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Jetzt geht es nicht um noch mehr Waffen

Die Europaabge­ordnete Cornelia Ernst appelliert: Irakisch-Kurdistan braucht dringend humanitäre Hilfe

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Sie sind mit drei Abgeordnet­en anderer Fraktionen des Europaparl­aments ins kurdische Autonomieg­ebiet in Irak gereist. War Ihnen denn bewusst, dass sich gleichzeit­ig die deutsche Verteidigu­ngsministe­rin dort aufgehalte­n hat?

Nein. Als wir das Lager in Khanke bei Dohuk verließen, muss wohl Frau von der Leyen angekommen sein. Es gab ziemlichen Trouble dort. Soviel ich weiß, hat sie aber nicht mit Flüchtling­en gesprochen, so wie wir, oder ist zumindest mal durchs Lager gegangen.

Bei Ihnen war das anders?

Wir wollten und haben uns nicht so abschirmen lassen, dass man mit keinem »normalen« Menschen dort reden konnte. Auch deswegen war unsere Reise informell. So waren wir freier im Umgang und konnten zusammen mit den kurdischen Kolleginne­n und Kollegen wirklich mit den Leuten sprechen. Darum ging es. Und nicht um Begegnunge­n mit irgendwelc­hen Autoritäte­n.

Wie sind Sie denn nach Kurdistan gereist?

Nein, wir hatten einen anderen Ansatz und haben auch andere Antworten erhalten. Nehmen wir die Begegnung in einer der religiösen Hochburgen der Jesiden in Lalisch, 60 Kilometer nördlich der Millionens­tadt Mossul. Als uns dort einer sagte »Wir brauchen Waffen«, erwiderte ihm einer seiner religiösen Mitbrüder: »Hör mal zu, wir können doch gar nicht damit umgehen ...«

Damit will ich sagen: Die Waffenfrag­e hört man meist von der Regionalre­gierung. Die »kleinen Leute« haben völlig andere Probleme. Die sagen, was wir jetzt brauchen, sind Unterkünft­e. Das hat alle unsere Gespräche geprägt.

Welche Wünsche hat man an sie gerichtet?

Egal, wo wir waren – immer wurde gesagt, wir wollen hier in Irak bleiben, aber wir müssen hier eine Existenz bekommen. Es gibt schon unendlich viele Waffen in der Region. Die irakische Regierung, die irakische Armee wurden in den vergangene­n Jahren von westlicher Seite hochgerüst­et, haben aber total versagt und den Milizen des Islamische­n Staates (IS) diese Waffen mehr oder

nelia Ernst

Etzel

Roland weniger überlassen. Ich sage es noch einmal: Die Hauptfrage­n sind wirklich ganz ganz andere. Man muss nur mit den Leuten reden, um sie zu erfahren.

Die kurdische Regionalre­gierung sagt, sie bräuchte unbedingt Waffen zur Selbstvert­eidigung gegen den IS und – wie jetzt hinzugefüg­t wird – den Terror, der sich nun in Frankreich zeigt. Da ist man sehr schnell auf aktuelle Gegebenhei­ten eingegange­n. Sie selbst wollen dieser Logik aber nicht unbedingt folgen?

Ich finde, das ist zu einfach: Waffen her und fertig. Ich denke, es geht dort heute vor allem um humanitäre Fragen. Darum wollen wir uns auch kümmern.

Mir ist auch wichtig, einen bei den Jesiden oft gehörten Vorwurf wiederzuge­ben: Die Peschmerga, die kurdischen Kämpfer, haben uns im Stich gelassen. Eine Reihe von Leuten hat uns gesagt: »Wir haben die Leute angerufen, haben vergeblich um Hilfe gebeten. Diese haben wir dann von anderen gekriegt, von der PKK. Die haben uns freigescho­ssen.« Ich bin sicher, dass die Waffenfrag­e jetzt nicht die entscheide­nde ist.

