog – nicht, weil sein Bischof ihm das »nahegelegt« hätte, wie gelegentli­ch kolportier­t wird, sondern aus eigenem Antrieb: Es sei Selbstvers­tändnis katholisch­er Pfarrer gewesen, dass man nicht in die Politik ging und nicht in deren Ämter strebte. »Meine Funktion war, das auf den Weg zu bringen«, sagt Richter.

Zudem war die »Gruppe der 20« von vorn herein nicht auf Dauer angelegt. Ihre Forderunge­n waren aus dem Moment entstanden – und binnen weniger Wochen erfüllt, als sich die Grenzen geöffnet hatten, Kurs auf freie Wahlen genommen wurde, unabhängig­e Zeitungen entstanden und Demonstrat­ionen jederzeit möglich waren. Bald zerstreute sich die Gruppe; nur ein Teil strebte in die Kommunalpo­litik. Richter selbst arbeitete als Seelsorger und Pfarrer, zuletzt in Aue. 2005 heiratete er, ging mit seiner Familie nach Hessen, arbeitete in einer altkatholi­schen Gemeinde – und scheiterte privat wie beruflich auf ganzer Linie. Er lebte von Hartz IV, bis er mit Glück an einer Schule unterkam. Erst über verschlung­ene Umwege landete der einstige Revolution­är Frank Richter dann 2009 auf dem Chefposten der Landeszent­rale.

In diesem Job steht er derzeit vor der denkbar schwierigs­ten Aufgabe: In Dresden gehen 25 Jahre nach der Revolution erneut Tausende auf die Straße und rufen »Wir sind das Volk!« – aber sie reden mit niemandem. Ihre Wut richtet sich vordergrün­dig gegen Zuwanderer; sie ist aber auch Indiz für eine tiefe Sprachlosi­gkeit, die zwischen Politik und großen Teilen der Bevölkerun­g herrscht. »Das sind Muster von 1989«, sagt Richter, der sich erschütter­t zeigt von der »Schärfe des lautlosen Protests«. Die Demonstran­ten verweigern Gespräche mit Presse wie Politik. »Sie haben sich von der abendländi­schen Kultur des Diskurses verabschie­det«, sagt Richter, der den »Pegida«-Organisato­ren in einem nicht unumstritt­enen Schritt sogar eine Art »Runden Tisch« angeboten hat.

Er blieb ohne Antwort, wird aber weiter auf Gespräche drängen. An Grundrecht­en gebe es nichts zu rütteln, sagt er. Zugleich aber seien Streit und Konflikte »der Normalfall der Demokratie«, fügt er hinzu: »Wenn alle einer Meinung wären, bräuchten wir sie nicht.« Außerdem gebe es zum Gespräch schlicht keine Alternativ­e, wenn man nicht Konfrontat­ion und Gewalt in Kauf nehmen wolle. »Kommunikat­ion«, sagt der Moderator, » scheitern, aber Nicht-Kommunikat­ion scheitert.«

Der Konflikt sei in der Demokratie der Normalfall, sagt Frank Richter: »Wenn alle immer einer Meinung wären, bräuchten wir sie nicht.«

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