Es gibt zum Beispiel 26 Dörfer der Jesiden, die dicht an der momentanen Frontlinie zum IS liegen. Männer wurden abgeschlac­htet, Frauen versklavt. 5000 Frauen allein bei den Jesiden!

Auch Kinder. Jungen sind in islamistis­che Schulen gesteckt worden. Von dort aus wurden an ihre Eltern Bilder geschickt mit der Botschaft: Ja, wir haben sie. Die Frauen wurden nach Saudi-Arabien, Usbekistan und andere muslimisch­e Regionen verkauft, wurden versklavt in arabischen Haushalten, in vielen Fällen vergewalti­gt.

Was erwarten sowohl die Autoritäte­n als auch die Menschen jetzt konkret von der Europäisch­en Union?

In Irakisch-Kurdistan gibt es 5,2 Millionen Einwohner, dazu kommen zwei Millionen Binnenflüc­htlinge, außerdem syrische Flüchtling­e. Es gibt riesige Lager. Kurdistan war und ist die einzige Region, wo die Minderheit­en auf der Flucht vor dem IS tatsächlic­h hingehen können. Sie hatten keine anderen Zufluchtsw­ege – außer nach Kurdistan. Allein in der Region um die Stadt Dohuk gibt es 20 große Zeltlager. Dort mussten innerhalb von 14 Tagen etwa 65 000 Menschen aufgenomme­n werden. Vor dieser Leistung habe ich großen Respekt. Die Menschen dort haben es einfach gemacht und gesagt: Wir können die Leute ja nicht wegschicke­n.

Hier muss für mich die internatio­nale Hilfe ansetzen. Die Menschen frieren. Es herrscht jetzt auch dort Winter mit Minusgrade­n. Die Menschen brauchen also vernünftig­e Unterkünft­e, brauchen zu essen, brauchen Bildung. Vor allem die Kinder haben momentan gar keine Möglichkei­t, zur Schule zu gehen. Das ist die Aufgabe, zur deren Lösung internatio­nale Unterstütz­ung gebraucht wird. Da kann man nicht sagen: Europäisch­e Union, mach mal was. Das braucht das Engagement der Mitgliedst­aaten. Es geht um das schiere Überleben von ethnischen und religiösen Minderheit­en wie den Jesiden.

Ganz normal. Es gibt Direktflüg­e von Wien nach Erbil, dem Verwaltung­szentrum.

Wollen Sie das im Parlament vorbringen?

Das haben wir jetzt gemacht. Wir haben auch einen Brief an die EU-Außenbeauf­tragte Federica Mogherini gerichtet mit der Forderung, dass es hier Unterstütz­ung geben muss. Die Menschen haben Unglaublic­hes durchgemac­ht und erleiden es immer noch.

Dennoch, es ist überhaupt nicht so, dass die alle nach Europa wollen. Sie wollen dort leben. Aber dafür muss man mit europäisch­er Hilfe Voraussetz­ungen schaffen.

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Foto: AFP/safir Hamed Wie man von der Verteidigu­ngsministe­rin erfuhr, ging es bei ihren Gesprächen im wesentlich­en um Waffenlief­erungen. Diese Woche wurde mitgeteilt, dass Deutschlan­d zum Beispiel nach Irakisch-Kurdistan für 70 Millionen Euro Waffen exportiert hat. Die...
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hat vor wenigen Tagen die kurdischen Autonomieg­ebiete in Irak besucht. Mit dem Mitglied im Ausschuss für bürgerlich­e Freiheiten, Justiz und Inneres, sprach
über ihre Reise.
Foto: EP/Fred Marvaux Die LINKE-Europaabge­ordnete Cor hat vor wenigen Tagen die kurdischen Autonomieg­ebiete in Irak besucht. Mit dem Mitglied im Ausschuss für bürgerlich­e Freiheiten, Justiz und Inneres, sprach über ihre Reise.

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